Wenn Hund keine Hunde mag: Spaziergang mit einem sozial unverträglichen Hund

Von Christoph Clemens

Überall sieht und hört man sie, bellende, keifende und sich aufgeregt gebärdende Hunde an der Leine, vor allem bei ­Hundebegegnungen, meist lautstark unterstützt von den ­jeweiligen Hundeführern. Vielfach toleriert oder ignoriert, genauso oft kapituliert, aber scheinbar selten hinterfragt.
Was geht in einem Hundeführer vor, dessen Hund an der
Leine Stress macht (und hat)?! Dies ist das Thema dieses ­Artikels. Was ihn so besonders – und für jeden Hundehalter interessant – macht, ist der Umstand, dass es sich bei diesem Hundehalter zugleich um einen Hundetrainer handelt.

Sally wurde ihrem ersten Be­sitzer als 1 ½-jähriger Hund durch die zuständige Ordnungsbehörde entzogen, da er sie nicht artgerecht gehalten hatte. Für die nächsten vier Jahre war das Tierheim ihr Zuhause. Vermutlich aufgrund Mangel- und Negativerfahrungen in ihrer Welpen- und Junghundphase in Verbindung mit Fehlkonditionierungen und negativen Lernerfolgen hat sich Sally zu einem innerartlich sozial­kritischen Hund ­entwickelt.
 
Als Sally im Alter von 5 ½ Jahren zu mir kam, war ihre Sozialaggression bereits so verfestigt, dass jegliche Formen der rein positiven Verstärkung bzw. Ablenkung keinen „therapeutischen“ Effekt mehr hatten. Getreu ihrem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ schien es, als würde sich das Verhalten von Sally sogar noch verstärken. Erst nach einer ­langen Odyssee und unsäglich vielen – zumeist untauglichen – Trainingsempfehlungen erhielt ich durch eigene gesammelte Erfahrungen und die Hilfe eines renommierten Hundetrainerkollegen die für Sally als Individuum nötigen Trainingsansätze.

Auf das Individuum bezogen
Sally wird in konfliktträchtigen ­Situationen dual mittels Brustgeschirr und Halti (ein Kopfhalfter) geführt. Hierbei erfolgen – situationsorientiert – Abbruchsignale über das Halti (siehe Kasten auf Seite 28). Unter „situationsorientiert“ wird hier u.a. der zunehmende räumliche Abstand zum Konfliktherd fremder Hund verstanden, sowie das Verhalten des Konfliktherdes (eigenes aggressives Verhalten, Fixieren oder neutrales Verhalten) selbst. Des Weiteren sind immer andere äußere und innere Umstände von Sally und natürlich auch von mir zu berücksichtigen. Die Form und Intensität der Einwirkung richtet sich stets nach der Intensität von Sallys Verhalten.

An dieser Stelle sollen nicht die eingesetzten Hilfsmittel diskutiert oder das Für und Wider von Trainingsmethoden erläutert werden. Vielmehr geht es ausschließlich um die Sichtweise des Halters eines schwierigen Hundes.

In mittlerweile vielen ­Situationen reicht ein verbales Abbruch­kommando; in manchen Situationen ist eine nachhaltige „Ermahnung“ nötig, um Sallys aggressives Verhalten zu unterbinden. Nur der Vollständigkeit halber soll hier erwähnt werden, dass selbstverständlich die positive Verstärkung durch soziale Bestätigung während eines neutralen Verhaltens dem Konfliktherd gegenüber auf dem Fuße folgt. Soziale Unterstützung und Kompensation von Ver­haltenskorrekturen finden bereits in der ­Konfliktsituation statt.

Der (Trainings)Spaziergang
Nachdem nun die Ausgangssituation dargestellt ist, kommen wir wieder zurück zum eigentlichen Grund dieses Berichtes: Ein nach jahrelanger Arbeit und Durchhaltevermögen stattgefundener Spaziergang in einem örtlichen Naherholungsgebiet. Im Großen und Ganzen sind vier Begegnungssituationen mit dem Konfliktherd „fremder Hund“ erwähnenswert. Nicht so sehr aufgrund Sallys Bewältigung dieser Situationen, sondern vielmehr aufgrund der unterschiedlichen Re­aktionen der Halter der fremden Hunde, welche ihre unterschiedlichen Charaktereigenschaften und vor allem ihre eigenen Sozialkompetenzen mehr als deutlich offenbaren. Beachtenswert ist auch, dass sich die Begegnungen tatsächlich so zugetragen haben, sie sind hier weder beschönigt noch verharmlost.

