Wie viel Wolf ist im Hund?

Von Dr. Hellmuth Wachtel

Der Hund stammt vom Wolf ab, darüber gibt es heute fast allgemeine Übereinstimmung. Dieses Ergebnis ethologischer und anatomischer Untersuchungen wurde in den letzten Jahren durch die aufstrebende Molekularbiologie bestätigt. Wie lange es her ist, dass der Wolf gezähmt wurde, darüber sind sich die Wissenschafter aber noch nicht so einig. 12.000 Jahre meinen die Archäologen, und bis zu 130.000 Jahre glauben die Molekularbiologen.

Wo liegt der Unterschied?
Wie aber unterscheidet sich der Haushund heute im Verhalten von seinem Stammvater? Muss man bei der Erziehung und Ausbildung des Hundes immer von der Wolfsabstammung ausgehen? Um diese Frage gibt es viele Diskussionen. Während die einen der Ansicht sind, man müsse sich dabei nach den ethologischen Erkenntnissen richten, sagen andere, der Hund habe sich im Zusammenleben mit dem Menschen so verändert, dass man auf ganz anderen Voraussetzungen aufbauen muss. Wo also liegt der Unterschied?

Zunächst: Der Hund ist ein Haustier, noch dazu das älteste. Haustiere entwickeln sich grundsätzlich nach bestimmten Regeln. Ihre natürliche Scheu und Fluchtveranlagung nimmt ab, sie vertragen wesentlich mehr Stress und Zwang, ihre Sinnesleistungen nehmen ab, ihr Gehirn wird kleiner. Der Freiheitsdrang ist vermindert, sie lassen sich leichter auf kleinem Raum halten. Speziell beim Hund findet man eine Beibehaltung von Verhaltensformen der Wolfswelpen. Alles das erleichtert das Zusammenleben mit dem Menschen ganz ungemein, ja, es ist dafür die Voraussetzung.

Ethologische Untersuchungen von zunächst Erik Zimen und dann auch anderen Verhaltensforschern haben gezeigt, dass der Hund etwa achtzig Prozent des Wolfsverhaltens beibehalten haben dürfte, wenn auch oft verändert oder in abgeschwächter Form. Die geringere „Deutlichkeit“ der Körpersprache des Hundes ist charakteristisch. Diese Ergebnisse wurden im Vergleich mit Großpudeln erzielt, es gibt natürlich rassische Unterschiede.

Rangordnung bei Hunden stabiler
Ganz wesentlich ist dabei eine Beobachtung Zimens: Bei Wölfen war die Rangordnung nicht sehr stabil, d.h. die Wölfe hatten einen ausgeprägten „Drang nach oben“ und trachteten früher oder später, die Rudelführerschaft in Frage zu stellen, um selbst zum Leitwolf zu werden. Dagegen war die Hierarchie bei den Pudeln viel dauerhafter: Die Hunde behielten ihre einmal ausgefochtene Rangstellung meist auch später bei. Hierin besteht nun das Prinzip der Mensch-Hund-Beziehung: Die weitaus meisten Hunde werden nicht versuchen, uns von Heute auf Morgen in einen Kampf um die Vorherrschaft zu verwickeln. Freilich, es gibt Ausnahmen von dieser Regel, und bei manchen Hunden muss man tatsächlich um die Aufrechterhaltung des Vorranges permanent bedacht sein. Doch grundsätzlich lassen sich die meisten Hunde ja sogar misshandeln, ohne sich zu wehren, während auch der letzte Wolf und Prügelknabe im Rudel sich durch Beißen wehrt – wehren muss, wenn er in einen Ernstkampf verwickelt wird. Beim Hund gilt das als „Angstbeißen“, obwohl es meist ja nur die natürliche Selbstverteidigung darstellt. Allerdings gibt es tatsächlich auch neurotische Angstbeißer. Normalerweise aber hat der Hund eine sehr ausgeprägte Beißhemmung gegenüber Menschen, zumindest gegenüber seiner Bezugsperson. Jedoch: Der durchschnittliche Hund ist, jedenfalls gegenüber seiner Bezugsperson, ein „sicherer“, verlässlicher Hund.

