Wie viel Freiheit braucht der Hund?

Von Jörg Tschentscher

Marius Müller Westernhagen hat, als die Berliner Mauer fiel, von „Freiheit" gesungen, Vince Ebert hat ein Comedyprogramm darüber geschrieben und jeder von uns hat – zumindest ab und zu – das Gefühl frei zu sein oder Freiheit spüren zu wollen.
Wie aber sieht das bei unseren Hunden aus?
Wie viel Freiheit braucht ein Hund und wie viel Freiheit
darf ich ihm als Halter zugestehen?

Den Einstieg in dieses spannende Thema machen Hunde aus dem Tierheim, die man landläufig ja als „eingesperrt" bzw. „ihrer Freiheit beraubt" ansieht. Eigentlich müssten doch gerade sie ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Freiheit haben. Doch wie kann man Freiheit eigentlich definieren? Will ein Hund „Freiheit", wenn er versucht aus seinem Zwinger auszubrechen – oder will er „nur" aus seiner aktuellen Situation heraus?

Man sieht oft aber auch Hunde, die träumen (auch im Zwinger); ­vielleicht träumen sie gerade von einer Kaninchen­jagd über freie Felder oder von einem Trab durch den Wald ohne Leine. Träumen wäre so gesehen praktisch eine Art von Leben geistiger Freiheit.

Streunerhund im Tierheim

Betrachten wir also zunächst das ­konkrete Beispiel eines Hundes, der im Tierheim landet. Der Hund lebt bspw. als Streuner in Spanien. Er geht wohin er will, er ist frei, obwohl sein Leben nicht sicher ist und er sich ständig um Nahrungsbeschaffung kümmern muss. Nun wird er eingefangen und in ein Tierheim gebracht. Hier soll es ihm – nach menschlichem Ermessen – besser gehen: Er wird medizinisch durchgecheckt und bekommt regelmäßig Futter. Und trotzdem versucht der Hund aus dem Tierheim auszu­brechen. Jedesmal, wenn die Türe aufgeht, versucht er sich am Pfleger vorbei zu quetschen, und wenn er alleine ist, kratzt er sich die Pfoten wund und beißt in die Zwingerstäbe. Und das ist kein Einzelfall!

D.h. der Hund kannte seinen (mög­lichen) Freiraum, er hatte sein Leben an die Umstände angepasst. Er wusste nichts von Tierfängern, die herumfahren, sondern er lebte in der Gegenwart – und vermisst jetzt im Tierheimzwinger seine Freiheit. ­Seine Reaktionen zeigen deutlich den Stresszustand, in dem er sich nun befindet. Auffällig ist übrigens, dass berichtet wird, dass Hunde, die sich im Stress befinden, nicht oder nur selten träumen.

Ein Hund verliert sein Zuhause

Ein anderes Beispiel. Ein Haushund, der sein Zuhause verliert und aus einem Zwinger oder aus Wohnungshaltung ins Tierheim kommt. Dieser Hund wird seine ihm gewohnte Umgebung ­vermissen und ähnliche Symptome zeigen wie oben beschrieben. Dennoch – in Bezug auf die Freiheit ist die Situation nun schwieriger. Denn ein selbstbestimmtes Leben so wie der vorhin geschilderte Streunerhund kennt er ja nicht. Daher stellt sich nun die Frage, was für diesen Hund ­Freiheit bedeutet.

Was wird dieser Hund wohl jetzt vermissen? Vielleicht den Spaziergang mit vielen – vom Menschen unkontrollierten – Schnüffelerlebnissen, das Aufsuchen seines Lieblingsplatzes oder die Möglichkeit, mit anderen Hunden zusammen zu sein?

Das Erleben von Freiheit und somit auch das Wissen um ihr Fehlen ge­stehe ich jedem Hund ohne Frage zu. Die Frage wäre nur, ob der Hund Freiheit auch ähnlich empfindet wie wir. Am nächsten kommen wir der Antwort darauf wohl dann, wenn wir die menschliche Definition von Freiheit in Kombination mit den ­biologischen Bedürfnissen unserer Hunde und im zeitlichen Bezug auf die Gegenwart sehen. Wie sieht das aus?

