Chico, einem sog. „Listenhund“, fallen zwei Menschen zum Opfer. Einige Tage später die nächste schockierende Nachricht: Ein 7 Monate altes Baby wird vom Familienhund totgebissen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Man spricht von Rettung, Euthanasie oder lebenslangem Dahinvegetieren hinter Gittern. Ein angemessenes Reagieren auf eine Situation überfordert viele. Das, worüber nur am Rande gesprochen wird, ist das Agieren. Was kann man künftig tun, damit solche Vorfälle minimiert werden?
Bissprävention ist ein Thema, mit dem sich jeder Hundehalter auseinandergesetzt haben sollte, denn 80% der Beißunfälle passieren mit dem eigenen oder einem bekannten Hund (Quelle: www.hundehalterverband.at/studie-erstellt-risiko-profil-von-hunderassen).
Warum ist das so? Wir leben in einer Wohngemeinschaft mit einem Tier, welches wir oft nicht verstehen, erwarten aber, dass die Kommunikation immer reibungslos verläuft. Dass das nicht funktioniert, zeigen die Beißstatistiken sehr eindrücklich. Das Lesen und Verstehen der Körpersprache gehört also zu der absoluten Basis einer gesunden Mensch-Hund-Beziehung. In der Bissprävention – vor allem, wenn Kinder und Hunde in einer Familie zusammenleben – gibt es einige wichtige Voraussetzungen, die die Gefahr einer Beißattacke deutlich reduzieren. Das sind neben klaren Regeln für Zwei- und Vierbeiner das Verstehen der Körpersprache und ein durchdachtes Management, wie Kindergitter, Ruhezone und Co. zu Hause.
Kinder lieben ihre vierbeinigen Freunde – im Grunde eine wunderbare Basis für eine enge Freundschaft, die aber ein großes Gefahrenpotenzial birgt, denn Kinder verhalten sich oft distanzlos Hunden gegenüber. Sie legen sich auf ihren Hund, ziehen an den Ohren oder am Schwanz. Kinder können nicht einschätzen, ob es dem Hund dabei gut geht, und genau da beginnt Bissprävention. Kinder an die Hand zu nehmen und mit ihnen gemeinsam zu entdecken, wie der Hund „spricht“, welche Anzeichen des Hundes darauf hindeuten, dass er mag, wie das Kind interagiert – oder ob er es einfach nur über sich ergehen lässt und ihm zunehmend unwohler wird – , ist ein erster Schritt für ein besseres Verständnis. Oft entdecken die Eltern selbst Neues, das sie vorher in der Hektik des Alltags gar nicht wahrgenommen haben.
Unsere Hunde sind sehr geduldig mit uns „Hundesprachen-Legasthenikern“. Ich bin der Überzeugung, dass sie sich innerlich oft an den Kopf fassen und sich ihren Teil denken, wenn sie zehn Mal hintereinander freundlich gebeten haben, sie in Ruhe zu lassen und keiner macht Anstalten, ihnen aus der unangenehmen Lage zu helfen. Was bleibt einem Hund dann? Er muss deutlicher werden – er beginnt Drohverhalten zu zeigen. Zähnefletschen, ein fixierender Blick und Knurren sind die deutlichsten Anzeichen. Die Halter sind oft erschrocken und untersagen dem Hund dieses Verhalten, denn es ist augenscheinlich gefährlich. Nur, was passiert, wenn man dem Hund diese Möglichkeit der Kommunikation nimmt? Er wird dieses letzte Warnen überspringen und das nächste Mal sofort zubeißen – genau dann liest man die Schlagzeile „Hund beißt Kind aus dem Nichts“. Deswegen ist es wichtig, wenn ein Hund droht, nicht zu strafen, sondern zu überlegen, warum er es überhaupt nötig hat, so deutlich zu werden. Bei einem Hund, der seiner Familie gegenüber Drohverhalten zeigt – den Menschen, die er liebt – steht die Ampel auf dunkelrot. Es muss mit einem Trainer analysiert werden, was zu diesem Verhalten geführt hat, und sofortige Managementmaßnahmen getroffen werden. D.h. den Hund mit Maulkorb ausstatten, ihn mit Kindergittern separieren, eine Hausleine nutzen – die Möglichkeiten sind vielfältig. Ich finde den Vergleich zu einem Menschen, der wütend ist, ganz treffend. Wenn uns die Möglichkeit der verbalen Lautäußerung genommen wird, wie sollen wir dann kommunizieren, außer über unseren Körper?
