Wolfsforschung zur ­Entschlüsselung von Hundeverhalten

Von Günther Bloch

Der engste Verwandte des domestizierten Haushundes (Canis lupus familiaris) ist laut A. Shearin & E. Ostrander ohne jeden Zweifel der Grauwolf. Die beiden Genetiker verweisen in ihrer im März 2010 veröffentlichten DNA-Arbeit (Canine Morphology) auf eine genetische Übereinstimmung von 99,96%, bzw. eine Differenz von nur 0.04%. Grundsätzlich herrscht Einigkeit darüber, dass Wolf und Hund enger verwandt sind als es der Wolf mit anderen Wildkaniden wie Schakal oder Kojote ist. Ungeachtet dessen kommt heftiger Streit bei der Frage auf, ob ein Vergleich Wolf-Hund sinnvoll erscheint. Einige betrachten diesbezügliche Bemühungen als “nicht statthaft”, andere als Notwendigkeit.

Eigentlich sind sich alle einig: Jede Verallgemeinerung eines Verhaltens ist kontraproduktiv. Warum aber kommt es dann in Teilen der Hundeszene immer wieder zu einseitigen Pauschalisierungen? Ob “Alphakonzept” oder “Beschwichtigungsdebatte” – der Wolf muss leider für jede Verallgemeinerung herhalten. Wolf und Hund 1:1 gleichzusetzen ist jedoch schlichtweg abstrus. Gleiches gilt allerdings auch für die ständig praktizierte Verwechslung von Verhaltensvergleich und Gleichsetzung. Der Wolf in freier Wildbahn lebt weitestgehend unabhängig. Artgerecht für den Hund ist hingegen, eng mit dem Menschen zusammenzuleben.

Nichtsdestotrotz kann der Hund seine wölfischen Wurzeln kaum verleugnen. Hunde sind als territoriale, gruppen­orientierte Beutegreifer zu definieren. Erik Zimen sprach einst weise von den „zwei Seelen in der Brust des Hundes”. Die eine Seele ist dem Menschen zugewandt, die zweite reflektiert die wilde Seele eines leidenschaftlichen Jägers. Insofern gilt es beide Seiten der gleichen Medaille zu berücksichtigen, was einen Verhaltensvergleich von Wolf und Hund alternativlos erscheinen lässt. Substanziell geht es darum, verhaltenskundliche Erkenntnisse über kanidentypische Übereinstimmungen bzw. krasse Unterschiede zu sammeln: Hundetyp um Hundetyp, Funktionskreis um Funktionskreis.

Verständnis durch Aufzeigen von Verhaltenswurzeln
Zweifelsohne haben sich Hunde im Laufe der Haustierwerdung genetisch ausgeprägt verändert. Schon tönt es mancherorts etwas vorschnell: „Kenntnisse über Wolfsverhalten bringen nichts. Wer Hundeverhalten beurteilen will, sollte Hunde ­beobachten”. Gewiss, eine solche Hypothese ist schnell aufgestellt, durchdacht ist sie aber keineswegs. Vergessen werden nämlich zwei Tatsachen: Sowohl innerhalb des Haushundebestandes als auch unter Individuen der gleichen Hunderasse existiert eine enorme Verhaltensvielfalt. Demzufolge müssten alle diejenigen, die Wolf-Hund-Vergleiche ablehnen, konsequenterweise auch jeden Verhaltensvergleich interagierender und spielender Huskys, Rottweiler oder Dackel einstellen. Wer A sagt (Wolf und Hund sind zu verschieden, um sie zu vergleichen), müsste eigentlich auch B sagen ­(Hunderassen sind zu verschieden, um sie zu vergleichen).

Doch auf eine solche Idee kommt ­hoffentlich niemand. Nein, Über­prüfungen von grundsätzlichen Übereinstimmungen im Sozialverhalten von Wolf und Hund müssen gestattet sein. Um die Komplexität hundetypen-bestimmender Verhaltensbesonderheiten von Hunderassen fein säuberlich von allgemeingültigen Verhaltenseigenschaften der Gattung Hund zu trennen, brauchen wir einen Orientierungsleitfaden, einen Fixpunkt, an dem wir uns ausrichten können.