Engagierte entspannte Hunde­halterin
Die erste Begegnung erfolgte mit einer Dame und ihrem Australian Shepherd, welcher sich auf Distanz sozial neutral bis freundlich zeigte. Die Dame nahm ihren Hund bei unserem Erblicken an die Leine und näherte sich weiter, während ihr Hund auch angeleint weiterhin einen sozial freundlichen und interessierten Eindruck machte. Per Zuruf gab die Dame mir zu verstehen, dass ihr Hund nicht problematisch wäre. Auf meinen Zuruf, dass das ein gutes Training für uns sei, lächelte sie und ließ es sich nicht nehmen, obwohl sie einen anderen Weg einschlagen wollte, zunächst in unmittelbarer Nähe von Sally und mir auf und ab zu gehen. Sally verhielt sich nach kurzer Ermahnung in dieser atmosphärisch entspannten Situation vorbildlich. Daraufhin äußerte die Dame mit einem Lächeln: „Macht sie doch gut“. Da die Dame den Grad der Probleme, die Sally hat, natürlich nicht kannte, war ihr Konfrontationsverhalten zwar etwas voreilig. Es ist aber toll, dass sich Menschen bereit erklären, in Trainingssituationen zu assistieren, das soll hier auf keinen Fall missverstanden werden. Besser wäre natürlich eine kurze Absprache hinsichtlich der Distanzwahrung gewesen, um dem Hund auch die Möglichkeit zu lassen, sich zwar mit dem Konfliktherd auseinanderzusetzen, jedoch nicht in einen so hohen Stresslevel zu kommen, dass Lernen nicht mehr möglich wäre. Trotz dieses kleinen Verbesserungsvorschlages muss ich der Dame meinen Respekt hinsichtlich ihres Engagements aussprechen.

Das Problem mit der Stimmungsübertragung
Bereits die zweite Begegnung mit einem älteren Ehepaar und dessen Airedale Terrier-Hündin beweist, dass es nicht immer so abläuft. Da das Seniorenpaar den Hund nicht angeleint hatte, bat ich sie freundlich, den Hund doch für die kurze Zeit der Begegnung, auch aus Eigenschutz, an die Leine zu nehmen. Meiner Bitte wurde mit den Worten der Frau „Der tut doch nix!“ begegnet, und der Hund wurde nicht angeleint.

Da ich bereits einige Zeit hatte, den Airedale Terrier zu beobachten, konnte ich erkennen, dass es sich offensichtlich ebenfalls bereits um ein älteres „Semester“ handelte und augenscheinlich auch überhaupt kein soziales Interesse an Sally bestand. Also beließ ich es dabei und setzte meinen Weg mit Sally fort. Als das Trio uns passierte, ermahnte ich Sally verbal, da Tendenzen in ihrem Verhalten in Richtung Aggression erkennbar waren. Diesen einen Impuls nahm der ältere Mann sofort zum Anlass, seinerseits seine „Sozialkompetenz“ unter Beweis zu stellen und mich lautstark zu beschimpfen, da ich aus seiner Sicht meinen Hund unnötig drangsalieren würde. Dieser aggressiven Stimmungsübertragung war es dann zu verdanken, dass Sally wieder in alte Muster verfiel und ich ihr aufkommendes Aggressionsverhalten nun korrigieren musste, was den ­älteren Herrn nur noch mehr anstachelte. Ohne das Trio weiter zu beachten entfernte ich mich mit Sally von ihnen, und nach wenigen Sekunden konnte ich Sally für ihr situationsbedingt hervorragendes Verhalten bestätigen. Der ältere Herr hingegen wetterte noch mehrere Minuten hinter uns her.

Unkomplizierte Begegnung
Im weiteren Verlauf des Spazier­ganges passierte uns ein Paar mitt­leren Alters mit seinem Hovawart. Auch in dieser Begegnung reichten ein paar wenige verbale Ermahnungen, um bei Sally ein stabiles Verhalten hervorzurufen. Die Dame, welche den Hovawart führte, quittierte dies mit einem kurzen Lächeln in unsere Richtung. Im Anschluss daran gingen wir mehrere Meter parallel und ohne ­weitere Vorfälle in dieselbe Richtung, bis sich unsere Wege wieder trennten.

