"Mama, Woofer ist einsam in seiner Hundehütte. Er möchte ins Haus kommen und spielen!“, hört man den 10-jährigen, stets Aufmerksamkeit suchenden Billy Tobin draußen rufen.
„Dem Hund ist es egal, ob er im Haus ist oder nicht. Er will nur herumtoben“, schreit die Mutter, Janet Tobin, 44 und unglücklich verheiratet, ihrem Sohn zurück.
„Wollt ihr wohl ruhig sein! Der Hund will nichts anderes als seine Ruhe!“, brüllt zornig Bob Tobin, 50, untreuer Ehemann von Janet.
Eine typische Auseinandersetzung bei den Tobins, einer sehr unharmonischen Familie, deren Mitglieder die unheimliche Fähigkeit besitzen, alle ihre verschiedensten Neurosen auf die einzige unschuldige Seele im Haushalt zu projizieren: Woofer, den Familienhund.
„Es ist nicht ungewöhnlich für eine neurotische Persönlichkeit, ungelöste Probleme auf das Kind, das Haus oder eben auf den Hund abzuladen“, meint Dr. Jonah Douglas, Psychologieprofessor der amerikanischen Universität Arizona. „Während Projektionen gar kein seltenes Phänomen sind, ist es aber doch erstaunlich, in welchem hohen Ausmaße es Familie Tobin verstanden hat, absolut jedes Problem auf den Hund abzuladen“.
Emotionaler Kitt
Die Benutzung von Woofer als „Müllhalde“ der Familienneurosen der Tobins ist tägliche Realität. Die Unzufriedenheit zwischen den Familienmitgliedern, Ärger und Schmerzen sind ständig spürbar, bleiben aber genauso ständig unausgesprochen und werden vom wahren Ursprung auf Woofer projiziert. Professor Douglas: „Dank Woofer brauchen sich die Tobins nie direkt mit ihren persönlichen und zwischenmenschlichen Problemen konfrontieren. Das führt zu einem Teufelskreis, der die Probleme verstärkt, die aber weiterhin nie beim Namen genannt werden. In Wahrheit ist Woofer der „emotionale Kitt“, der die ganze verkorkste Familiensituation überhaupt noch zusammen hält“.
Großmutter Ellen Tobin, 78, manchmal etwas verwirrt, lebt in ständiger Angst, ins Altersheim abgeschoben zu werden. Jedes Mal, wenn Woofer nicht bei ihr ist, meint sie, er wird nie mehr wiederkommen: „Wo ist Woofer! Wo ist Woofer!“, schrie Ellen ihre Tochter Janet kürzlich an, „Du hast ihn ins Tierheim bringen oder gar einschläfern lassen! Gib’s endlich zu!“
Die 14-jährige Andrea Tobin beklagt sich ständig, dass der Hund unsauber, räudig und einfach hässlich sei – und erkennt nicht, dass sie damit in Wirklichkeit ihre eigene tief sitzende Unsicherheit über die Veränderungen, die in ihrem Körper vorgehen, ausdrückt. „Kann nicht irgendwer Woofer endlich in die Badewanne stecken? Der Hund ist einfach krass!“
Und weiter geht es in diesem Stil, wenn Billy, der von seinen Mitschülern ständig gehänselt wird, aus der Volksschule nach Hause kommt, wo er kaum Aufmerksamkeit und noch weniger Anerkennung und Bestätigung erhält. Leidenschaftlich umarmt er Woofer und tröstet ihn, weil er glaubt, dass der Hund einsam und traurig sei … „Da hast du“, sagt Billy, während er Woofer ein Leckerli gibt, „den ganzen Tag bist du allein, niemand kümmert sich um dich. Ich muss dir richtig gefehlt haben!“ Und wenn Woofer enthusiastisch auf Billy und das Leckerli reagiert, an seinem kleinen Herrchen aufgeregt hochhüpft, wie bei jedem täglichen Begrüßungsritual, interpretiert der Junge das als Bestätigung seines Gespräches mit dem Hund.
„Hol’ den Hund sofort aus meinem Bett“, schreit Janet, die als Reaktion auf Bobs langjährige Untreue sehr verbittert ist und seit sechs Jahren auf getrennten Betten besteht, „der Hund soll endlich dort hin, immer hin will, nämlich in den Hof, wo er herumschnüffeln, markieren und läufige Hündinnen belästigen kann.“ Keiner in der Familie erkennt das, was hinter diesen Worten steht, erkennt, was Janets Unterbewußtsein da angesprochen hat und auf wen sich in Wahrheit ihr Zorn richtet …
„Musst du den ganzen Tag auf dem armen Hund herumhacken?“, ruft Bob aus dem anderen Zimmer. „Dein Gejammer steht ihm bis zum Hals. Super, jetzt winselt er. Ist es das, was du wolltest? Bist du jetzt zufrieden? So ein Hund hat ja ein feines Gehör, für den muss deine Nörglerei und dein ständiges Gekeife nicht auszuhalten sein. Kein Wunder, dass er nach draußen möchte …“
„Soweit ich weiß“, sagt schließlich Professor Douglas, „gibt es in der Geschichte der psychiatrischen Wissenschaft nichts Ähnliches, wo eine einzige Kreatur als emotionaler Stellvertreter für so viele Menschen fungiert. Woofer muss wirklich ein außergewöhnliches Tier sein. Ein Hund mit einer weniger starken Persönlichkeit wäre schon längst unter der Last so vieler gegensätzlicher Projektionen zerbrochen“.