Unsere vergleichenden Beobachtungen und die daraus resultierenden Erkenntnisse basieren demzufolge auf dem “Original”, dem Wolf. Wer die Wurzeln kanidentypischen Verhaltens nicht lernen will, öffnet Spekulationen Tür und Tor. Im Hinblick auf die Einschätzung unserer eigenen menschlichen Basisverhaltensweisen sieht es ähnlich aus: Je naturentfremdeter der „moderne Mensch” wird, ­desto weniger relevant erscheinen ihm seine Verhaltenswurzeln. Im Zusammenhang Wolf-Mensch-Hund hört man bisweilen die Hypothese: „Wir vergleichen uns doch auch nicht mit Neandertalern”. Doch Ignoranz und Unwissenheit helfen beispielsweise in kanadischen „Survival-Camps” herzlich wenig. Hier lernen Manager aus Deutschland und Österreich, die gemeinhin als Inbegriff des modernen Menschen gelten, sich beim ersten Anblick von Bären oder Pumas sehr rasch ihrer Urinstinkte zu bedienen: Überlebensnotwendige Vorsicht walten zu lassen, Gefahren zu vermeiden, Schutz und Nahrung zu suchen. Innerhalb kürzester Zeit genießt die Erinnerung an Basisverhalten á la Neandertaler wieder absolute Priorität.

Gehegeforschung kontra ­Freilandstudien
Vor Kurzem noch war es selbstverständlich, sämtliche Studienergebnisse aus der Gehegewolf-Forschung als Gradmesser zur Erläuterung von Hundeverhalten zu akzeptieren. Die Mär vom Alphawolf nebst Rudelkonzept lässt grüßen. Neuerdings überraschen den gemeinen Hundehalter faszinierende Verhaltenseinsichten, die auf Erkentnissen aus der Freiland­forschung fußen. Unglaublich aber wahr: Im Handumdrehen wird alles, was aus der Gehegeforschung kommt, pauschal zur „altbackenen Ansicht” erklärt. Andererseits erhalten wir viele, inhaltlich recht ähnliche E-Mails: Sollen Hundehalter Wölfe in freier Wildbahn oder in Gefangenschaft lebende Tiere zum Maßstab nehmen? Gegenfrage: Zum Maßstab wofür? Den schon erwähnten Fehler einer Gleichsetzung von Wolf und Hund sollten wir tunlichst vermeiden. Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter. Beide Forschungsformen haben nach wie vor ihre Berechtigung.

Wer beispielsweise ernsthaftes Interesse daran hat zu lernen, wie dynamische Gruppenführung oder umsichtige Gefahrenerkennung und Abwehr praktisch umsetzbar sind, ist sicherlich mit einem Leitfaden aus der Freilandforschung bestens bedient. Wer detaillierte Infos zur Vergesellschaftung mehrerer Hunde und deren Dominanzbeziehungen braucht, sollte sich im Groben an „Gefangenschaftswölfen” orientieren. Den viel berühmten “Omegawolf”, im Volksmund auch als Prügelknabe bekannt, sucht man in freier Wildbahn vergebens. Ein po­tenzieller Omegawolf (meist eine Wölfin) wandert nämlich im Alter von ca. 11-15 Monaten ab. 

Wer wissen will, wie weit und wie lange Welpen bzw. jugendliche Hundeartige in der Norm „spazieren gehen”, wird die Antwort nur dort finden, wo Kaniden dies frei entscheiden können. Überschaubare Gehegeanlagen sind wiederum hervorragend geeignet, ein solch wunderbares, weil detail­genaues Buch zum “Ausdrucksver­halten beim Hund” zu schreiben, wie es Dorit Feddersen-Petersen in die Tat umgesetzt hat. Was für Kanideninteressierte dabei herauskommt, wenn sie sich über Freiland- und Gehegeforschungsergebnisse kundig machen? Eine einmalige Vielfalt an Wissen!

