Themenschwerpunkt: Der Wolf
»Woher kommen’s denn?« wäre eine Frage, die ein wissbegieriges Kind stellen könnte und die ich kurz und in einfachen Worten im folgenden Artikel beantworten möchte. Wie in der Frage, steckt auch in der möglichen väterlichen Antwort eine gewisse Zweideutigkeit, die es räumlich und zeitlich aufzulösen gilt. Daher will ich zunächst die geografische und dann die naturgeschichtliche Herkunft der Wölfe abhandeln und dabei nicht auf die Beziehungen zu den Haushunden vergessen.
Verbreitung und Populationen der Wölfe
Bevor der lang andauernde Konflikt zwischen Wolf und Mensch begann, hatte der Wolf unter allen Säugetieren die größte natürliche Verbreitung. Einst lebte er in ganz Nordamerika, Eurasien und Europa. Das macht eine besiedelte Fläche von etwa 70 Millionen Quadratkilometern aus, das ist mehr als die Hälfte der gesamten Landoberfläche der Erde. Dieser äußerst anpassungsfähige Räuber kam in der baumlosen Tundra, im Nadel- und Mischwaldgürtel Mitteleuropas, in Steppen und Wüsten und sogar in tropischen Regenwäldern vor. Heute kommt der Wolf auch mit vom Menschen veränderten Lebensräumen zurecht. Die den Wölfen eigene außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit ermöglichte die Besiedelung derart verschiedener Landschaftsformen (Boitani 2000, Zimen 2003, Castelló 2018).
Als Rückzugsgebiete zum Verbreitungsminimum der 1950er Jahre blieben nur noch bewaldete Bergregionen der Pyrenäen, Apenninen, des Balkan, in den Karpaten und im Kaukasus bestehen. Um 1975 war die Situation der Restbestände in den meisten westeuropäischen Ländern als kritisch zu bezeichnen, die Gefahr des Aussterbens war akut (Trouwborst 2010, Michalek & Trummer 2012).
Aufgrund der geänderten Einstellung des Menschen gegenüber der Natur und auch dem Wolf kann seit 1975 ein Bestandszuwachs, vor allem in Spanien, Italien, Polen, Finnland, der Slowakei und in Russland festgestellt werden. Schutzmaßnahmen für den Wolf in den europäischen Ländern, aber auch der Schutz seines Lebensraumes, ermöglichten gegen Ende des letzten Jahrhunderts den Wölfen sich in Europa wieder auszubreiten, wobei illegale Abschüsse regional einen begrenzenden Faktor darstellen (Boitani 2000, Salvatori & Linnell 2005, Chapron et al. 2014).
Größte Populationen in Osteuropa
Die größten Populationen sind heute in den östlichen europäischen Ländern anzutreffen, vor allem in Rumänien, Polen, Weißrussland, in der Ukraine, im europäischen Russland und auf dem Balkan. In West- und Südeuropa ist die Verbreitung des Wolfes weitgehend an die Bergflächen mit niedriger Bevölkerungsdichte und wenig landwirtschaftlicher Nutzung gekoppelt, wobei die einzelnen Populationen klein und isoliert sind (Boitani, 2000). In Südeuropa leben heute Restpopulationen auf der iberischen Halbinsel (Pyrenäen) und in Italien (Apenninen), mit einem Trend zur Aufsplitterung und damit auch zur Isolierung einzelner Bestände. Eine ähnliche Entwicklung ist im ehemaligen Jugoslawien und Bulgarien zu beobachten, sodass ein Erhalt dieser Vorkommen nicht gesichert und oft abhängig von Populationsentwicklungen aus anderen Ländern ist.
Der Wolf erreicht auch Österreich und Deutschland in zunehmendem Maße und beschäftigt daher seit geraumer Zeit den Naturschutz (Zedrosser 1996, Dungler 2007). Wie in anderen Ländern gehen (besonders 2018) hierzulande die Wogen hoch und Aufklärungskampagnen versuchen sie zu glätten (Kutal & Bláha 2008). Europäische Forscher versuchen die wissenschaftlichen Grundlagen zu erarbeiten, die allen Konfliktparteien, also Naturschützern, Landwirten, Jägern und verängstigten Bürgern eine im aufgeheizten Klima immer schwieriger werdende rationale Diskussion des Problems ermöglichen sollten (Chapron et al. 2003, Bisi 2007, Gazzola et al. 2008, Marucco et al. 2009, Echegaray 2010).