Was sind häufige Auslöser für eine Beißattacke?
Wir dürfen nicht vergessen, Hunde sind und bleiben Raubtiere. Sie verteidigen ihre Ressourcen, sie haben ein extrem starkes Gebiss, welches zum Kauen von Knochen geeignet ist, und setzen dieses auch ein, wenn ihnen keine andere Wahl bleibt. Bevor diese letzte Wahl getroffen wird, versuchen sie es in der Regel aber friedlich und deeskalierend zu lösen. Unsere Hunde wollen nicht die Weltherrschaft. Sie haben Bedürfnisse, um die man wissen sollte und für die sie naturgegeben auch einstehen. Dazu zählt das ungestörte Fressen. Auch ein Hund, der scheinbar keine Schmerzen damit hat, wenn man ihm den Napf während des Fütterns wegnimmt, fühlt sich gestört. Warum? Er mag es nicht, dass man ihm seine Ressource wegnimmt, denn in seiner Welt ist sie für ihn überlebenswichtig. Er hat nur gelernt, sich zu kontrollieren und nicht seinem Impuls nachzugeben, sein Fressen zu verteidigen. Diese Tatsache sollte man sich immer vor Augen führen, wenn man einem Hund eine für ihn wichtige Ressource abnimmt. Dabei ist darauf zu achten, dass wir nicht mit unseren Maßstäben die Wertigkeit einer Ressource messen, sondern aus Sicht des Hundes. Für uns mag der Zergel (eine Art Spielzeug-Tau) nur eines von vielen Spielzeugen sein, für ihn kann er aber die Welt bedeuten, entsprechend intensiv kann dann auch die Reaktion ausfallen.
Er kann sich also kontrollieren, aber es kostet ihn Impulskontrolle. Wenn mehrere solcher Situationen zusammenkommen – weil Besuch da ist und das Spielzeug nimmt oder die Kinder ihm den Knochen wegnehmen, den er gerade auf seinen Platz getragen hat – dann ist die Chance hoch, dass ihm irgendwann der Geduldsfaden reißt.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund ist die Gesundheit des Hundes. Viele Hunde, die in Beißereien verwickelt waren, hatten akute Schmerzen im Bewegungsapparat oder andere gesundheitliche Probleme, die den Hund einschränken. Wir kennen es von uns. Mit Kopfschmerzen reagieren wir deutlich empfindlicher auf Stress und äußere Reize. Es fehlt dann oft nicht mehr viel, bis wir explodieren, weil diese Schmerzen zermürben. Deswegen ist eine gründliche Untersuchung beim Tierarzt sehr wichtig. Unsere Hunde sind Meister im Überspielen von Schmerzen – das hat, evolutionär gesehen, auch seine Richtigkeit. Verletzte Hunde sind angreifbare Hunde. Im Zusammenleben mit uns Menschen ist dieses Überspielen aber von Nachteil, weil es dazu führen kann, dass ein Hund die Geduld verliert und dann ein Verhalten zeigt, das nicht verhältnismäßig zur Situation ist. Das kann von einer Leinenaggression bis zum Angreifen von Passanten führen.
Kind bedrängt Hund
Wenn man auf Videoportalen die Schlagwörter Kind und Hund eingibt, erscheinen unzählige Videos von Kindern, die ihre Hunde massiv bedrängen. Viele Eltern empfinden diese Videos als süß und ermuntern ihre Kinder noch, sich auf den Hund zu legen oder ihn fest zu umarmen. Es gibt Hunde, die mit dieser Art der Nähe gut umgehen können. Die meisten können es aber nicht. Auch hier müssen wir uns wieder der Natur des Hundes bewusst werden – ein Raubtier kennt so einen engen, einschränkenden Körperkontakt nicht. Die erste, unwillkürliche Reaktion ist in der Regel die Flucht. Oft ist das aber nicht möglich, weil das Kind den Hund so blockiert, dass er sich nicht bewegen kann – und da kommt die Körpersprache ins Spiel. Bereits in den ersten Sekunden solcher Videos kann man deutlich erkennen, wie unwohl sich viele dieser Hunde fühlen. Schlecken über den Fang, Hecheln, Kopfabwenden, die sogenannten Walaugen (aufgerissene Augen, in denen man das Weiß sieht), eine lange Maulspalte sind alles freundliche, aber deutliche Anzeichen für einen gestressten Hund, dem diese Nähe zu viel ist.
