Von der Psyche unserer Hunde – Wesen und Struktur, 2. Teil

Von Gerald F. Rubisch

Im Zusammenleben mit unseren ­Hunden sind Gefühle und ­Emotionen gar nicht wegzudenken. Sie sind al­gegenwärtige und wichtige Ebenen der Kommunikation. Angesichts dessen muss man sich wundern, dass wir ihnen so wenig Beachtung schenken. Das Verhalten unserer Hunde wird maßgeblich von Gefühlen und Emotionen bestimmt. So auch die Beziehung zwischen ihnen und uns Menschen. Im ersten Teil ­dieses Artikels ging es um die Seele und das „Innenleben" der Hunde. In diesem ­zweiten und letzten Teil geht der Autor auf die hundliche Psyche im Detail ein.

Wenn sich unsere Hunde in unserer Gesellschaft wohlfühlen, sind Verhaltensauf­fälligkeiten passé, es sei denn, wir haben es mit körperlichen ­Ursachen zu tun. Fühlen sie sich unwohl, ­kommunizieren sie ihren gegenwärtigen psychischen Zustand gegebenenfalls durch Problemverhalten. Schon deshalb sollten wir uns die Psyche unserer Hunde etwas näher ansehen und lernen, auch in der Beziehung bewusst mit ihr umzugehen.

Gefühle und Emotionen
Durch die absolute Abhängigkeit unserer Hunde von uns Menschen können wir die Voraussetzungen erkennen, ob sie sich in der ­Beziehung zu uns wohlfühlen können oder nicht. Für eine gesunde Entwicklung und die Möglichkeit überhaupt, sich auch ­sozialverträglich zu verhalten, ­brauchen sie ein sicheres Gefühl in ihrer Familie. Und dies ist nur dann möglich, wenn ein guter, sicherer, transparenter, auch emotionaler ­stabiler Kontakt besteht. Sicher können wir auf Seiten des Hundes nicht von einem Bewusstsein wie bei uns Menschen ausgehen und möglicherweise auch nicht von der Fähigkeit, ihre soziale Situation zu ­reflektieren. Andererseits bemerken sie aber zweifel­los, dass wir irgendwie Dreh- und Angelpunkt in ihrem Leben sind.

Erziehung alleine reicht nicht aus
Die Gründe für das Verhalten ­unserer Hunde sind vielschichtig und ­komplex. Und hin und wieder drängt sich der Gedanke auf, dass wir unsere ­Hunde Methoden unterordnen ­wollen und dabei ihre individuelle ­Situation und Persönlichkeit über­sehen. Ihr Ver­halten können wir nicht alleine mit ihrem wölfischen Erbe erklären. Schließlich formt sich ihr psychischer Zustand innerhalb ihres familiären Lebensraums, auch wenn er sich mit seinem biologischen Repertoire Ausdruck verschafft. Da der natür­liche Lebensraum unserer Hunde ihre menschliche Familie ist, können wir ihre Psyche und die Gründe ihres Verhaltens auch nur in Verbindung mit der Beziehung zu uns erklären und erfahren.

Die Psyche unserer Hunde
Für die Struktur der Psyche unserer Hunde müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Inspiriert durch die Transaktionsanalyse, unter anderem eine Theorie von inneren und äußeren Kommunikationsprozessen und Persönlichkeitsbildung, adaptieren wir hier dieses Modell auf unsere Hunde. Wohlbewusst, dass die Qualitäten und Bedeutungen der Inhalte sich von den unsrigen unterscheiden. Wir werden es also nicht Eins-zu-eins übernehmen, sondern hundegerecht aufarbeiten. Der Begründer der Transaktionsanalyse, Eric Berne, ein amerikanischer Psychiater, sprach von Ich-Zuständen, wenn es darum ging, den momentanen psychischen Zustand und seine Funktion zu beschreiben. Und er bediente sich anfänglich dreier Begriffen, derer wir uns bedienen wollen:

■ Archeopsyche
■ Exteropsyche
■ Neopsyche

Die Archeopsyche
Die Archeopsyche ist der Teil der Persönlichkeit unseres Hundes, der sowohl die biologischen Informationen, aber auch die Informationen der psychischen Entwicklung ­beinhaltet. Zusammengefasst geht es hier sowohl um sein wölfisches Erbe, als auch ­spezifisch um seine genetische Disposition und um seine Bedürfnisse innerhalb der Familie.

Beispielsweise:
■ Gefühl der Zugehörigkeit
■ biologische und emotionale ­Sicherheit
■ physiologische Bedürfnisse, z.B. Nahrung
■ Bedürfnis nach Körperkontakt

Alle Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht werden, finden wir hier wieder und sie werden auch je nach Situation durch sein Verhalten ausgedrückt. Dies ist die erste psychische Instanz, auf die alle anderen aufbauen. Sie ist von Anfang an da. Deshalb beinhaltet sie all die Informationen, die das Überleben sichern.