Eine Frage von Dominanz?!
Gegen Ende des Spazierganges trafen wir auf ein Pärchen auf einer Wiese am Wegesrand. Der junge Mann führte einen Malinois an relativ kurzer Leine in „Hundeplatzmanier“ über die Wiese, während seine Begleiterin mit einer Bordeauxdogge wenige Meter weiter auf der Wiese saß und damit beschäftigt war, dem Hund ohne für mich erkennbaren Grund alle paar Sekunden ein Leckerchen zu verabreichen.

Beim Passieren reagierte Sally zunächst heftig auf den Malinois, was ein deutliches körperliches Abbruch­signal nach sich zog. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht mitbekam, mir aber meine Begleitung später berichtete, war, dass die erste Reaktion des jungen Mannes auf Sallys Verhalten aus dem Satz „Da haben wir wohl ein kleines Dominanzproblem?!“ bestand. Ach so …? Nach wenigen Sekunden hatte ich Sallys Verhalten stabilisiert und konnte mit ruhiger sozialer Bestätigung und verbalem Lob ihr Konfliktlösungsmodell – Abwenden vom Konfliktherd trotz Anwesenheit und Zuwendung meiner Person – bestätigen und die vorhergegangene Zwangseinwirkung kompensieren.

Während ich hiermit beschäftigt war, sprach der junge Mann mich an und bat mich um die Beantwortung einer Frage. Sie bezog sich auf die Einbeziehung eines Haltis anstelle von Ablenkung des Hundes mittels Spielzeug oder Leckerchen. Ich erklärte ihm, dass das Halti lediglich eine Führhilfe sei und ggf. hierüber ein Einfluss auf das Verhalten genommen werden kann. Auf seine nächste Frage, warum ich nicht einfach weitergehen und das Verhalten ignorieren würde, erklärte ich ihm, dass ich ­Konfliktbewältigung anstelle von Konfliktvermeidung betreibe und Ablenkung in den ­meisten Fällen, ganz sicher aber bei Sally, Selbstbetrug wäre und nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung des Konfliktverhaltens führen würde; von Ignorieren ganz abgesehen.

Nun musste sich offensichtlich die junge Frau Luft machen, indem sie mir mit einem gewissen Tonfall vorwarf, dass ich so meinem Hund das Genick brechen könne. Als ich ihr nun kurz erläuterte, wo sich Genick und Nasenrücken beim Hund befinden, und dann nicht weiter auf diese absurde Pauschalaussage einging, verließen wir auch diese Situation, nicht ohne weiteres schnippisches Gebrabbel der Dame im Hintergrund zu vernehmen.

Abbruchsignale statt unkontrolliertes Konfliktpotenzial
Vier Situationen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten; Nicht so sehr bei Sallys Verhalten, sondern vielmehr in den Reaktionen der eigentlich unbeteiligten Menschen. Während die Damen der ersten und dritten Begegnungsituationen sich offen, neutral und sogar hilfsbereit gezeigt hatten, wurde die Situation in der zweiten Begegnung durch das verbal „aggressive“ Verhalten und die damit verbundene Stimmungsübertragung des älteren Herren sogar unnötig erschwert. In der vierten Situation wurde meinen Versuchen, fehlendes verhaltensbiologisches und lerntheoretisches Wissen zu vermitteln, mit unsachlichen und dümmlichen ­Sprüchen und Floskeln begegnet.

Nun bin ich mit meiner Hündin durch eine harte Schule gegangen und auch durch meinen Beruf einiges an menschlichen ­Fehlleistungen gewöhnt. Wie aber soll sich ein Hundehalter, der mit seinem sozial aggressiven oder auch nur leinenaggressiven Hund bemüht ist, das Verhalten zu korrigieren, und somit versucht, dem Hund zu helfen, nach einem solchen Tag fühlen?

Rechtfertigen gelegentliche oder regelmäßige verbale und/oder körperliche Abbruchsignale nicht den Tausch gegen ein ständiges un­kontrolliertes Konfliktpotenzial in der Öffentlichkeit, zumal sie zum normalen Verhaltens­repertoire eines Hundes genauso gehören wie angemessenes Aggressions­verhalten?

