Vom Zusammenleben mit »triebigen« Hunden

Von Claudia Hoetzendorfer

Es gibt Begriffe, die setzen sich im Sprachgebrauch so fest, dass sie immer wieder auftauchen, selbst wenn sie sachlich falsch sind. Trieb ist so einer. Da ist dann von Jagd-, Spiel- oder Hütetrieb die Rede. Aber was genau ist überhaupt ein Trieb? Warum wird er nach wie vor in der Hundeszene verwendet, obwohl er längst überholt ist? Und wie lebt es sich denn nun mit einem »triebigen« Hund?

Neulich auf der Hunderunde: Die Nase des Retrievers hat die Witterung schon lange aufgenommen. Jetzt sind seine Ohren gespitzt und die Augen verfolgen eine Ente, die aufreizend langsam nur wenige Meter vom Ufer entfernt im Wasser dümpelt. Mit einigen Sprüngen könnte es klappen. Der Goldi läuft los. Das Federvieh ist schließlich zum Greifen nah. Da ist plötzlich ein Pfiff zu hören. Abbruch! Das war es dann wohl mit dem Jagdglück für heute. Der junge Rüde scheint kurz der Aufforderung seiner Halterin zu folgen und an ihre Seite zu kommen, dreht sich dann aber um und prescht ins Wasser … »Mist, da war der Jagdtrieb doch wieder zu groß«, entschuldigt sich sein Frauchen. Ihr Vierbeiner, die Ohren für ihren Rückruf auf Durchzug gestellt, paddelt derweil der Ente hinterher, die laut protestierend aufflattert und sich schließlich in Sicherheit bringen kann.

Alles Trieb oder?
Die Halterin sagte, der Jagdtrieb sei wohl einfach zu stark gewesen. Da ist er wieder der Begriff »Trieb«. Ein Blick ins Psychologie-Lexikon klärt auf: Gemeint sei »ein seelischer und/oder körperlicher Antrieb«, der als Drang erlebt werde. Triebe führten ferner dazu, dass ein Reiz gesucht wird und damit zielgerichtetes Handeln verbunden sei, diesen inneren (!) Trieb zu befriedigen. Das heißt, Trieb bedeutet Spannung, die sich nur lösen lässt, wenn eine bestimmte Handlung ausgeführt wird. Klingt zunächst einmal schlüssig. Der Goldi aus obigem Beispiel hätte demnach einen ausgeprägten Jagdtrieb. Der Reiz ist die Ente im Wasser, die eine Jagdsequenz bei ihm auslöst, um die durch den inneren Antrieb aufgebaute Spannung zu lösen und dem Rüden Befriedigung zu verschaffen. Jagdverhalten ist aber weder ein Bedürfnis noch geschieht es aus einem inneren Trieb heraus. Es ist ein Verhaltensmuster, das angeboren ist und durch einen Reiz – zum Beispiel die paddelnde Ente – ausgelöst wird und tatsächlich eine lebenswichtige Funktion erfüllt: Beute zu machen, um nicht zu verhungern. Im Spiel von Welpen und Junghunden werden diese Verhaltensweisen übrigens geübt. Wenn erwachsene Hunde spielen, handelt es sich mehr um erlerntes Verhalten. Überlebenswichtig ist das Training bestimmter Verhaltensmuster für sie nicht mehr.

Wer hat’s erfunden?
Den Begriff Trieb haben verschiedene Wissenschaftler in die Forschung eingebracht und mit Theorien verbunden. Neben Freud, Jung und Adler in der Humanpsychologie, wendeten ihn unter anderem auch Charles Darwin und für die modernere Zeit relevanter, Konrad Lorenz bei ihren Tierbeobachtungen an. Genau definiert wurde der Begriff schon deshalb nicht, weil jeder Theoretiker seine eigenen Vorstellungen dazu hatte. Lorenz beispielsweise beschrieb Triebe immer dann, wenn es um Beobachtungen ging, die er nicht erklären konnte. Es musste sich um etwas Naturgegebenes handeln, also um etwas, das nicht erlernt wird, sondern im Prinzip genetisch verankert und unveränderbar da ist. In diesem Zusammenhang taucht dann ein weiterer Begriff auf: Instinkt, der komplexes Verhalten erklären soll, das von Geburt an vorhanden ist.