Rudel ist demokratische Organisation
Ein Wolf ist zwar ein Rudeltier, aber ein Rudel ist eine demokratische Organisation. Zwar herrscht eine (mehr oder weniger) strenge Rangordnung, in der man manches unterlassen muss, aber man wird zu keiner Tätigkeit gezwungen, es verläuft alles freiwillig und selbständig. Der Hund hat erst beim Menschen lernen müssen, bestimmte Arbeiten und Tätigkeiten auf Anordnung und verlässlich durchzuführen. Zumindest „Sitz, Platz, hier“ muss fast jeder Hund können, es sei denn, er ist z.B. ein Dorfhund aus der Dritten Welt. Ist er jedoch ein Schäfer- oder Flintenjagdhund, muss er genaue Anweisungen befolgen, eine völlig unwölfische Aufgabe. Mit der Einführung von Agility, Obedience, Begleit- und Schutzhund sind auch viele andere Hunde mit dieser Aufgabe konfrontiert. Kein Wunder, dass solche Disziplinen oft von Schäfer- und Flintenhundrassen geradezu dominiert werden, man denke insbesonderean Deutsche Schäferhunde, Border Collies, Shelties und die Retriever.

Motivation in der Hundeausbildung
Solche Rassen sind also in dieser Beziehung mental vom Wolf diametral entfernt, auch wenn sie, wie der Deutsche Schäferhund, diesem noch ähnlich sehen. Einen Wolf kann man allenfalls nur durch Motivation dazu bringen, etwas für uns zu tun. Diese ist zwar auch bei der Hundeausbildung enorm wichtig, aber manchen Rassen ist diese Motivation zu ihrer rassentypischen Aufgabe schon weitgehend angeboren. Je ursprünglicher die Hunderasse, desto mehr Motivation ist notwendig, wenn wir einen solchen Hund ausbilden wollen, und es wird nicht jedem gelingen, denn man kann auch sagen, je ursprünglicher die Rasse eines Hundes, desto begabter muss ein Ausbildner sein.

Die Selektion macht den Unterschied
Wölfe sind unkonzentriert, denn sie halten ihre Umwelt (in der Natur aus gutem Grund) unter ständiger Beobachtung, und wirken daher nervös. Unsere Hunde sollen sich dagegen gefälligst auf uns konzentrieren und auf das, was wir von ihnen wollen. Das haben wir in Jahrhunderte langer Selektion fertig gebracht, aber beileibe nicht bei allen Rassen in gleichem Ausmaß. Deshalb ist es nur bedingt empfehlenswert, etwa einen Hirtenhund, wie z.B. einen Kuvacs unbedingt in Obedience ausbilden zu wollen, obwohl das durchaus auch gelingen kann. Es ist einfach nicht rassegemäß und daher fast eine Zumutung, denn Hirtenhunde sind für selbständige Tätigkeit gezüchtet. Umgekehrt wollen manche Gebrauchsrassen einfach mit uns ihre rassegemäße Arbeit ausführen, oft noch mehr als uns lieb ist, denn manche Linien sind geradezu arbeitssüchtig (workaholic), bis hin zum Pathologischen. Sie können je nach Rasse bis zum Umfallen Schafe hüten oder immer dasselbe Apportel bringen, obwohl dem Normalhund beim immer gleichen Gegenstand Holen stinkfad wird.

Hund und Mensch:

Meist kein ständiger Rangordnungskampf
Was unsere Dominanz betrifft, gewiss, wir müssen sie sichern und erhalten, aber viele Hunde denken ohnehin nicht daran sie in Frage zu stellen, auch wenn wir nicht darauf bestehen, dass sie erst Futter kriegen, wenn wir gegessen haben, sie auch vor uns aus der Tür gehen lassen usw. Es hängt eben von der individuellen Veranlagung, der Rasse etc. des Hundes ab. Wir müssen aber erkennen, wie viel Konsequenz ein Hund braucht und was wir von ihm fordern.

Hund ist aber nicht Hund, Hunderte Rassen zeigen uns alle Nuancen, vom noch relativ wolfsnahen Primitivhund bis zum hochspezialisierten Flintenjagd- oder Hütehund. Am nächsten dem Wolf steht wohl der Dingo, obwohl sich dieser australische Wildhund vor etwa 4000 Jahren aus einem ursprünglichen Haushund zum Spitzenraubtier des australischen Kontinents entwickelt hat. Aber ein fast ebenso ursprünglicher Hund wurde bei uns als anerkannte Rasse aufgenommen, stellt aber als solcher ebenfalls besondere Ansprüche und hat sich daher nicht besonders verbreitet. Die Rede ist von dem hübschen kleinen Basenji, einem Jagdhund der Kongopygmäen. Er ist fast so wenig abrichtbar wie der Wolf (aber talentierten Menschen gelingt es), neigt zum Streunen, Wildern und Ausbrechen, ist gegen fremde Hunde aggressiv, auch eher vorsichtig, aber interessant und sonst meist liebenswürdig.Wie der Wolf bellt er kaum, ist aber deswegen nicht weniger laut. Seine Spezialität ist die Intelligenz und das Klettern, in der Problemlösung steht er dem Wolf nicht nach, musste er sich doch im Kongo seinen Lebensunterhalt selber beschaffen. Ursprünglich, d.h. mental wolfsnäher sind auch die Hirtenhunde, von den Jagdhunden die Laufhunde und die Windhunde.