Wird das Kind trotz dieser Anzeichen nicht aus der Situation genommen, bleibt dem Hund nichts anderes übrig, als noch deutlicher zu werden – bis hin zum Zähnefletschen und, als letzte Instanz, dem Biss. Ein Hund kann viel aushalten und passt sich, wider seine Natur, dem Leben von uns Menschen an. Wir haben die Verantwortung für ein Lebewesen übernommen und sollten diese auch in Gänze übernehmen, indem wir Sorge tragen, dass der Hund nicht unter Dauerstress steht, weil ihn keiner versteht.
Die Vergangenheit eines Hundes und wenn er „plötzlich“ beißt.
Einen Tierheimhund zu sich zu holen, will gut überlegt sein – insbesondere, wenn Kinder im Haus sind, denn meist ist nicht gesichert, welche Geschichte dieser Hund mitbringt – ein Überraschungs-Ei eben. In den meisten Fällen integriert sich ein „Secondhand-Hund“ problemlos in seine Familie. Nichtsdestotrotz besteht aber die Möglichkeit, dass er unschöne Erfahrungen machen musste und, nachdem er sich in seiner neuen Familie eingelebt hat, plötzlich Verhaltensweisen an den Tag legt, mit denen die neue Familie nicht gerechnet hat. Das kann auch Aggressionsverhalten sein.
Wir Menschen entwickeln Strategien, mit für uns gefährlichen oder stressigen Situationen umzugehen. Die Einen ziehen sich in Konfliktsituationen zurück, die Anderen beginnen zu schreien oder gar körperlich zu werden. Wenn wir mit dieser Strategie Erfolg haben, werden wir sie öfter nutzen – ein erlerntes Verhalten also. Genauso entwickeln sich Strategien beim Hund, sogenannte Coping-Strategien. Wenn er in eine Situation gerät, die ihn überfordert, wird – je nach Naturell – der eine Hund die Flucht ergreifen, sich zusammenkauern und der andere eben ins Aggressionsverhalten fallen und angreifen. Das Problem ist, wenn er mit dieser Strategie Erfolg hatte, ist die Chance hoch, dass er dieses Verhalten wieder zeigt – und das ist die große Gefahr bei Hunden, die bereits gebissen oder eine ungeklärte Tierheim-Vita haben. Die Hemmschwelle, nochmals zu beißen ist deutlich niedriger als bei einem Hund, der diese Strategie nicht für sich entdeckt hat. Wenn ein Hund also gelernt hat: „Ich beiße, dann geht das Monster von mir weg!“ ist das in seiner Welt eine sinnvolle Möglichkeit, sich Platz zu schaffen – für uns Menschen ist das aber mit fatalen Konsequenzen verbunden, denn sie richtet unter Umständen großen Schaden an. Einen Hund, der so vorbelastet ist, zu „resozialisieren“ ist ein gefährlicher und langwieriger Prozess, denn ein Hund muss lernen, ein alternatives Verhalten zu nutzen, um Konfliktsituationen zu lösen. Dazu gehört viel Sach- und Fachverstand, Geduld und ein respektvoller Umgang.
Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Hunde niemals aus dem „Nichts“ beißen. Der Biss hat immer eine Geschichte, die der Hund erzählt hat und die wir, weil wir partiell taub sind, nicht gehört haben. Besser „hinzuhören“ und zu sehen, wie er spricht, ist nicht nur spannend, sondern schweißt auch zusammen. Hunde sind überaus kommunikativ – wenn wir die Fremdsprache „Hund“ lernen, können wir in einen Dialog mit dem Hund gehen und das ist der erste und wichtigste Schritt in die Bissprävention!
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