Aus Sicht des Hundetrainers
Auch für einen Hundetrainer kann das Verhalten solcher Menschen Probleme im Umgang mit dem Kundenhundehalter bedeuten. Gerade Hundehalter, die Hilfsmitteln wie z.B. dem Halti durch die häufig unsachgemäße und unfachliche Darstellung vielerorts bereits kritisch gegenüber stehen, werden dann noch in der Öffentlichkeit auf diese Art und Weise angeklagt bzw. kritisiert. Dies führt häufig dazu, dass sie sehr schnell wieder Abstand von dem Hilfsmittel nehmen, obwohl es, über einen gewissen Zeitraum angewendet, das Verhalten und somit auch die Lebensqualität des Hundes (und seines Halters) nachhaltig verbessert hätte. Das Halti ist in diesem Zusammenhang natürlich nur beispielhaft als Hilfsmittel beim Training genannt.

Einige Menschen meinen, ­innerhalb von nur wenigen Sekunden bis ­Minuten, einen Hundehalter und ­seinen Hund einschätzen zu können und häufig offensichtlich sogar mehr über ihn zu wissen als er selbst. Dabei wissen sie ausschließlich genau so viel, wie sie in der Zeitspanne der Begegnung gesehen und wahrgenommen haben; alles andere ist Spekulation. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass man mit Scheuklappen durch das Leben gehen soll. Wo Tiere offensichtlich tatsächlich gequält oder unsachgemäß gehalten oder geführt werden, ist es die Pflicht eines jeden Menschen, sich einzusetzen.

Der Ton macht hierbei aber wie immer die Musik. Hätte der ältere Herr in der zweiten Begegnung gefragt, anstatt anzuklagen, hätte gegebenenfalls die Möglichkeit bestanden, ihn einfach aufzuklären. In diesem Fall verschloss er sich jeglicher Möglichkeit, seine Sichtweise zu ändern und somit sah ich auch nicht den geringsten Grund, auf seine Beschimpfungen einzu­gehen. Er konnte natürlich nicht wissen, wie sich Sally verhält, wenn sie nicht korrigiert wird, aber rechtfertigt dieser Umstand seine Reaktion? Ich denke nein!

Warum weigern sich so viele Hundehalter, ihren Hund einfach kurz an die Leine zu nehmen, selbst dann noch, wenn sie darum gebeten werden bzw. an Orten, an denen es ohnehin gesetzlich vorgeschrieben und durch Beschilderungen deutlich gemacht ist? Selbst wenn der eigene Hund der liebste Hund der Welt ist, könnte vielleicht das Gegenüber einen Grund für seine Bitte haben. Dieser egoistischen und arroganten Einstellung ist es dann zu verdanken, wenn monatelange intensive Arbeit mit einem schwierigen Hund binnen Sekunden zunichte gemacht wird. Aber was kümmert es denjenigen, der einen vermeintlich l­ieben Hund hat?

Bleibt also festzustellen, dass die Arbeit mit schwierigen Hunden in der Öffentlichkeit gleichermaßen für den Halter als auch den Trainer häufig sehr schwierig und unbefriedigend sein kann. Sehr schnell gerät man in das Visier derer, die es gerne besser wissen wollen, und im schlimmsten Fall kann das sogar eine Anzeige bei den Ordnungsbehörden nach sich ziehen. Aber auch hier krankt die öffentliche Meinung und Einstellung. Nach jedem neuen Beißvorfall wird teilweise regelrecht hysterisch nach Regularien und strengeren Vorschriften im Umgang mit kritischen Hunden geschrien, ohne auch nur annähernd nach den Hintergründen zu fragen. Wird ein kritischer Hund dann aber in seinem aggressiven Verhalten in der Öffentlichkeit von seinem Halter angemessen korrigiert, ist dieser plötzlich ein Tierquäler.

Ich hoffe, ich konnte mit meinen Erlebnissen zum Nachdenken anregen und vielleicht den einen oder anderen Hundehalter, aber auch Hundetrainer, der keine oder nur wenige Erfahrungen mit wirklich kritischen Hunden hat, dazu bewegen, in einer Begegnung mit mir oder anderen Hundetrainern und Haltern von kritischen Hunden offen für andere Einflüsse zu sein und zu fragen, gern auch kritisch, anstatt zu urteilen.

Hinweis: Im nächsten WUFF ein Fachartikel von Christoph Clemens über den Trainingsspaziergang als Re­sozialisierungstherapie.

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