Wenn der Organismus Alarm schreit …

Von Clarissa von Reinhardt

Die Norwegerin Turid Rugaas machte als eine der Ersten darauf aufmerksam, dass viele Verhaltensauffälligkeiten bei Hunden auf Stress zurückzuführen sind. Denn die heutigen Haltungsbedingungen verlangen viel von ihnen: Den Straßenverkehr mit immensem Geräuschpegel sollen sie meistern, das Rudeltier Hund soll stundenlang allein zu Hause bleiben und dann beim Spaziergang im öffentlichen Park durch gutes Sozialverhalten gegenüber allen Artgenossen und Menschen glänzen. Sie sollen möglichst überall mit hingenommen werden können, ohne unangenehm aufzufallen, egal ob in ein Kaufhaus, zum Seminar, in ein Restaurant oder mitten in die Enge einer überfüllten U-Bahn. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Die Annahme, dass all dies an unseren Hunden spurlos vorübergeht, wäre unrealistisch. Betrachtet man ihr Leben, lassen sich tatsächlich viele Gründe dafür finden, dass sie gestresst sein könnten. Auch wenn jeder Organismus ein gewisses Maß an Stress problemlos kompensieren kann, ist es sicher an der Zeit darüber nachzudenken, ob dieses Maß für unsere Haushunde nicht längst überschritten ist. Führende Kynologen sind sich inzwischen darüber einig, dass Stress eine der Hauptursachen für problematische Verhaltensweisen ist.

Was ist Stress?
Doch zunächst sollte der Begriff „Stress“ definiert sein. Die meisten Definitionen beschreiben Stress als einen Zustand, in dem ein Organismus auf eine innere oder äußere Bedrohung reagiert und seine Kräfte darauf konzentriert, die Gefahrensituation zu bewältigen. Stress kann also aus evolutionärer Sicht als überlebenswichtige Reaktion auf Reize angesehen werden, durch die auch eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen erreicht wurde. In den letzten Jahrzehnten wurde der Begriff Stress aber vor allem im Zusammenhang mit einer Verminderung des Wohlbefindens, der Leistungsfähigkeit und der Gesundheit genannt und somit negativ assoziiert.
Stress findet seinen Ausdruck auf allen Ebenen des Organismus:
– physiologisch, zum Beispiel in Schweißausbrüchen, Herzklopfen usw.
– im Verhalten, zum Beispiel durch Aggressionen, Erregung oder Unruhe
– im Erleben, zum Beispiel in der Bewertung des eigenen Zustands.

Stress wird unterschiedlich erlebt
Der Stress kann sich in allen Lebensbereichen und Situationen und auch in allen Altersstufen eines Hundes manifestieren. Das Erleben von Stress und auch die vom Organismus entwickelten Bewältigungsstrategien können individuell sehr verschieden sein. Erleben zum Beispiel mehrere Hunde die gleiche Situation, so kann es sein, dass einige sie als gar nicht belastend empfinden, während andere deutlich gestresst reagieren. Von denen, die gestresst reagieren, können ganz unterschiedliche Symptome und Bewältigungsstrategien gezeigt werden.

Stress-Symptome beim Hund
Im Kasten sind zahlreiche bei einem Hund Stress auslösende Faktoren aufgelistet und kurz besprochen. Die Symptome, die ein gestresster Hund zeigt, können ebenfalls sehr unterschiedlich sein. Zu beobachten sind zum Beispiel Nervosität, Unruhe, vermehrte Krankheitsanfälligkeit (vor allem Durchfall, Erbrechen und Allergien), Hypersexualität, Gereiztheit mit überschießenden Reaktionen, Bewegungsstereotypien, Dauerbellen, Appetitlosigkeit oder Fresssucht, Haarausfall, Schuppenbildung, Hecheln, Zittern, schlechte Konzentrationsfähigkeit, erhöhte Aggressionsbereitschaft und vieles mehr.
Gerade dann, wenn ein Hund eine erhöhte Aggressionsbereitschaft zeigt, muss unbedingt genau untersucht werden, welchen Stressoren er ausgesetzt ist. Viel zu schnell wird – gerade bei Rüden ! – mit dem angeblichen Dominanzwillen des Hundes argumentiert, wenn die Ursachen für aggressive Verhaltensweisen gesucht werden. Ist es nicht erstaunlich, dass praktisch jeder Hund, der nicht so reagiert, wie sich das der Trainer und/ oder Besitzer vorstellt, dominant-aggressiv sein soll?! Was dann wiederum die Rechtfertigung für „hartes Durchgreifen“ und „strikte Unterordnung, um den Hund unter Kontrolle zu haben“, ist … Wenn die Ursachen für das aggressive Verhalten aber Überforderung und Stress sind, müssen ganz andere Trainingskonzepte entwickelt und angewandt werden.