Beispiel
Wenn Hunde keine psychischen ­Grenzen erfahren durften und damit wenig Gefühl nach Sicherheit, so können sie sich ihrer biologischen Möglichkeit des Jagens bedienen. Das Jagen an sich stellt also nicht die eigentliche Ursache des Verhaltens dar, es geht also nicht primär um eine ­biologische Motivation, wie es manchmal aus ­seiner wölfischen ­Herkunft als normales Verhalten erklärt wird, sondern wird Mittel zum Zweck, seinem Mangel an Grenzen Ausdruck zu verleihen. Demnach haben wir es hier mit einer Beziehungs- und Kommunikationsstörung zu tun und müssen uns fragen, was unser Hund braucht, um nicht mehr auf dieses Verhalten zurückgreifen zu müssen. Allein eine Verhaltenskorrektur greift dabei zu kurz, wenn die auslösende Ursache das Bedürfnis nach Sicherheit ist, was unser Hund durch Jagen kommuniziert. Denn Erziehung beginnt und endet nicht in den Trainings- und Übungsstunden, sondern ist das täglich Brot auch innerhalb der Familie. Generell können wir sagen, dass, wenn unser Hund sich in der ­Beziehung nicht existentiell sicher fühlt, er auf sein wölfisches Erbe zurückgreift, auf ererbte Informa­tionen aus seiner Archeopsyche. Die Aufgabe, die psychische Entwicklung näher zu formulieren, liegt dabei noch vor uns. Da das Jagen als wölfisches Erbe Teil der Archeopsyche ist, wird es existentiell. Dies erklärt, weshalb wir uns häufig schwer tun, diesem Verhalten Herr zu werden.

Die Archeopsyche als existentielles Reservoir ist in der ­Kommunikation vorherrschend. Sie überdeckt sowohl die Exteropsyche als auch die Neopsyche. Dies bedeutet, dass sich der Hund vorwiegend aus seiner existentiellen Ebene der Psyche heraus verhält. Signale von uns Menschen werden nicht oder nur teilweise wahrgenommen. ­Problemverhalten aus dieser Instanz ist schwer zu begegnen, aber nicht unmöglich.

Die Exteropsyche
Im psychischen Speicher der Extero­psyche sind alle Informationen enthalten, die von außen kommen, im Gegensatz zu denen, die im Hund bereits vorhanden sind (Archeopsyche). Hier geht es in der Folge um Regeln und Normen, wie er sich verhalten soll. Diese vermitteln wir ihm im täglichen Umgang und durch die Erziehung. Die Art und Weise, ob zum Beispiel Erziehungsmethoden fürsorglich und beziehungsorientiert sind, ob sie die Bedürfnisse unseres Hundes erfüllen, werden dagegen in der Archeopsyche verarbeitet. Ein Beispiel soll das verdeutlichen:

Wenn unser Hund sich gegenüber Artgenossen aggressiv verhält, kann dies unterschiedliche Gründe haben. Greifen wir also zwei mögliche Ursachen heraus. Es kann sein, dass er in seiner sensiblen Zeit der Entwicklung schlechte Erfahrungen machte oder gar um seine Ressourcen, um sein Überleben kämpfen musste. Dann finden wir sein primäres Problem eher auf der existentiellen Ebene der Archeopsyche. Die Beziehung zu seinen Menschen, um Vertrauen aufzubauen, hätte dann für eine folgende Verhaltenskorrektur oberste Priorität. Geht es aber darum, dass er diese Grenze bis dato einfach noch nicht kennenlernte, weil wir vielleicht die Notwendigkeit und das ­Bedürfnis nicht erkannten, würden wir die Ursache zunächst eher in der Exteropsyche finden. Die primäre Strategie bestünde dann darin, ihm die fehlenden Grenzen zu vermitteln. Natürlich stehen beide psychischen Instanzen in Verbindung und bilden mit der Neopsyche, die wir gleich ­besprechen werden, die Gesamtstruktur der ­Psyche und Persönlichkeit.

Hier herrscht die Exteropsyche des Hundes. Dies bedeutet, er ist vermutlich „überkonditioniert" und es wird zu viel Folgsamkeit erwartet. Die Exteropsyche überschattet die Archeo­psyche. Die Bedürfnisse werden vernachlässigt.

Die Neopsyche
Die Neopsyche beinhaltet adäquates Verhalten. Sie ist sozusagen der Mittler zwischen Archeo- und Exteropsyche. Wenn sich die beiden Letzteren in Balance befinden, ist die Möglichkeit innerer wie äußerer Konflikte am geringsten und unser Hund kann sich im Vertrauen zu uns entsprechend sozial verträglich verhalten. Ist aber einer der beiden prominent und überaktiv (Grafik 1 und 2), verringern sich seine Möglichkeiten, sich in herausfordernden Situationen sicher und selbstbewusst zu verhalten und mit etwaigen Konflikten gut umzugehen. Ist die Archeo­psyche die vorherrschende Instanz zu handeln, geht es in allererster Linie meist um existentielle Themen, denen nur mit einem hohen Aufwand begegnet werden kann. Steht die Extero­psyche im Vordergrund, geht es in aller Regel primär um fehlende Grenzen im Alltag. Die existentiellen Bedürfnisse sind zumindest zum Teil gestillt.

