Stress beim Hund: Reaktionstypen und Stressfolgen

Von Sophie Strodtbeck

Die Einstellung zum Stress beim Hund variiert bei Hundehaltern zwischen zwei Extremen. Da gibt es zum Einen diejenigen, die nach dem Motto „Nur keinen Stress“ am liebsten ihren Hund vor jeder Aufregung und gar vor jeder schwierigen Situation bewahren möchten. Auf der anderen Seite findet man Hundehalter, die mit der Aussage „Da muss der jetzt durch“ den Hund – selbst wenn der panisch dreinschaut, zittert und hechelt – noch durch jede Aufregung schleppen.

Schon im Umgang mit dem ­eigenen Stress sind ­Menschen häufig sehr ­emotional und wenig informiert. Daher ist es ­dringend erforderlich, vor der ­genaueren Betrachtung des ­Themas im Bezug auf den Hund ein paar ­allgemeine Bemerkungen zum Stress zu machen. Das beginnt bereits mit der Frage, was Stress eigentlich ist. Vielfach wird dann auch noch von positivem und negativem Stress, von Eustress und Disstress gesprochen, und dann weiß gar niemand mehr, was eigentlich gemeint ist.

Was ist Stress?
Eine sehr gute und umfassende Stressdefinition gibt der britische Tierschutzforscher Donald Broom, wenn er sagt, „Stress findet dann statt, wenn die Anpassungsfähigkeit eines Tieres überfordert wird und dadurch das Tier auf lange Sicht Nachteile für Gesundheit oder Fortpflanzungsfähigkeit erleidet.“ Mit ­dieser Definition sind eine ganze Menge Missverständnisse aus­geschlossen. Hier gibt es dann auch keinen positiven und negativen Stress mehr, denn wenn jemand einen Herzinfarkt er­leidet, weil er gerade im Lotto gewonnen hat, ist er ebenso tot wie derjenige, der ihn erlitten hat, weil gerade sein Haus abgebrannt ist. Die Anpassungsfähigkeit über­fordern kann aber auch bedeuten, dass das Tier an sich unterfordert ist. Wer kennt nicht die Hunde, die aus Lange­weile und Reizarmut in Verhaltensstereotypien verfallen oder sonstige Auffälligkeiten zeigen bis zur Selbstverstümmelung. Oder diejenigen, die dann als Reaktion auf die mangelnden Umweltreize einfach nur noch untätig herumliegen und gar nichts tun. Auch das sind Stresserscheinungen.
 
Eine weitere wichtige Botschaft, die bereits durch den Titel des Beitrags anklingt ist, dass wir nicht erkennen können, ob eine bestimmte ­Situation für einen Hund Stress bedeutet oder ob er sie noch als Aufregung, ­Herausforderung oder Stimulation betrachtet.

Stressanzeichen beim Hund
Und so sollte der Hundehalter auch lernen, auf Stressanzeichen bei ­seinem Hund zu achten. Hecheln, ­Speicheln, Zittern, langgezogene runde Mundwinkel, hängende, nach ­hinten geklappte Ohren, eine ­geduckte ­Körperhaltung etc. sind deutliche Anzeichen dafür, dass der Hund sich derzeit gerade in dieser Situation unwohl fühlt. Und dann muss man auch damit umgehen, auch wenn man selbst in der gleichen Situation überhaupt kein Problem sieht oder andere Hunde damit keinen Stress haben.

Beispiele für Stressoren
Wenn man Stress hört, denkt man beim Menschen oft an Arbeitsüberlastung, Reizüberflutung oder Stress durch ungelöste soziale Probleme. Diese Faktoren sind sicherlich auch für Hunde als wichtige Stressoren zu benennen. Viele Hunde, die zu früh, zu heftig oder mit falschen Methoden in eine sportliche oder andere Ausbildungskarriere gezwungen werden, Hunde, die von Umweltreizen überflutet werden oder in unklaren Beziehungen mit vierbeinigen und zweibeinigen Familienmitgliedern leben, Hunde die trauern, wie auch Hunde, die völlig regel- und führungslos leben, sind zweifellos Patienten in der Stress­praxis. Jedoch sind, auch für Hunde, andere Umweltfaktoren wie etwa Kälte, Hitze, Hunger, oder auch Krankheiten, Narkosen, Verletzungen mit schwerem Blutverlust etc. ebenso stressauslösend und dürfen bei der Betrachtung der Folgeerscheinungen nicht vergessen werden.