Die in Österreich auftretenden Wölfe rekrutieren sich aus den umliegenden Populationen Polens, Kroatiens und Italiens (Hulva et al. 2018). Sie kommen also zum Teil von weit her und wandern auch innerhalb des Landes größere Strecken. Das weiß man, weil es einige genetische Kennzeichen gibt, anhand derer man die verschiedenen europäischen Populationen charakterisieren kann. Genetische Methoden erlauben den Fachleuten darüber hinaus einzelne Individuen zu erkennen und deren Aufenthaltsorte zu verknüpfen, denn die Wölfe hinterlassen ihre DNS an der Beute und in ihrem Kot. Wegen der zerstreuten und vielfach isolierten europäischen Wolfspopulationen, die durch die Weitstreckenwanderungen einzelner Individuen locker verbunden bleiben, ist deren Genetik komplex (Hindrikson et al. 2017, Hulva et al. 2018). Österreich erweist sich dabei zunehmend als genetischer Schmelztiegel (Hulva 2018).
Wolf und Haushund
Beim Thema Genetik stellt sich für manchen sofort die Frage nach der Vermischung mit Haushunden. Die gibt es immer wieder und in allen Populationen, auch jenen in Nordamerika und in unterschiedlichem Ausmaß (Iacolina et al. 2010, Pilot et al. 2018). Die Mischlinge treten in freier Natur als Konkurrenten auf und erzeugen bei den Naturschützern einiges Kopfzerbrechen, besonders dann, wenn es sich um kleine isolierte Wolfsgemeinschaften wie etwa die in Portugal handelt (Randi et al. 2000, Vilà 2000, Randi 2011, Lescureux & Linnell, 2014, Bassi et al. 2017, Torres et al. 2017).
Die Beziehungen zu den Haushunden und deren Besitzern haben noch weitere Aspekte. Da gibt es in manchen Gegenden Russlands Wölfe, die sich auf Haushunde als Beute spezialisieren, und wildernde Haushunde richten in Schafherden gelegentlich mehr Schaden an als ihre Verwandten, denen das gerne in die Schuhe geschoben wird, wenn Fachleute nicht mithilfe genetischer Daten die wahren Schuldigen identifizieren. Genetik und Raum sind wie angedeutet eng verbunden, und damit wären wir beim eng damit verbundenen Thema der stammesgeschichtlichen Herkunft und Beziehungen von Wolf und Hund.
Zur Stammesgeschichte von Wolf und Hund
Aus welchen Tiefen der Zeit die Wölfe und ihre Abkömmlinge, die Haushunde, kommen, interessiert WissenschaftlerInnen, die Fossilien ausgraben, ebenso wie solche, die nach urgeschichtlichen Überbleibseln suchen und jene, die mit modernsten molekularen Methoden Einblicke in das Erbgut von Lebewesen erhaschen wollen. Mit vereinten Kräften haben die Wissenschaften Erstaunliches ausgegraben und erschlossen.
Wie in vielen Bereichen der beschreibenden Biologie, besonders den Disziplinen, die seit Jahrhunderten die Lebewesen der Welt ordnen und klassifizieren, haben genetische Untersuchungen die bisherigen Auffassungen gehörig durcheinander gewirbelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts stellte der schweizerische Kynologe Theophil Studer (1901) die Hypothese auf, der Haushund (Canis familiaris) stamme sowohl vom Goldschakal (Canis aureus) als auch dem Wolf (Canis lupus) der Alten Welt ab. Konrad Lorenz setzte 1950 noch eins drauf und ließ sich über die unterschiedlichen Verhaltensneigungen von aureus- und lupus-Hunden aus. Mittlerweile sind sich die Wissenschaftler einig, dass der Hund nur von Wölfen der alten Welt abstammt. Weniger einig sind sie sich darüber, von welcher der vielen Populationen von China bis Skandinavien und dem Mittleren Osten sich die Haushunde ableiten lassen. Das möchte ich nun aber beiseitelassen und einen etwas weiteren Blickwinkel einnehmen.
Wie angedeutet, gab es da in der Wissenschaft kleinere Revolutionen und die haben ihren Grund darin, dass die Zoologen ihre Klassifikation auf Fellfärbung und Skelettmerkmalen aufgebaut hatten. Wölfe sind aber sehr anpassungsfähig und daher nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihren körperlichen Merkmalen sehr variabel, was nicht zuletzt den Hundezüchtern und der erstaunlichen Vielfalt der Hunderassen zugutekam. Ein Beispiel sind die Hundeartigen des östlichen Nordamerikas, die jetzt eher zu den Coyoten als zu Wölfen gestellt werden. Irgendwann haben sich dort beide Hundeartigen vermischt, wobei noch debattiert wird, ob es sich um ein rezentes oder weit zurück liegendes Ereignis gehandelt hat (Wilson 2000, Kyle et al. 2006, Randi 2010, Wheeldon & White 2009, Wheeldon et al. 2010, vonHoldt et al. 2016, Hohenlohe 2017).