Durchgehende Kontrolle in menschlicher Obhut

Die Mehrzahl der Hunde wurde in menschlicher Obhut geboren. Ihr Leben und Verhalten wurde immer von Menschen kontrolliert und bestimmt. Kennen diese Hunde überhaupt Freiheit im eigentlichen Sinne? Wenn wir uns mal die ­Situation eines Welpen anschauen, ist das schon ziemlich heftig. Der Kleine kriegt erklärt, wo und wann er sich lösen darf und soll. Was er knabbern darf und soll. Wo er schnuppern darf und wie er sich wann, wo und wie ver­halten soll. Das entspricht einer durchgehenden Kontrolle, die zwar gut gemeint ist, aber nichts zu tun hat mit Freiheit.

Stellen Sie sich mal vor, Sie müssten auf die Toilette, könnten die Türe nicht zumachen und 20 Leute liefen dabei an Ihnen vorbei … Gut, Sie haben Recht, Hunde haben kein Schamgefühl und benutzen ihren Kot ja auch zum Markieren. Dennoch, ich kenne auch Hunde, die ins Gebüsch gehen wollen, um sich zu lösen. Und es gibt auch Menschen, die ihren Hund weiter­ziehen, wenn er sich zu lösen beginnt, weil es gerade nicht passend ist, oder weil sie der Meinung sind, sie ließen sich vom Hund nicht vorschreiben, wann er stehen bleiben soll, denn das wäre ein dominantes Verhalten des Hundes gegenüber dem Menschen … Manchmal fängt die Freiheit schon im Darm an …

Psychische und körperliche ­Freiheit

Ich habe mich im Rahmen der Recherche zu diesem Artikel mit einigen Menschen aus der ehemaligen DDR unterhalten. Interessant fand ich die Aussage, dass nicht die Mauer an sich das Schlimmste gewesen wäre. Vielmehr war es das Schlimmste, dass von irgend Jemandem befohlen wurde, wohin man gehen dürfte und wohin nicht, und was man sagen konnte, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Das aber bedeutet, dass die Freiheit der Gedanken und die Freiheit im Umgang mit Situa­tionen dem Menschen offensichtlich wichtiger ist als eine Einschränkung des körperlichen Freiraums. Wobei natürlich klar zu sagen ist, dass die Möglichkeit zu einem ausreichenden Bewegungsspektrum gegeben sein muss. Andernfalls würde die körperliche Anspannung zu groß und dann würde auch der Körper nach Freiheit streben.

Warum sind wohl in Gefängnissen so viele Fitnessräume? Doch deswegen, weil psychische Spannungen körperlich abgebaut werden können. Genau aus diesem Grund werden zunehmend Freilaufgehege und ­Zwingeranlagen oft rund bzw. zumindest ohne 90°-Winkel gebaut. Man will den gefürchteten „Lagerkoller" verhindern. Wir alle kennen Tiere, die stereotyp am Gitter auf und ab laufen. Dem können wir bei unseren Hunden ohne Probleme entgegensteuern, indem wir ausreichend und abwechslungsreich mit ihnen spazierengehen.

Freiheit im Alltag

Mein Hund läuft schnuppernd über eine Wiese und ich rufe ihn. Ich weiß, dass er mich hört, aber er kommt nicht. Warum nicht? An dieser Stelle finde ich die Definition von Freiheit passend.