Was tun bei Hunde-Stress?
Aber was tun? Alle Hunde abschaffen, weil sie nur noch als aggressive und gestresste Nervenbündel herumlaufen und wir ihnen das nicht zumuten wollen? Sicher nicht! Durch die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema ist der erste Schritt zur Veränderung schon getan. Wenn wir erkennen, wann und weshalb unser Hund gestresst ist, können wir Konfliktsituationen entschärfen oder sie gar nicht erst aufkommen lassen. Achten wir zusätzlich auf ausreichend lange Ruhe- und Regenerationsphasen, so sind die besten Voraussetzungen geschaffen, um einen ausgeglichenen und freundlichen Begleiter auf vier Pfoten neben sich zu wissen, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt.

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Stress-Reaktionen

Die Reaktion auf Stress wird in der wissenschaftlichen Literatur in drei aufeinander folgende Phasen unterteilt:
1. Die Alarmreaktionsphase: In dieser Phase führt das Zusammenspiel von Nervenimpulsen und Hormonausschüttungen zur optimalen Reaktionsbereitschaft.
2. Die Widerstandsphase: In dieser zweiten Phase ist der Widerstand gegenüber dem Auslöser erhöht und gegenüber anderen Reizen herabgesetzt. Dies bedeutet, dass der Bewältigungsversuch zu Lasten der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen Stressoren geht.
3. Die Erschöpfungsphase: Hält der Stress zu lange an, kann der Organismus ihm trotz der ursprünglich erfolgten Anpassung nicht mehr standhalten. Die Symptome der Alarmreaktion aus Phase 1 stellen sich wieder ein, sind jetzt aber dauerhaft. Diese anhaltende Hochspannung kann im Zusammenwirken mit anderen Risikofaktoren zur Ausbildung organischer Krankheiten und im Extremfall sogar zum Tod führen.

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Stressauslösende Faktoren beim Hund
Welche Faktoren bei einem Hund Stress auslösen können, ist sehr unterschiedlich. Im Folgenden eine Aufzählung und kurze Besprechung der wichtigsten potenziellen „Stressoren“.