Mit dem Sprung ins neue Millennium wurden diese Sichtweisen widerlegt. Allerdings konnte Konrad Lorenz zu seiner Zeit noch nichts über Epigenetik wissen und stellte daher auch keine wirklich zielführenden Rückschlüsse aus dem Zusammenwirken zwischen genetischen und neurobiologischen Abläufen her. 2008 konnten Forscher an der US-University School of Medicine in Winston-Salem im Tierversuch nachweisen, dass die Ausbildung von Instinkten an eine stabile Umgebung gebunden ist, die bestimmte Schlüsselreize zur Verfügung stellt und dass die vorgeburtliche Phase dabei auch eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Gleichzeitig kommen erlerntem Verhalten und genetischen Grundlagen, die sich im Verlauf mehrerer Generationen einer Spezies entwickelt haben, eine Bedeutung zu.

Von Jägern, Hütern und Beschützern
Hier wird es für Züchter interessant. Denn sie greifen durch die Auswahl der Eigenschaften, die ihre Rüden und Hündinnen haben, aktiv in die Entwicklungen einer Zuchtlinie ein. Etwa indem sie jagdlich sehr motivierte Tiere für die Verpaarung wählen, wenn sie diese Eigenschaft in der folgenden Generation erhalten wollen oder sogar hoffen noch weiter ausprägen zu können. Die Vierbeiner, die mehrheitlich mit ihren Menschen zusammenleben, haben allerdings längst keine Aufgaben mehr, für die sie ursprünglich einmal gedacht waren. Welcher Border Collie hat heute noch eine Schafherde zu bewachen und welcher Weimaraner oder Retriever begleitet seine Menschen noch regelmäßig zur Jagd? Die Glücklicheren unter ihnen bekommen die Möglichkeit einer adäquaten Ersatzbeschäftigung, die ihren besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten entspricht, wie beispielsweise Mantrailing und Fährtenarbeit für Jagdhunde oder Agility und andere Geschicklichkeitstrainings für Treib- und Hütehunde.

»Triebstau« oder Dogs without Jobs …
Machen wir uns nichts vor. Noch nie zuvor gab es so viele Informationen und Möglichkeiten, Hunde artgerecht und vor allem aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zu beschäftigen. Gleichzeitig war die Zahl der verzweifelten Zweibeiner, die mit ihren jagenden Terriern, ihren beschützenden Kangals und völlig überdrehten Aussies überfordert sind, so hoch. Konrad Lorenz hätte da von »Triebstau« gesprochen und damit gemeint, dass die Vierbeiner so viel Dampf im Kessel hätten, dass sich dieser irgendwann wohl explosionsartig entladen würde. Richtig gelegen hätte er mit der Annahme, dass die Hunde sich eine Art Ersatzbeschäftigung suchen, etwa wenn Border Collies ihrem »Hütetrieb« nachkommen, indem sie statt einer Schafherde die Kinder einer Familie umkreisen oder wenn ein Hovawart niemanden mehr in die Wohnung seiner Halter lässt, weil sein »Schutz- oder Territorialtrieb« so stark ausgeprägt ist. Andere verlegen sich auf die »Umdekorierung« der Wohnung von Frauchen und Herrchen. Doch hat all das nichts mit »Triebstau« zu tun. Denn Lorenz ging bei diesem theoretischen Ansatz davon aus, dass der innere Trieb immer latent da und damit jederzeit abrufbar ist. Wird dieser Trieb nicht ausgelebt, staut sich die Energie im Tier derart an, dass diese sich nicht nur in Unruhe, Nervosität oder Aggression äußert, sondern auch dazu führt, dass die Schwelle für den auslösenden Reiz herabsinkt und die Befriedigung des vermeintlichen Triebes immer schneller erfolgen muss. Hier stellt sich dann allerdings das ein, was als Sucht bezeichnet wird. Halter sogenannter »Ball-Junkies« kennen dieses Phänomen. Sie wurden durch ständiges Bällchen-Werfen so konditioniert, dass sie nur noch auf diese Beschäftigung fixiert sind und völlig überdrehen, wenn Frauchen das Objekt ihrer Begierde wieder in die Tasche steckt.