Was kann der Mensch von Hunde­artigen lernen?
Kurzgefasst: Besonnenes, verantwortungsvolles und authentisch-vorgetragenes Leittierverhalten. Wölfe lehren uns ein besseres Verständnis für soziale Kompetenz und das aktive Interesse am Gruppenzusammenhalt. Gegenseitige Hilfestellung entspricht der Norm. Um genau das, was für Wölfe erwiesen ist und in bestimmtem Kontext verallgemeinert werden darf, biologisch sinnvoll auf den Hund zu übertragen, bedarf es einer ­gewissen Selbstreflexion. Wir Menschen haben gemeinsame Vorfahren aus der Affenwelt. Leider verhalten wir uns im Umgang mit Hunden oftmals auch so. Kaniden „ticken” anders als Affen. Um zum Beispiel verständliche Regeln der zwischenartlichen Kommunikation sinnvoll gestalten zu können, gilt es, das Sozialsystem von Hundeartigen genauer zu betrachten. Menschen sollten lernen, sich in einem gewissen Rahmen zu verhundlichen. Und zwar freiwillig. Sozusagen als Geste des guten Willens. Bedauerlicherweise steht dieser Notwendigkeit der ein oder andere menschliche Egoismus im Wege. Natürlich kann man die Auffassung vertreten: „Weil ich ein Mensch bin, soll sich mein Vierbeiner ausnahmslos nach mir richten”. Hunde haben Besseres verdient.

Zwei Dekaden Freilandforschung: Was bringt‘s dem Hundehalter?
Da kontinuierliche Verhaltensbeobachtungen an wilden Wölfen in Europa vor zwanzig Jahren nicht möglich waren, nahmen meine Frau Karin und ich seinerzeit das Angebot des Biologen Dr. Paul Paquet dankend an, unter dessen fachlicher Leitung in Kanada durchzustarten. Seitdem leben wir unsere Passion: Timberwolfverhalten zu dokumentieren. Diese zeitintensive Arbeit erfordert viel Durchhaltevermögen. Tag für Tag Datenmaterial nach einer klar definierten Methodik zu sammeln, verlangt Disziplin. Doch unser Mühen wurde belohnt. Rückblickend können wir mit Fug und Recht behaupten, interessierten Menschen im Laufe der Zeit einige neue Verhaltenseinblicke präsentiert zu haben, die in der Hunde­szene mittlerweile zum Grundlagenwissen zählen sollten.  Nachfolgend ein Auszug aus unseren seit 1991 zusammen­getragenen Erkenntnissen mit direkter Relevanz für Hundehalter:

1. Wolfseltern packen und schütteln ihren Nachwuchs nicht im Nacken. Von einer solchen “artgerechten ­Disziplinierungsform” im Umgang mit Hundewelpen ist abzuraten. 

2. Wölfisches Fressverhalten basiert nicht auf einer strengen Hierarchie, sondern primär auf einem motivationsabhängigen System. Es ist eine Unsitte des Menschen, aus “Rangordnungsgründen” stets vor dem Hund essen zu wollen.

3. Den „Alphawolf” gibt es nicht. Männliche Leittiere unterstreichen ihren hohen Rangstatus auch nicht dadurch, indem sie permanent einen Familienverband anführen. Für ­Hundehalter gilt Gleiches.

4. Weibliche Leittiere treffen in Wolfsverbänden häufig alle wesentlichen Entscheidungen. Der Ratschlag, Frauen sollten sich aufgrund fehlender Kompetenz keine Rüden zulegen, ist unbegründet.

5. Fußend auf einer gemeinsamen So­zialisation bilden Wolf und Rabe soziale Mischgruppen, die auf ­Dauer angelegt sind. Demzufolge ist der zwischenartliche Zusammen­schluss von Mensch und Hund mitnichten einmalig.

Schlussbemerkungen
Ob und, wenn ja, welche Einsichten Sie selbst, lieber Leser von WUFF, aus der aktuellen Wolfsforschung ziehen möchten, bleibt Ihnen überlassen. Unser Anliegen war lediglich, Interesse für die Wurzeln des Verhaltens von Hunden zu wecken. Sollte uns dies zumindest grundsätzlich geglückt sein, würden wir uns darüber freuen. Aufschlussreich ist zumindest, dass diejenigen unserer Seminarteilnehmer, die ein grobskizziertes „wölfisches Regelwerk” beherzigen, offenkundig kaum Probleme mit ihren Hunden haben.

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