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Mythos oder Wahrheit? Gibt es Wolfskinder? Was passiert mit Kindern, die unter Hunden isoliert aufwachsen? Ein spannender Artikel!
Fakten kompakt
• Wolfskinder laufen auf allen Vieren, kratzen und beißen.
• Laut Wolfsexperten würde eine Wölfin ein Kind nur unter sehr speziellen Voraussetzungen adoptieren.
• Gewisse Hirnfunktionen müssen bei Kindern nach der Geburt in einem bestimmten Zeitrahmen durch Umwelterfahrungen erst einmal ausgebildet werden. Sonst verkümmern sie irreparabel.
Als sich die Polizei im März 1988 Zutritt zu einer Mietwohnung in der rheinischen Stadt Mettmann verschafft, bietet sich ihnen ein schreckliches Bild: Auf dem Boden neben
einer Schäferhündin spielt ein vollkommen verwahrlostes Kind, der vierjährige Horst-Werner. Prompt machen Schlagzeilen vom „Wolfsjungen“ die Runde. Das Kind sei von der Hündin großgezogen worden, so heißt es. Was hat es auf sich mit den sogenannten Wolfskindern?
Es war 1988 im Rheinland. Zwar hatte der vierjährige Horst-Werner einen Großteil seiner Zeit alleine mit der Hündin verbracht, aufgezogen wurde er jedoch von seinen Eltern – wenn auch nicht sonderlich gut. Eine solch frühkindliche Vernachlässigung hinterlässt Spuren: Horst-Werner war körperlich und seelisch zurückgeblieben, gerne krabbelte er auf allen Vieren, jaulte und knurrte. Auch sprechen konnte er nicht sonderlich viele Wörter.
Mädchen von Wölfen adoptiert
Welch große Publikumsmagnete sogenannte „Wolfskinder“ sind, zeigte dann auch der Fall Misha: Noch nicht einmal sieben Jahr alt zieht die kleine Misha mit einer weißen Muschel, in die ein winziger „Kompass“ hineingepresst ist, los, um ihre Eltern zu suchen. Man schreibt das Jahr 1940, als sie von Belgien aus quer durch Deutschland gen Osten zieht. Dem Verhungern nahe wird das kleine Mädchen in den Wäldern Polens von einem Rudel Wölfe adoptiert. Die Tiere wärmen und beschützen Misha nicht nur, sie teilen auch ihre Nahrung mit dem Mädchen. So zumindest erzählt es Misha.
Wissenschaftler sind skeptisch. Auch der österreichische Verhaltensforscher Kurt Kotrschal von der Universität Wien hält es nur unter ganz speziellen Umständen für möglich, dass ein Kind von einer Wolfsmutter „adoptiert“ werden könnte. „Das könnte nur funktionieren, wenn die Wölfin in der richtigen Stimmungs- und Hormonlage ist, also zum Beispiel gerade die eigenen Welpen verloren hat“, vermutet Kotrschal. Der Hunde- und Wolfexperte ist Mitbegründer des Wolf Science Centers, wo er mit anderen Forschern Hunde- und Wolfsrudel beobachtet und deren Verhalten untersucht. Im Falle von Misha sieht er keine Chance: „Dies würde allerdings nicht für lange Zeit funktionieren und vor allem müsste das Kind noch ein Baby sein.“ Trotzdem: Die angeblich wahre Geschichte von Misha wird zum Bestseller und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. „Überleben unter Wölfen“ macht die gebürtige Belgierin Misha Defonseca Ende der Neunziger zur Millionärin. Kurz nach der Milleniumwende entsteht zudem eine Filmversion Defonsecas hoch aufregender Wanderjahre. Die Skeptiker sollten Recht behalten. Nachdem Zweifel am Wahrheitsgehalt Defonsecas Geschichte zunahmen, gestand die Belgierin 2008, das Ganze nur erfunden zu haben.