Nun haben wir vorwiegend von Verhaltensauffälligkeiten gesprochen. In den jeweiligen „Psychen" sind aber natürlich auch die „normalen" Erfahrungen gesammelt. So finden wir in der Archeopsyche alle Entwicklungsinformationen und in der Exteropsyche alle auch fürsorglichen Erfahrungen von außen vor. Um nun die Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse zu identifizieren, tun wir gut daran, uns künftig näher mit den Ich-Zuständen zu beschäftigen. Also wann welche Zustände auftreten, in welchen Situationen und aus welchen Gründen.

Biologie und Psychologie
Wenn auch Problemverhalten der kommunikative Ausdruck von Bedürfnissen ist, kommen wir über kurz oder lang um eine Gesamtbetrachtung nicht drum herum. Während sich die Biologie um das sichtbare und quantifizierbare Verhalten kümmert und ihre Schlüsse daraus zieht, sind die innere Erlebniswelt und deren Ausdruck Themen der Psychologie. Beides zusammen stärkt das Verständnis für unsere Hunde und deren Beziehungen zu uns Menschen. Das Verhalten unserer Hunde hat zwar seine Entsprechung in ihrem biologischen Erbe, kann aber nur in Verbindung mit seinem psychischen Zustand und der familiären Situation erklärt werden.

Der Nutzen
Hinter jedem Verhalten, auch hinter jedem Problemverhalten, steckt ein Bedürfnis. Und jedes Verhalten ist Kommunikation innerhalb der Beziehung. Unsere Aufgabe besteht nun darin, einmal die dahinter steckenden Bedürfnisse zu identifizieren und festzustellen, aus welchem psychischen Speicher heraus kommuniziert wird. Dann wissen wir, was unser Hund braucht, damit er sich gesund entwickeln kann, und wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, was nötig ist, dass er kein Problemverhalten mehr zeigen muss. Auf der anderen Seite bringen wir auch mehr Transparenz in die Beziehung zu unseren Hunden, da auch wir psychische Speicher besitzen, die allerdings inhaltlich und von der Bedeutung her anders geartet sind. Leider können wir uns in diesem Rahmen nicht damit auseinandersetzen, dies werde ich an anderer Stelle tun. Ein weiterer Vorteil ist die Konzentration auf das psychische Gefüge der Familie. Wir sollten uns nicht auf den wölfischen Erklärungen ausruhen, sondern sie eher als Verhaltensmöglichkeiten betrachten. Mit der praktischen Konsequenz der sozialen Situation unserer Hunde und die damit verbundene Anpassung stehen wir hier vor einem Paradigmenwechsel. Wir bekommen Einblick in den inneren Dialog, denn unsere Hunde denken, fühlen, wägen ab und treffen ihre Entscheidungen. Nur wenn wir eine balancierte Psyche vorfinden, ist dies auch möglich. Ansonsten handeln sie im wahrsten Sinne des Wortes unbedacht, überkonditioniert und schließen uns situativ aus der Beziehung aus.

Wir sind es, die dem Hund eine gesunde Entwicklung bieten können. Wir liefern ihm das Rüstzeug für eine gute Beziehung, die es ihm ermöglicht seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Umso mehr wird dabei an unsere Verantwortung in Erziehung und Psychologie appelliert. Die hier dargestellte Struktur und innere psychische Dynamik können wir hier nur ansatzweise darstellen, da die Komplexität der Themen an und für sich mehr Raum in Anspruch nimmt als uns hier zur Verfügung steht. Aber ich denke, wir erhalten schon jetzt einen Einblick davon, dass unsere Hunde und die jeweiligen Beziehungen sehr individuell und persönlich sind und dass es keinen Sinn macht, alle und alles über einen Kamm zu scheren. Insofern können wir nun weiter daran arbeiten, unseren Hunden mehr und mehr gerecht zu werden. So gibt es noch viel und spannende Arbeit, was die psychische Entwicklung betrifft, die Einordnung von abweichendem Verhalten (Verhaltensauffälligkeiten) und der Persönlichkeiten, um nur einige Beispiele zu nennen. Jeder Hundehalter sollte damit Experte für die Beziehung zu seinem Hund werden.

Hintergrund
Die Psychologie unserer Hunde ist wichtig bei Fragen wie:

■ Wer ist mein Hund und wie kann ich ihm begegnen?
■ Weshalb ist er so, wie er ist?
■ Was sind seine Bedürfnisse?
■ Weshalb habe ich solche Probleme mit ihm?
■ Kann ich überhaupt etwas verändern?
■ Weshalb fruchtet die Erziehung nicht?
■ Weshalb schleichen sich nach erfolgreichen Stunden in der Hundeschule die alten Verhaltensmuster wieder ein?

Aber auch:

■ Was kann ich für meinen Hund tun?
■ Wie kann ich seinen Bedürfnissen gerecht werden?
■ Was kann ich tun, damit sich mein Hund wohl fühlt?
■ Was braucht er von mir, dass er sich sicher und aufgehoben fühlen kann?

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