Variabilität der Erscheinungsformen
Wölfe und Coyoten vermischen sich auch im Westen Nordamerikas, ohne dass sich eine abgrenzbare Form wie im Osten herausgebildet hat (Mech et al. 2014). Noch spektakulärer ist die Geschichte vom afrikanischen Wolf (Canis lupaster). Der wurde von Genetikern in Ägypten und Ostafrika entdeckt und in der Zwischenzeit in weiten Teilen Afrikas gefunden. Wie kann das sein, dass die Wissenschaft ein so großes Tier jahrhundertelang nicht bemerkt hat? Die Antwort steckt im bereits Angedeuteten, nämlich in der Variabilität der Erscheinungsformen. Die Wölfe wurden schlichtweg für Goldschakale gehalten und jetzt müssen wir erstmal Ordnung in die bisherigen Daten, einschließlich jenen zur Verbreitung der beiden Formen, bringen, um ein kohärentes Bild der Zusammenhänge zu gewinnen. Und die verworfene Geschichte vom aureus-Hund bekommt auf einmal eine vielleicht neue Wendung.
Ich habe aus öffentlich zugänglichen Daten zum mütterlichen Genom in den Mitochondrien und einem im Zellkern verankerten Gen einen Stammbaum konstruiert, der die wichtigsten Formen der Wolfsverwandtschaft zeigt und als erste Orientierung dienen mag. Unter anderem fällt auf, dass die italienischen Wölfe ziemlich abgegrenzt sind. Das rührt wahrscheinlich daher, dass die oft sehr isolierten Wölfe des Apennins in der Vergangenheit manchmal nur wenige Individuen umfassten (Montana et al. 2017). Er und die anderen Wölfe in seiner stammesgeschichtlichen Nachbarschaft gelten als Unterarten, während man die indischen, afrikanischen, äthiopischen und meist auch die nordostamerikanischen Wölfe als eigene Arten behandelt.
Ich finde die Naturgeschichte des Wolfes sehr spannend und aufregend. Sie wird in der nächsten Zeit noch die eine oder andere erzählerische Wendung nehmen und vielleicht wird sie in unseren Kinderstuben weiter erzählt und nicht nur die einschlägigen rotbemützten Schablonen.
Die im Artikel zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge:
- Bassi E et al. Trophic overlap between wolves and free-ranging wolf × dog hybrids in the Apennine Mountains, Italy. Global Ecol Conserv 2017;9:39-49
- Bisi J, Kurki S, Svensberg M & Liukkonen T Human dimensions of wolf (Canis lupus) conflicts in Finlandd. Eur J Wildl Res 2007;53:304-314
- Boitani L Action Plan for the conservation of the wolves (Canis lupus) in Europe. Nature and environment, No. 113. Council of Europe Publishing, 2000.
- Castelló JR Canids of the World. Wolves, Wild Dogs, Foxes, Jackals, Coyotes, and Their Relatives. Princeton University Press, Princeton, NJ. 2018.
- Chapron G et al. Conservation and control strategies for the wolf (Canis lupus) in western Europe based on demographic models. C R Biologies 2003;326:575-587
- Chapron G et al. Recovery of large carnivores in Europe’s modern human-dominated landscapes. Science 2014;346:1517-1519
- Dungler H Will wolves return to Austria? Int Wolf 2007;17(1):16
- Echegaray J & Vilà C Noninvasive monitoring of wolves at the edge of their distribution and the cost of their conservation. Anim Conserv 2010;13:157-161
- Gazzola A et al. Livestock damage and wolf presence. J Zool 2008;274:261-269
- Hindrikson M et al. Wolf population genetics in Europe: A systematic review, meta-analysis and suggestions for conservation and management. Biol Rev 2017;92:1601-1629
- Hohenlohe PA et al. Comment on “Whole genome sequence analysis shows two endemic species of North American wolf are admixtures of the coyote and gray wolf”. Sci Adv 2017;3:e1602250
- Hulva P et al. Wolves at the crossroad: Fission–fusion range biogeography in the Western Carpathians and Central Europe. Div Dist 2018;24:179-192
- Iacolina L et al. Y-chromosome microsatellite variation in Italian wolves: A contribution to the study of wolf-dog hybridization patterns. Mammal Biol 2010;75:341-347
- Kutal M, Bláha J A public awareness campaign as part of a management plan for large carnivores in the Czech Republic, current conservation activities and problems. pp.10-14. In: Kutal M, Rigg R (Hsg.): Perspectives of wolves in Central Europe: Proceedings from the conference held on 9th April 2008 in Malenovice, Beskydy Mts., CZ. Hnuti DUHA Olomouc, Olomouc. 2008.
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- Lescureux N, Linnell JDC Warring brothers: The complex interactions between wolves (Canis lupus) and dogs (Canis familiaris) in a conservation context. Biol Conserv 2014;171:232-245
- Lorenz K So kam der Mensch auf den Hund. Verlag Dr. G. Borotha-Schoeler, Wien. 1950.
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- Bubna-Littitz H (Hsg.): Wölfe. Studie im Auftrag der Stadt Wien. Bohrmann Verlag, Wien. 2012.
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- Zimen E Der Wolf – Ökologie und Verhalten. Franck-Kosmos, Stuttgart, 2003.
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