Der Wolf als „Ziehmutter“
Die Idee, von Wölfen aufgenommen und beschützt zu werden, hat nicht nur Defonseca in ihren Bann gezogen. Mit am ältesten ist sicherlich die Sage von den ausgesetzten Zwillingen Romulus und Remus, die im Jahre 753 vor Christus die Stadt Rom gründeten. Der römischen Mythologie nach setzt Amulius, König von Alba Longa, die Säuglinge in einem Weidenkorb auf dem Fluss Tiber aus. Kurz darauf findet eine Wölfin „Mamma lupa“ die beiden, säugt und pflegt sie, bis kurz darauf ein Hirte die Kinder bei sich aufnimmt. Die Abbildungen zweier an den Zitzen einer Wölfin nuckelnden Jungen kennt heute jedes Kind.
Schon diese Geschichte aus vorrömischer Zeit wirft Zweifel auf. Unklarheit herrscht vor allem bei der Bedeutung des Wortes „lupa“. Nicht nur Wölfinnen, sondern auch Priesterinnen der Liebesgöttin Lupa sowie Prostituierte wurden damals als „lupae“ bezeichnet. Möglicherweise wurden die Zwillinge also gar nicht von einer Wölfin, sondern von einer Prostituierten gefunden oder die Geschichte wurde erst später dazu gedichtet, um ihre göttliche Herkunft zu unterstreichen? Die Aussetzung von Säuglingen und das Leben unter Wölfen war daher auch in anderen Kulturkreisen ein gängiges mythologisches Motiv. Eine der ältesten türkischen Legenden, der sogenannte „Bozkurt Destanı“, erzählt von der Auslöschung des kompletten Volks durch Feinde. Nur zwei kleine Kinder überleben laut der Sage. Von einer Wölfin gefunden und großgezogen, legen die Jungen später den Grundstock des türkischen Volkes. Auch die Abstammung des mongolischen Klans Dschingis Khans geht, glaubt man einer ähnlichen Legende, auf einen Wolf zurück. Ebenso soll der persische Prophet Zarathustra um rund 1000 bis 1500 vor Christus von einer Wölfin aufgenommen worden sein.
Der Traum vom guten Wilden
Jahrhunderte nachdem angeblich außergewöhnliche Menschen aus dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft hervorgebracht worden sein sollen, ist der Bann vom edlen Wilden ungebrochen. Das Interesse am „Naturmenschen“ ist immens: Wie ist der Mensch im „Naturzustand“? Ist er von Natur aus gut? Oder wird er erst durch Erziehung und Zivilisation zum „Menschen“? Der Begriff „Wolfskind“ wird zum Synonym für fernab aller Zivilisation in der wilden Natur aufgewachsene Kinder. Rousseaus romantisches Bild vom „Edlen Wilden“ schlägt Mitte des 18. Jahrhunderts hohe Wellen: Genügsam soll der friedfertige Wilde sein, einsam in den Tiefen der Wälder leben, noch unkorrumpiert durch Besitz und Zivilisation. Von Gott gegeben ist die Entwicklung seiner intellektuellen Fähigkeiten sowie seine Natur. Oder vielleicht doch nicht? Man war sich nicht sicher: Machen nun Umwelt oder das Erbgut den Menschen zum „Menschen“? Die Antwort war umso wichtiger, galt es doch die Unterschiede zwischen „zivilisierten“ Weißen und „wilden“ Ureinwohnern anderer Kontinente zu erklären.
Als Beweis der Existenz der „Edlen Wilden“ kam Peter richtig. Im Sommer 1724 hatte man bei Hameln einen nackten, stummen Jungen von etwa zwölf Jahren aufgegriffen. Angeblich gewöhnte sich der Junge nur langsam an Kleidung und Essen. Für lange Zeit standen nur Rinde und Kräuter auf seinem Speiseplan. König George I. von England und Hannover holte den Jungen 1726 nach England. Dort kümmerte sich zuerst Aufklärer Dr. John Arbuthnot um den Jungen. Doch kurze Zeit später brachte er das Kind zu einem Pächter in Herfordshire, wo Peter den Rest seines Lebens verbrachte. Dort lebte er bis zu seinem Tod im Jahre 1785 sprachlos und friedfertig.