Freiheit wird in der Regel so verstanden, ohne Zwang zwischen zumindest zwei verschiedenen ­Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu ­können. Tja, und jetzt rufe ich ­meinen Hund und er kommt nicht. Er ­entscheidet zwischen zwei Möglichkeiten: Kommen oder weiterschnuppern? Diese Auswahlmöglichkeit ist eine Form von Freiheit, und es lassen sich bedeutende Einsichten daraus ableiten. Einerseits die, wie wichtig es ist, dass Signale positiv verknüpft werden, und andererseits, auf welche Art ich meinen Hund trainieren sollte. Nämlich so, dass der Hund die Möglichkeit der Entscheidung hat – das heißt Freiheit –, er sich aber auf Grund seiner (guten) Erfahrung für mich und gegen das Weiterschnüffeln entscheidet. Diese Zuverlässigkeit beim Rückruf ist Folge von Vertrauen und ­fördert es zugleich. Damit aber kann ich meinem Hund wiederum einen größeren Freiheitsraum zugestehen, weil ich ihn ja bei gegebener Not­wendigkeit – zum Beispiel im Straßenverkehr oder bei Entgegenkommen eines Joggers – sofort und zuverlässig abrufen und händeln kann.

Freiheit setzt Regeln voraus

Kann ein Zuviel an Freiheit negative Folgen haben? Wie verhalten sich Hunde, die „zu viel" Freiheit bekommen? Hier orientiere ich mich an Dorit Feddersen-Petersen, die im Interesse der Sache keine schwammigen oder falschen Begriffe mag. Es ist nämlich wichtig, genau zu definieren, worum es geht. Freiheit bedeutet nämlich nicht, den Hund sich komplett selbst zu überlassen, ihn selbst alle Entscheidungen, die sein Leben und seine Lebensumstände regeln, treffen zu lassen (was rein praktisch ohnehin nicht möglich ist). Wichtig ist die Ergänzung von Freiheit durch Regeln, sie schließen jene nicht aus! Vielmehr ermöglichen klare Regeln erst eigentich die Freiheit, wie die meisten bestätigen werden, die Kinder aufgezogen haben (von den letzten Anhängern der gescheiterten regel­losen, also „antiautoritären Erziehung" der 1960er Jahre abgesehen).

Regeln sind also wichtig und Voraussetzung für Freiheit. Mein Hund soll nicht auf die Straße laufen und überfahren werden, er soll keine Menschen anspringen, und er darf nichts fressen, was auf dem Boden liegt. Das muss ich ihm vermitteln. Er darf aber, wo immer es geht, frei laufen, darf ­Hundekontakte haben und schnuppern – weil ich ihn zurückrufen kann, wenn es erforderlich ist. Und wenn ich bemerke, dass mein Hund die eine oder andere Regel gerade mal „vergessen" hat, dann üben wir´s halt wieder. Aber auch hier gilt beim Üben: Nicht unterdrücken, sondern lenken, denn ich möchte ja, dass mein Hund sich in einer Wahlmöglichkeit für mich entscheidet und nicht, dass er aus Desinteresse an mir oder gar aus Angst vor mir eine andere Option wählt.

Freiheit für Hunde?!

Ist Freiheit für Hunde in unserer technisierten Zeit und in Zeiten von restriktiven Landeshundegesetzen überhaupt noch möglich? Fakt ist, dass wir das Leben unserer Hunde immer stärker kontrollieren und somit auch die individuelle körperliche und geistige Freiheit des Tieres immer weiter einschränken. In einem Seminar wurde gar vom „als politisch korrekt empfundenen Hund" gesprochen. Solche dem Tier zugeschriebenen Attribute erinnern eher an die Zusammenstellung eines Roboters als an ein Lebewesen mit Emotionen und Erfahrungen. Unser Hund ist aber ein Hund und keine Maschine, also beurteile ich ihn auch so. Daher ist es auch wichtig, dass mein Hund Freiheit erleben kann. So, wie er sie empfindet und wie er sie braucht, um glücklich sein zu können. Und dieses Umfeld müssen wir ihm (gerade auch durch klare Regeln und durch Vertrauen) schaffen – als Hundehalter, als Politiker und als Mensch. Freiheit ist einfach zu wichtig.

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