Die Stressphasen
Wenn ein Tier in einer unbewältigbaren Situation leben muss, finden wir normalerweise eine mehrstufige Stressreaktion, wobei Länge und Intensität der jeweiligen Phasen z. B. von der Persönlichkeit, der Heftigkeit der jetzigen und früheren Erfahrungen und auch von Zufallsfaktoren, wie Tageszeit und anderen Einflüssen nicht frei sind.

Die erste Phase ist beim Menschen wie beim Tier die Akutphase. Hierbei werden alle Stresshormon­systeme aktiviert, das Tier bemüht sich zunächst, dem Stressor zu entkommen, sei es durch Flucht, Angriff oder einfach durch Stillhalten, also ent­weder durch ein aktives oder ein passives Verhalten. In dieser Zeit reagieren alle inneren Organe  mit erhöhter Alarmbereitschaft. Die Akutphase ist in der Regel schon nach wenigen Sekunden messbar und kann je nach Persönlichkeit des Tieres auch einen oder mehrere Tage andauern. (Die Stresshormone Katecholamine und Cortisol lassen sich im Speichel und im Urin bestimmen, solche Unter­suchungen sind aber des­wegen nicht unproblematisch, da sie selbst Ursache von Stress sein können)

Im Anschluss daran kommt es zur sogenannten Anpassungsphase, in der der Organismus versucht, sich selbst an die geänderten und offenbar nicht durch eigenes Zutun veränderbaren Umweltbedingungen an­zu­passen. Hier zeigt sich dann bereits, welchen Persönlichkeitstyp wir vor uns haben (Gansloßer 1998, Holst 1998).

Zwei Reaktionstypen
Grundsätzlich lässt sich eine Grundpersönlichkeit typologisch zweifach beschreiben– den A- und den B-Typ (s. Kasten auf Seite 18). Kommt es bei einem Tier überwiegend zu einer Reaktion des Herz-Kreislaufsystems, mit weiterhin erhöhtem Blutdruck, beschleunigter Herztätigkeit, beschleunigter Atmung, erhöhtem Zellstoffwechsel und einer bevorzugten Durchblutung von Gehirn, Sinnes­organen und Muskulatur, so haben wir mit höchster Wahrscheinlichkeit den sog. A-Typ vor uns. Hunde des A-Typs neigen dazu, neue und unbekannte Situationen zunächst selbst zu erkunden und auftretende Probleme durch aktives Handeln lösen zu wollen. Dazu gehört auch die Flucht – wer wegrennt, hat immerhin noch genug Selbstvertrauen, um an diese Problemlösung zu glauben. Hunde hingegen, die neuartigen Situationen abwartend, skeptisch und beobachtend, also eher passiv gegenüberstehen, gehören dem sog. B-Typ an. Bei länger andauerndem Stress reagieren sie mit noch stärkerer Zurückge­zogenheit, mit teilweise depressiven Verstimmungen und mit einer Reihe von Stoffwechselkrankheiten in Folge eines geänderten Immunsystems und eines erhöhten Blutzuckerspiegels. So sind diese Hunde sehr ­anfällig für Infektionen oder Parasiten, sie ent­wickeln sehr häufig bei lang an­dauerndem Stress auch Diabetes oder sogar Leber- und Nierenschäden.

Zwei hormonelle Stresssysteme
Die Einschätzung, ob ein Hund dem A-Typ oder dem B-Typ angehört, gelingt nicht nur in Zeiten lang­an­hal­tender Stressproblematik. Jedoch sind viele Hunde im Alltag durch Lern­prozesse und Erfahrungen einiger­maßen stabil, sodass ihre Persönlichkeit nur durch Präsentation von neuen und auf den Hund etwas unheimlich wirkenden Reizen und Situationen oder das Verbringen in neue Umgebungen bzw. Räume etc. zu testen ist. Leben sie dagegen unter dauerhaften Stressbelastungen, zeigt sich anhand der auftretenden körperlichen ­Symptome meist sehr schnell, welchem Persönlichkeitstyp sie an­gehören.

Ursächlich für die jeweiligen Reaktionen und Folgeerkrankungen sind zwei Hormonsysteme der Nebenniere. Eines davon macht in jedem Falle bei Stress Überstunden: Beim A-Typ ist es das Nebennierenmark, das die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin produziert, beim B-Typ die Nebennierenrinde mit dem Haupt­hormon Cortisol. Es sei an dieser Stelle betont, dass Cortisol nicht nur ähnlich wie Cortison klingt sondern auch chemisch nahe mit diesem verwandt ist. Wenn ein Hund also Cortison verabreicht bekommt, reagiert er genauso wie einer, der aus innerem Antrieb heraus Cortisol-gesteuert ist.