Heutige Gefahren für unseren besten Gefährten
Freilich sollten wir nicht vergessen, dass beim Hund die Gefahr der Überdomestikation besteht, d.h. die Verringerung natürlicher Eigenschaften, die wertvoll sind, aber zum Rückgang neigen, wenn sie nicht ständig selektiert werden. Solche Rückgänge betreffen die natürliche Fortpflanzungsfähigkeit, die robuste Gesundheit an sich, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und Sinnesschärfe. Es wäre daher wichtig, dass an Zuchttiere aller Rassen, die nicht Gebrauchstiere sind, bestimmte sportliche Anforderungen gestellt würden. Sonst werden auf die Dauer unsere Hunde den gesteigerten Ansprüchen nicht mehr gerecht, was zu einem Niedergang der Hundehaltung führen könnte. Denn heute ist nicht nur der Wolf gefährdet, nein, auch der Haushund wird zunehmend legal, durch eine oft feindliche Umwelt, durch erschwerte Haltungsbedingungen etc. bedrängt. In mancher Beziehung sollte er sich daher vom Wolf nicht weiter fortentwickeln, um unser bester Gefährte im Tierreich bleiben zu können.

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Das Gerangel um den Rang …

Wölfe, die man künstlich aufgezogen hat, werden erstaunlich hundeähnlich im Verhalten. Sie drücken ihre Anhänglichkeit oft weit ausdrucksvoller aus als ein Hund. Im zweiten Lebensjahr aber beginnt es kritisch zu werden. Man kann ein beginnendes Aufbegehren feststellen, und es kann ganz plötzlich zu einem höchst gefährlichen Überfall kommen. Doch das ist individuell verschieden: Manchmal bleiben auch erwachsene Wölfe umgänglich. Jedoch, wie E. Klinghammer und P.A. Goodmann sagen: „Ein sicherer Wolf existiert nicht … Es kann passieren, dass ein Wolf entschlossen zu sein scheint, eine Konfrontation oder einen Kampf zu erzwingen … Jährlingswölfe sind oft ungebärdig, und suchen so Schwächen an ihrem Gegenüber zu entdecken. Finden sie solche, dann lassen sie es auf eine Probe ankommen oder greifen an, auch wenn sie lange mit dieser Person in freundlichen Beziehungen standen.“

Vielen Hundebesitzern, die dies lesen, wird das irgendwie bekannt vorkommen, denn viele Hunde testen ihre Besitzer spielerisch aus, ohne dann aber gleich die letzte brutale Konsequenz daraus zu ziehen. Dennoch werden sie ihren Vorteil auf oft sehr charmante Weise zu nutzen wissen … Soziales Spiel ist ja immer auch ein „Gerangel um den Rang“. Doch der Durchschnittshund bleibt dennoch lebenslang ein verlässlicher, sicherer und treuer Gefährte.

 

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Mehr Wolf im Hund?

Aber wäre es denn nicht interessant, „mehr Wolfim Hund“ zu haben? Die Leistungsfähigkeit, Robustheit und natürlichen Instinkte in eine Super-Hunderasse einzubringen, einfach, indem man z.B. den Deutschen Schäferhund mit dem Wolf kreuzt? Das wurde schon oft versucht, in unserem Jahrhundert sind daraus sogar gleich drei Wolfshundrassen entstanden, der Holländische Saarlooswolfshund, der Tschechoslowakische Wolfshund (in dessen Namen die Tschechoslowakei überlebt hat), und der Lupo Italiano. Die Hoffnungen, die man in sie gesetzt hat, haben sich nicht erfüllt, es wurden daraus keine Supergebrauchsrassen. Der Hauptgrund dafür heißt Scheu, daneben starker Jagdtrieb, geringe Konzentration.

Wölfe, wie Wildtiere überhaupt, sind extrem vorsichtig, und die ständige Umweltbeobachtung macht sie unkonzentriert. Diese Eigenschaften prägen auch mehr oder weniger die Wolfskreuzungen mit Hunden, im Allgemeinen je mehr, je höher der Wolfsanteil der Kreuzung ist. Während die erwähnten Rassen durch Selektion wenigstens als Haushunde für engagierte Spezialisten durchgehen mögen, sind direkte Kreuzungen absolut abzulehnen, da ihre Haltung wie die von Wölfen mit enormen Problemen verbunden ist und die Tiere selbst häufig unberechenbar sind. Zigtausend Jahre Domestikation haben eben den Wolf soweit verändert, dass er heute nur als Haushund sich uns perfekt anpassen kann, wie es eine moderne Industriegesellschaft erfordert.

 

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