Allerdings gab es auch damals heftige Zweifler. Der deutsche Mediziner J.F. Blumenbach hielt die Theorie des „Edlen Wilden“ für Humbug und hatte eine komplett andere Erklärung: Für ihn war Peter nichts weiter als ein schwachsinniger und stummer Junge, der kurz vor seinem Auffinden von seiner Stiefmutter aus dem Haus geprügelt worden war. Zu Zeiten der Genetik fand man eine weitere passende Diagnose für Peter. Das seltene Pitt-Hopkins-Syndrom erklärt viel von dem, was über Peter bekannt ist.
Es sind wohl Fälle wie dieser oder auch der von Marie-Angélique Memmie LeBlanc, die den schwedischen Wissenschaftler Carl von Linné 1754 dazu bewegen, die „Wolfskinder“ als Unterart des Menschen zu betrachten. Von dem Mädchen wurde gar behauptet, sie hätte ein Jahrzehnt in den französischen Wäldern gelebt, bevor man sie 1731 in der Umgebung des nordfranzösischen Dorfs Songy entdeckte. Unter der Bezeichnung „Homo ferus“ (wilder Mensch) gibt Linné Kindern wie Marie und Peter einen eigenen Platz in seinem biologischen System „Systema naturae“.
Wenige Jahre später gibt es ein weiteres „Wolfskind“: Der Fall Viktor von Aveyron entfacht wilde Diskussionen in der damaligen Fachwelt. Der elfjährige Junge taucht um 1800 nackt in einem Wald in Frankreich auf, angeblich lebt er dort unter Wölfen. Diese Vermutung beruht allein auf seinem Verhalten: Der Junge kann nicht sprechen und ist ausschließlich nachts aktiv. Arzt und Taubstummenlehrer Jean-Marie Itard sieht seine Chance: Er erklärt Victor zum
Studienobjekt. Doch es misslingt ihm, Victor zu „zivilisieren“. Die Fachwelt ist sich einig, Victor sei „schwachsinnig“. 1828 stirbt Victor, noch immer stumm und ungestüm, in einer Anstalt. Auch knapp 150 Jahre später hat Victor nichts von seiner Faszination verloren. 1970 macht ihn François Truffaut zum Mittelpunkt seines Filmes „L’enfant sauvage“.
Zahlreiche Kassenschlager gesellen sich als reine Fiktion zu der umfangreichen Literatur über Wolfskinder. Allen voran Mogli (1894) von Rudyard Kipling und Edgar Rice Burroughs‘ Tarzan (1912). Die Abenteuer des mutigen, kleinen Jungen aus Kiplings „Dschungelbuch“ sind heute noch die bekannteren. Doch weder Tarzan noch Mogli brauchen zum Menschsein Zivilisation oder Ihresgleichen – zudem besitzen sie beneidenswerte Geschicklichkeiten.
Die Wolfskinder Kamala und Amala
Die Geschichten um Wolfskinder werden zusehends mehr. Allein seit dem Fall Victor kamen mehrere Dutzend Fälle über angebliche Wolfskinder hinzu. An die hundert solcher zweifelhafter Fälle findet man zum Beispiel auf der Website www.feralchildren.com des britischen Journalisten Andrew Ward. Die Authentizität der meisten Berichte hält allerdings genauerer Betrachtung nicht stand. Meist stammen die Überlieferungen nicht aus erster Hand. Zudem wurden die Fälle in früheren Jahrhunderten wohl gerne extrem ausgeschmückt. Nicht zuletzt versuchte man damals andersartiges Verhalten irgendwie zu erklären und setzte behinderte Kinder einfach aus.