Stressfolgen beim B-Typ
Die Verhaltensauswirkungen des Cortisolsystems sind allgemeine Ak­tivitätsdämpfung bis hin zu depressiver Verstimmung, Lern-, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche, Angstreaktionen, Panikverhalten, Angstaggression. Auch bestimmte Formen der Territorialaggression, der Leinenaggression und auch die Futteraggression sind durch Cortisol gesteuert. Das schwindende Selbstbewusstsein dieser Tiere kann im Laufe einer längeren ­Stressperiode bis zur sogenannten erlernten Hilflosigkeit führen. Bei ­diesem fortgeschrittenen Stadium der psychischen Cortisolüberforderung verliert der Hund jegliches Selbstvertrauen, reagiert fast überhaupt nicht mehr auf Außenreize und wartet nur noch darauf, dass alles Böse der Welt möglichst schadlos an ihm ­vorbei gehen möge – oder dass ihm der Himmel doch noch auf den Kopf fällt …

Hunde, die unter solchen extremen Wirkungen leiden, findet man einerseits bei falschen, zu gewaltbereiten oder zu rigorosen Ausbildungs­methoden, andererseits aber auch dann, wenn ihre Halter durch jegliche Inkonsequenz und Planlosigkeit im Alltag für die Hunde nicht berechenbar sind, und schließlich auch bei einer zu frühen und zu schnellen Hereinnahme in Ausbildungsgänge und bei allzu intensiven sportlichen Aktivitäten. In jedem Falle sieht man dann einen Hund, der mit hängendem Kopf, hängenden Ohren und hängender Rute passiv und an der Umwelt desinteressiert hinter oder neben dem Menschen her trottet und nicht einmal mehr zum Schnuppern, Lauschen oder Sich-Umschauen Lust hat. Diese Hunde sind auch nicht mehr in der Lage, wenn der Mensch plötzlich nichts tut, sich auch nur einige Minuten selbst zu beschäftigen, Erkundungsverhalten zu zeigen oder gar mit einem Objektspiel oder mit einer anderen selbst ge­steuerten freudigen Tätigkeit sich die Zeit zu vertreiben. Vielmehr sitzen sie entweder teilnahmslos oder fiepsend neben dem passiven Menschen und versuchen verzweifelt, diesen wieder als Animateur zu aktivieren.

Stressfolgen beim A-Typ
Der A-Typ Hund würde in dieser Situation ganz sicher ganz anders reagieren. In der sozialen Verhaltensforschung bezeichnet man die A-Typen auch als subdominant, da sie sich auch in rangtiefen Positionen kaum einschränken lassen und versuchen, ihre Freiräume durch ständiges Aktiv-sein zu sichern. Auch in Zeiten einer Unterbeschäftigung wird der A-Typ immer etwas zu tun finden. Ob er dann vor Langeweile die Tapeten von den Wänden zieht, die Steuererklärung zu Konfetti verarbeitet oder eine Stereotypie oder eine andere Zwangshandlung entwickelt – er wird in jedem Falle nicht depressiv in der Ecke sitzen.

Das Endstadium
Letztlich ist aber für jeden Hund, egal ob A- oder B-Typ, irgendwann diese Phase des Widerstands und des Sich-Anpassen-Wollens vorbei. Dann kommt es zum Endstadium, dem meist mit Stresserkrankungen und chronischen Gesundheitsschäden gekoppelten Erschöpfungsstadium. Hier ist buchstäblich der Akku leer, die Tiere sind ausgezehrt, kraftlos und daher auch für minimalste Infektionen oder andere Krankheiten, wie schon erwähnt, anfällig. Eine Erholung ist dann nur noch sehr schwer möglich.

Im nächsten WUFF erklärt Sophie Strodtbeck die (unheilvolle) Entwicklung eines sog. Stressgedächtnisses, das Stressreaktionen beim Hund oft schon auslöst, selbst wenn ein eigentlicher Stressor gar nicht (mehr) vorhanden ist. Dennoch gibt es auch Möglichkeiten, wie man Hunden in ­solchen problematischen ­Situationen helfen kann. Mehr darüber im ­nächsten WUFF.

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