Der Goldi im Eingangsbeispiel darf die Ente nicht jagen. In ihm staut sich immer mehr Energie (oder Frust) an, die sich durch Ersatzhandlungen, wie etwa Buddeln, abbaut. Die moderne Forschung würde hier eher von Übersprung sprechen und anstelle des Triebes, den Lorenz übrigens nie belegen konnte, den Begriff Verhalten verwenden. Denn in der Natur geschieht nichts ohne Grund. Würde es sich so verhalten, wie Lorenz es sich vorstellte, der Trieb mit Energie gleichsetzte, wäre dies alles andere als effizient. Schließlich würde kein erwachsenes Tier einfach nur so zum Spaß jagen gehen.

Energieeffizienz
Hunger und Durst sind Auslöser, die einen Organismus am Leben erhalten. Ziel einer Handlung muss es also sein, diese zu stillen. Entsprechend wird Energie aufgewendet es zu erreichen, beispielsweise indem sich ein Vierbeiner auf die Jagd macht. Eine entscheidende Aufgabe übernimmt dabei das zentrale Nervensystem (ZNS). Herzschlag und Atmung werden schneller. Der Körper wird besser durchblutet. Nimmt ein Hund Witterung auf und sieht schließlich ein Kaninchen oder ein Reh, folgt ein in mehreren Sequenzen ablaufendes Verhalten, das entweder ein Ende findet, indem er Beute machen konnte oder diese ihm entwischt. Die gesteigerte Energie muss jetzt irgendwie abgebaut werden. Das geschieht in der Regel durch Übersprungshandlungen wie Kratzen, Gähnen, das bereits erwähnte Buddeln oder scheinbar zielloses Umherlaufen etc. Danach verringert sich das Energieniveau im Organismus wieder auf ein normales Level. Atmung und Herzschlag verlangsamen sich, der Blutdruck sinkt und es ist buchstäblich erst einmal die Luft raus. Ähnliches Verhalten kann man auch bei Hunden beobachten, die nach einem wilden Spiel erst einmal eine Pause einlegen oder nur noch langsam neben ihren Menschen her traben. Würde hier die Energie immer noch weiter fließen, wäre sie verschwendet und der Organismus müsste ständig auf Hochtouren laufen, also auch in den vermeintlichen Ruhephasen. Das wäre nicht ökonomisch. Zudem ließ Konrad Lorenz bei seinen Überlegungen zum Triebstau außer Acht, dass Energie für alles aufgewendet werden muss, dazu gehören auch Paarung, Flucht oder Kampf.

Ein Tier, das flieht, braucht alles, was der Körper an Energie aufbringen kann. Bliebe das Level immer gleich, könnte es ja ewig weiterlaufen. Aber auch hier fährt das System erst einmal hoch, Blutdruck und Herzfrequenz steigen an, es werden vermehrt Stresshormone wie die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. In solchen Situationen ist ein Lebewesen für nichts anderes mehr empfänglich oder zu anderen Handlungen in der Lage, bis die Energie verbraucht ist. In der Kynologie hat sich daher in den letzten Jahrzehnten der Begriff Verhalten als Ersatz für Trieb durchgesetzt. Es geht also um Jagd-, Spiel- oder Hüteverhalten.