So könnte es auch Kamala und Amala ergangen sein. Die angeblichen Wolfskinder aus Indien sind die wohl weltweit bekanntesten „belegten“ Beispiele. In seinem Tagebuch beschreibt der katholische Geistliche J.A.L. Singh, wie er 1920 während einer Missionsreise die Kinder findet. „Dicht hinter den jungen Wölfen kam der Geist, ein schrecklich aussehendes Wesen: Es hatte Hand, Fuß und Körper wie ein Mensch; aber der Kopf war ein großer Ball von irgendetwas, was die Schultern und einen Teil des Oberkörpers bedeckte und nur die scharfen Umrisse eines Gesichts freiließ, und dieses Gesicht war das eines Menschen. Auf den Fersen folgte ihm ein anderes grässliches Geschöpf, das genau wie das erste aussah, nur etwas kleiner war …“ soll er in seinen Aufzeichnungen die beiden Mädchen beschrieben haben.
Laut Singh zeigten die etwa achtzehn Monate und acht Jahre alten Mädchen wolfskindtypische Verhaltensweisen: Sie waren unempfindlich gegen Kälte und Hitze, verweigerten Kleidung und aßen lange Zeit nur rohes Fleisch und Aas. Die Mädchen kratzten, bissen und liefen äußerst geübt auf allen Vieren. Beide waren angeblich am liebsten in der Nacht unterwegs. Die jüngere der beiden, Amala, starb nach einem Jahr in einem Heim, Kamala nach weiteren acht Jahren im Alter von 16 an Nierenversagen. Kamala und Amala hat es wirklich gegeben. Augenzeugen und Fotos aus dem Waisenhaus Midnapor beweisen das. Trotzdem bleibt fraglich, ob Singh nicht einfach der Aufmerksamkeit wegen zwei geistig behinderte Kinder auswählte und das Szenario dazu erfand. Außer ihm konnte nie jemand bezeugen, dass er die Kinder einem Wolfsrudel entrissen hatte. Große Zweifel an der Geschichte hatte zum Beispiel der französische Chirurg Serge Aroles, der den Missionar des Betrugs beschuldigte: Dieser habe sein Tagebuch erst ganze sechs Jahre nach dem Tod des zweiten Mädchens verfasst und die Fotografien dazu 1937 aufgenommen.
Die „Moglis“ des heutigen Europas
In den 70er-Jahren ist klar: Wolfskinder knurren und krabbeln auf allen Vieren, essen nur rohes Fleisch und wilde Kräuter, weil sie eben fernab der Zivilisation und ohne Ihresgleichen unter Wölfen aufwuchsen. Ein Leben in der Wildnis bringt kein autonomes Wesen hervor, sondern einen in vieler Hinsicht unterentwickelten Menschen. Die Wissenschaft ist nun von soziologischen und behavioristischen Ansätzen geprägt. Liegt es an der vorherrschenden Denkweise, an den abnehmenden Wolfspopulationen oder dem wachsenden Wissen über Wölfe, die Geschichten um Kinder, die von Wölfen großgezogen werden, enden fast abrupt. An ihre Stelle tritt eine menschliche Tragödie:
Unter Hunden aufwachsende Kinder
Schwer berührt vom Schicksal der modernen „Wolfskinder“ ist die britische Fotografin Julia Fullerton-Batten. Die Mutter zweier Jungen entscheidet sich dazu, 15 solcher Fälle zu porträtieren. Hierbei geht es ihr nicht um die Nachstellung exakter Szenen, sondern darum, die möglichen Gefühle jedes einzelnen Kindes zu interpretieren. 2015 erscheint „Feral Children“, eine Sammlung bemerkenswerter Fotografien (zu sehen auf www.juliafullerton-batten.com). „Einige der Kinder wurden grausam von ihren Eltern zurückgelassen oder verstoßen, vielleicht aufgrund ihrer angeblichen geistigen oder körperlichen Handicaps“, beschreibt Fullerton-Batten ihre Beweggründe. „Manche hatten auch einfach nur beide Elternteile verloren oder sind Missbrauch entflohen.“
Bei ihren Recherchen wird die Fotografin von Mary-Ann Ochoto unterstützt. Ebenfalls von den dramatischen Hintergründen der Wolfskinder gefesselt, hat die Anthropologin bereits für die englische BBC eine Fernsehserie zum Thema produziert. Drei ehemalige Wolfskinder besuchte Ochoto damals persönlich. Darunter auch Oxana Malaya: Das achtjährige ukrainische Mädchen wird 1991 im Hundezwinger des elterlichen Gartens in Novaya Blagoveschenka gefunden, wo sie sechs Jahre mit den Hunden zusammenlebte. Auch Oxana verhält sich eher wie ein Hund als wie ein Mensch. Sie krabbelt auf allen Vieren, knurrt mit fletschenden Zähnen, bellt und lässt die Zunge heraushängen. Ganz offensichtlich kopiert sie das Verhalten ihrer vierbeinigen „Familie“. Ihre Fähigkeit zur verbalen Kommunikation wird den Stand einer Fünfjährigen nie überschreiten.