– Chronische und/ oder akute Krankheit, evtl. mit Schmerz verbunden
– Schlafdefizite/ Erschöpfungszustände
– Plötzliche Veränderungen wie Umzug, Familienzuwachs, Besitzerwechsel usw.
– Trauer durch Verlust eines Sozialpartners
– Bedrohung, Angst
– Situation der Erwartungsunsicherheit: Der Hund versteht die an ihn gestellte Aufgabe/ Anforderung nicht und wird dadurch verunsichert.
– Harte Ausbildungsmethoden, die den Hund ängstigen und/ oder ihm Schmerzen zufügen.
– Agility, Dog-Dancing, Obedience: Diese Hundesportarten haben ein sehr positives Image und werden mit freudig arbeitenden Hunden assoziiert. Es gilt jedoch zu bedenken, dass hier mit Tempo und teilweise hohem Leistungsdruck gearbeitet wird – vor allem, wenn der Hund in Wettkämpfen geführt wird und Pokale für seinen Besitzer holen soll …
– Schutzdienst (neuer Name: Vielseitigkeitsprüfung für Gebrauchshunde, VPG): Der hier aufgebaute psychische Druck und die physischen Belastungen führen zu hohem Stress.
– Sogar die eigentlich sehr wichtigen Welpenspielgruppen können zur „Stressparty pur“ ausarten, wenn sie nicht professionell durchgeführt werden und den Hund in der Dauer, der Gruppengröße und den an ihn gestellten Aufgaben überfordern.>
– Hektik, Gewalt, Wut, Ärger, Aggression im sozialen Umfeld des Hundes: Zum Beispiel Streit in der Familie oder Dauerstress und gereizter Umgangston am Arbeitsplatz, zu dem der Hund mitgenommen wird. Er ist zwar nicht persönlich mit diesen Gefühlsausbrüchen gemeint, wird aber durch die Stimmungsübertragung gestresst.
– Kinder: Sie sind bis zu einem gewissen Alter noch nicht in der Lage, den Hund als eigenständiges, fühlendes Lebewesen zu begreifen, und so kann es passieren, dass sie den Hund festhalten, an ihm ziehen und zerren, ihn als Plüschtierersatz betrachten.
– Viel Unruhe im häuslichen Bereich: Ein gastfreundlicher Haushalt mit ständig wechselndem Besuch, fremden Menschen, die den Hund ansprechen, oder einfach nur andauernder Geräuschkulisse können einen Hund ebenso stressen wie den Menschen – irgendwann braucht jeder mal seine Ruhe.
– Zu viel emotionale Aufregung, sei sie positiv oder negativ, stresst den Hund. Hierzu kann auch die Auseinandersetzung mit unbekannten Situationen gehören, selbst wenn diese ungefährlich sind. Das Erkunden von Neuem und das Aufnehmen und Verarbeiten von Reizen strengen an. Der Hund braucht anschließend ausreichend lange Ruhephasen, um Erregungszustände wieder abbauen zu können.
– Stress kann aber auch ausgelöst werden durch körperliches Unwohlsein, verursacht durch Hunger, Durst, Kälte, Wärme, Lärm, die fehlende Möglichkeit von Kot- und
Urinabsatz usw.
– Naturgewalten: Unwetter wie Gewitter mit Blitz und Donner, Sturm, starker Regen, Hagel und Naturkatastrophen wie Erdbeben.
– Unterbringung in einer Tierpension: Die ungewohnte Umgebung, die fremden Gerüche und vor allem die Trennung vom Besitzer und dem vertrauten Zuhause können großen Stress auslösen. Viele Hunde reagieren mit Durchfall oder Appetitlosigkeit bis hin zur Futterverweigerung, einige werden regelrecht apathisch.
– Besuch beim Tierarzt/ in der Tierklinik.
– Ausstellungen/ Messen: Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, warum diese Veranstaltungen in Großraumhallen mit bis zu 5.000 Besuchern täglich extrem anstrengend und stressig für Hunde sind. Reizüberflutung total, kombiniert mit nur sehr wenig Bewegungsmöglichkeit und oft stundenlanger vorhergehender und anschließender Autofahrt bei der An- und Abreise.
– Autofahrten: Viele Hunde sind durch die vorbeirasenden Eindrücke überfordert und kläffen ununterbrochen. Andere haben die Fahrt im Auto mit negativen Erlebnissen, wie zum Beispiel dem Tierarztbesuch oder der Trennung von Mutter, Wurfgeschwistern und der bisher vertrauten Umgebung bei Abholung vom Züchter, verknüpft und fürchten sich deshalb. Wieder anderen wird schlecht, und sie müssen ständig sabbern oder sich übergeben. Sie alle sind gestresst.
– Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit, zum Beispiel bei dauerhafter Ketten- oder Zwingerhaltung, aber auch reiner Gartenhaltung ohne Spaziergänge usw.
– Einsamkeit/ Langeweile: Auch Hunde leiden unter Einsamkeit und Langeweile, wenn sie zu oft und zu lange allein gelassen werden, keinen ausreichenden Familienanschluss oder einfach nichts zu tun haben.
– Falsche Zusammensetzung mehrerer Hunde in einem Haushalt: Hierbei muss es nicht unbedingt gleich zu ernsthaften Beißereien kommen. Schon das ständige Sich-aus-dem-Weg-Gehen und umeinander-Herumschleichen stresst enorm. Das ist ähnlich wie bei uns Menschen: Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihr Zuhause, den Ort, an den Sie sich zurückziehen und wo Sie sich wohl fühlen wollen, mit einem Menschen teilen, den Sie eigentlich nicht mögen und mit dem ständig ein unterschwelliger Konflikt brodelt. Keine angenehme Vorstellung. Aber viele Hundebesitzer bringen ihren Hund in genau diese Situation. Ohne auf Sympathien oder Antipathien zu achten, wird ein weiterer Hund in den Haushalt gebracht – und oftmals wird dies mit Stress-Symptomen wie Durchfall, Erbrechen, innerer Unruhe oder auch Apathie oder Aggression beantwortet.
– Zu viele oder gar keine Regeln im täglichen Zusammenleben. Beides kann den Hund überfordern. Ein Hund, der immer reglementiert wird, dem ständig vorgeschrieben wird, was er zu tun bzw. zu lassen hat, gerät schnell unter Stress. Aber auch ein Hund, dem keinerlei Spielregeln für das tägliche Zusammenleben mit seinen Menschen vorgegeben werden und dem somit die Sicherheit und Routine im Umgang mit uns fehlen, fühlt sich nicht wohl.

>>> WUFF STELLT VOR


Die Autorin

Clarissa von Reinhardt ist Begründerin des Hundeschulkonzeptes
„animal learn“, leitet seit 1993 ihre eigene Hundeschule. Die im In- und Ausland gefragte Referentin hat sich in ihrer Arbeit auf verhaltensauffällige Hunde spezialisiert. In ihrem neuesten Buch „Stress bei Hunden“ informieren Clarissa v. Reinhardt und die Pharmazeutin und Hundetrainerin Martina Nagel über die Ursachen und Folgen von Stress bei Hunden und geben Tipps, wie man seinem Vierbeiner hilft, das „innere Gleichgewicht“ wiederzufinden.
Martina Nagel, Clarissa v. Reinhardt: Stress bei Hunden, animal learn-Verlag. Siehe auch Buchrezension.

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