Beschäftigen, aber richtig
Es ist kein Geheimnis, dass bestimmte Hunderassen immer mal wieder in Mode kommen. Mit dem Kinostart der Neuverfilmung des Klassikers »Lassie« wird es sicher auch wieder eine verstärkte Nachfrage nach Collies geben. Was diese Hunde brauchen, um sich rundum wohl zu fühlen, ist dabei leider vielfach nebensächlich. Damit sind dann die Probleme vorprogrammiert und so mancher unüberlegt angeschaffte Hund landet danach im Tierschutz. Im günstigsten Fall machen sich zukünftige Hundehalter vor der Anschaffung schlau über die Eigenschaften der Rasse, die sie sich ausgesucht haben. Oder – sofern es ein Mischling ist – welche Eigenschaften er mitbringen könnte.

Wenn es dann unbedingt ein Weimaraner, Border Collie oder Hovawart sein muss, dann sollten die Vierbeiner auch entsprechend ausgelastet werden. Das bedeutet Zeit investieren und fest im Alltag einplanen. Dabei muss es nicht jeden Tag das volle Programm sein. Gerade sehr agile Rassen wie eben Border Collies können dabei schnell ein hohes Energielevel erreichen und buchstäblich überdrehen. Weniger kann da durchaus mehr sein. Pausen und Ruhephasen sind ebenso wichtig wie, neben aller artgerechten Beschäftigung, den Hund auch einfach mal Hund sein zu lassen.

Beispiele aus der Praxis
Einen Husky kann man nicht glücklich machen, wenn er nur an der Leine den immer gleichen Weg um den Block laufen muss. Da bietet es sich an, ihn einfach mal einen Wagen ziehen zu lassen oder sich einem Verein anzuschließen, der zum ­Beispiel so genannte Sacco-Cart-Rennen veranstaltet. Sportlich aktive Menschen können mit ihrem Hund gemeinsame Touren unternehmen, zum Beispiel querfeldein oder verschiedene Wanderstrecken ausprobieren. Für die Blitzbirnen unter den Vierbeinern gibt es viele tolle Tricks, die man mit ihnen einstudieren kann. Zahlreiche Ratgeber und Online-­Tutorials geben dazu Tipps, auch für die Beschäftigung zu Hause, zum Beispiel mit Indoor-Parcours oder Dog-Dance. Inzwischen gibt es auch Agility-Zubehör für unterwegs. Wer sich nicht mit Stangen und Pylonen abschleppen möchte, kann beispielsweise auch einen Waldspaziergang zum abwechslungsreichen Abenteuer machen. Etwa, wenn sich gefällte Baumstämme zum Balancieren oder als Hürdenlauf anbieten. Um Bäume lässt es sich auch prima Slalom laufen. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Selbst in der Stadt ­bieten sich Poller für einen ­Slalom, Parkbänke zum Balancieren oder niedrige Begrenzungen als Hürden an.

Jagdhunde lassen sich mit Fährtenarbeit, Zielobjektsuche (ZOS) oder Mantrailing gut beschäftigen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten etwas zu unternehmen kann nicht nur Spaß machen, es bietet auch eine Möglichkeit des Austauschs. Wie kommen andere mit ihrem von Enten so faszinierten Retriever klar? Wo kann er beispielsweise einem Dummie hinterherschwimmen und im Wasser toben, ohne dass seinem Frauchen das Herz in die Hose rutscht, wenn doch mal eine vermeintliche Beute in sein Blickfeld gerät?

Ausgeglichene Hunde jagen, hüten oder beschützen weniger? Nein – so einfach ist es dann leider doch nicht. Natürlich behalten sie das für ihre Rasse typische Verhalten. Aber wer diese Eigenschaften kennt und seinem Vierbeiner die Möglichkeiten bietet, diese auch ausleben zu dürfen, wird einen zufriedenen Hund haben.

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