Ganz ähnlich verhält sich die fünfjährige Natasha Mikhailova aus Sibirien, nachdem sie viele Jahre mit Hunden verbrachte. Körperlich und geistig unterentwickelt, imitiert das Mädchen die Vierbeiner, mit denen es eingesperrt war. Laut der englischen Zeitung Daily Mail berichtet Nina Yemelchugova, Leiterin des Zentrums, in dem Natasha untergebracht wurde: „Als ich das Zimmer verließ, sprang sie die Tür an und bellte. Es war kein Jammern oder so, es war richtiges Bellen.“ Besteck fegt das Mädchen vom Tisch und leckt stattdessen das Essen mit ihrer Zunge aus dem Teller.
Ochoto entdeckte bei ihren Recherchen ein Schema: Immer handelt es sich um eine tragische Kombination aus Suchtverhalten, häuslicher Gewalt und Armut. „Dank der Hunde werden die Kinder wohl vor noch größeren Schäden bewahrt“, meint Kotrschal. Die Zwangsgemeinschaft Kind-Hund ist allerdings nicht ganz risikofrei. „Die Gefahr für ein sozial völlig integriertes Kind ist, dass es natürlich auch die oft nicht unerhebliche soziale Aggression der Hunde abbekommt.“ Weitaus schwerwiegender ist ein Manko, das viele der Kinder ein Leben lang begleiten wird: Das Fehlen der menschlichen Sprache. Auch Fullerton-Batten stach dieser Punkt bei ihren Recherchen ins Auge: „Wenn die Kinder bereits in sehr jungem Alter zu Wolfskindern wurden, dann lernten sie nie richtig sprechen. Viele gewöhnen sich noch nicht mal an ein normales Leben.“ So ist es auch weniger das Leben unter Hunden, das Kinder typische Verhaltensweisen annehmen lässt. Seit dem grausamen Fall von Genie weiß man, dass vor allem der Mangel an frühkindlicher menschlicher Gesellschaft teils irreparable Schäden hinterlässt.
1970 wird in Los Angeles das Mädchen „Genie“ befreit, nachdem es mit knapp 1,5 Jahren für die folgenden zwölf Jahre zwischen Toilettenstuhl und Gitterbett angekettet in einem verschlossenen Zimmer eingesperrt verbringt. Obwohl sie nicht in der wilden Natur aufwuchs, zeigt sie die typischen Verhaltensweisen von „Wolfskindern“: Genie kann nicht sprechen, kaum laufen oder sitzen, ist unempfindlich gegenüber Hitze und Kälte und reagiert nicht auf ihre Umwelt. Genie wird zum „wohl meistgetesteten Kind in der Geschichte“, wie der leitende Psychologe David Rigler das „Genie-Projekt“ beschreibt. Psychologen, Ärzte, Neurowissenschaftler und Linguisten forschen an Genie. Sie werden fündig. Sie können die damalige These, dass Kinder nur während einer gewissen Phase die zum Sprachverständnis nötigen Hirnstrukturen aufbauen können, bestätigen. Denn Genie hat dieses Alter knapp überschritten. Ein Gehirnscan zeigt, dass ihre linke Hirnhälfte, die für den Sprachgebrauch benutzt wird, extrem unterentwickelt ist. Wie sehr sich Genie auch anstrengt, ihre Bemühungen die Sprache zu erlernen bleiben erfolglos. Denn: Genie versucht Sprache in der rechten, bei ihr gut ausgebildeten Hirnhälfte zu verarbeiten. Sie hat einfach das falsche Werkzeug. Nach einer jahrelangen Odyssee durch Kliniken, Heime und Familien kommt Genie letztlich in ein Heim für behinderte Erwachsene, wo sie bis heute lebt. Auch ihre Geschichte schaffte es in zwei Bücher und einen Film.
Ivan und Andrej
Seinem Schicksal erfolgreich zu entkommen, entschließt sich hingegen der russische „Hundejunge“ Ivan. Mit vier Jahren läuft Ivan Mischukow von einem Zuhause weg, in dem es vor allem eins gibt: häusliche Gewalt. Überleben kann der Kleine wohl nur, indem er sich streunenden Hunden anschließt. „Die Beziehung zwischen ihm und den Tieren verlief perfekt. Besser als er es jemals aus menschlichen Beziehungen kannte“, beschreibt Michael Newton fasziniert Ivans Fall in seinem Buch „Savage Girls And Wild Boys: A History Of Feral Children“, das 2004 zum Thema Wolfskinder erschien. Ivan teilt sein erbetteltes und gestohlenes Essen mit den Hunden, die ihn im Gegenzug dafür in ihrer Gruppe dulden. Als er 1998 in Moskau inmitten von Hunden entdeckt wird, lebt er bereits zwei Jahre mit den Vierbeinern zusammen. Seine Sprachkenntnisse lernt Ivan schnell zu verbessern. Dank des Bettelns hat er zumindest rudimentäre verbale Kenntnisse.
Auch Andrej Tolstych ist als „Hundejunge“ bekannt. Russischen Medien zufolge wird der Siebenjährige am Rande des sibirischen Dorfes Bespalowskaja zusammen mit streunenden Hunden entdeckt. Eine Sozialarbeiterin ließ nach ihm suchen, als es Zeit zur Einschulung war. Zu dem Zeitpunkt hatte der Junge bereits angeblich seit fast sechs Jahren mit Hunden gelebt. Seine Mutter soll ihn zusammen mit dem Haushund zurückgelassen haben. Auch Andrej zeigt typische Verhaltensweisen: Der Junge beschnüffelt sein Essen, bevor er es verschlingt, kriecht auf allen Vieren, sein Tagesrhythmus ist Sonnenauf- und untergang angepasst. Schnell lernt er aufrecht zu gehen. Sprechen jedoch wird Andrej nie lernen, denn er ist taubstumm. Spätestens seit 1981 die Hirnphysiologen David Hubel und Torsten Wiesel den Nobelpreis erhielten, ist die Frage des „Naturmenschen“ zumindest in einem Punkt beantwortet: Gewisse Hirnfunktionen müssen nach der Geburt in einem bestimmten Zeitrahmen durch Umwelterfahrungen erst einmal ausgebildet werden. Sonst verkümmern sie irreparabel. Weiterhin beschäftigen wird die Wissenschaft allerdings die Frage, wie weit die Symbiose zwischen Hund und Mensch reichen kann. So kann selbst Kotrschal derzeit noch nicht sagen, warum Straßenhunde ein Kleinkind in ihre Sozialgemeinschaft aufnehmen und für wie lange dies überhaupt möglich ist.
Pdf zu diesem Artikel: wolfskinder