Die Kolumne zum Thema „Alltagsprobleme mit dem Hund“. WUFF-Autorin Yvonne Adler, Tierpsychologin, akademisch geprüfte Kynologin und Hundetrainerin, beantwortet Ihre Fragen. Schicken Sie uns Ihr Alltagsproblem mit Ihrem Hund , kurz formuliert und mit 1 bis 2 Bildern. In dieser Ausgabe geht es um das Thema Stress bei Hunden.
Liebe Frau Adler!
Ich bitte Sie, uns Hilfe bezüglich unseres 2-jährigen Mischlingsrüden Louis zu geben. Er ist seit 14 Tagen bei uns, zuvor hat er rund 1½ Jahre als Straßenhund und in einem ausländischen Tierheim verbracht. Nun hat er seit der ersten Woche bei uns mehrfach das Haus zerstört und ist allgemein sehr „komisch“ bzw. überreizt. Wir gehen jeden Tag ca. 3 Stunden mit ihm spazieren, um ihn „müde“ zu machen und begleiten ihn auch viel in den Garten – aber nichts hilft. Unsere Tierärztin hat ihn bereits mit einem Pheromon-Halsband und Zylkene-Kapseln beim Stressabbau unterstützt, sie meinte jedoch, dass sich die Situation nur durch ein gezieltes Training zur Stressreduktion verbessern wird. Was können wir jetzt tun?
Liebe Grüße
Familie Lintner
Antwort von Yvonne Adler:
Liebe Frau Lintner,
Stress ist für den Körper eine ganz natürliche und sinnvolle Reaktion auf eine individuelle Belastungssituation. Unterschiedlichste Stressoren (Reize) können auf einen Hund einwirken, es ist jedoch von Individuum zu Individuum verschieden, welcher Reiz nun auch eine Belastung darstellt. Oft treten beim Einzug eines Hundes für den Besitzer unerwünschte Verhaltensweisen des Vierbeiners auf, wie etwa das „Zerstören“, Zerbeißen und dergleichen. Gerade zu Beginn Ihrer gemeinsamen Zeit ist es sehr wichtig, dass Sie sich in die Situation Ihres Hundes hineinversetzen und erkennen, was für Louis neu und möglicherweise auch bedrohlich sein könnte. Schließlich hat er in seinem Vorleben vermutlich sehr viele und auch ganz andere Lernerfahrungen gemacht.
Folgende Beispiele sollen eine kurze Übersicht über mögliche Stressoren für Ihren Hund aufzeigen:
• Äußere Stressoren: Sinneseindrücke wie „komisches“, ungewohntes Licht, für ihn unbekannter Lärm oder Geräusche, fremde Gerüche, eine neue Umgebung etc.
• Innere Stressoren: Disharmonie im Körper (Schmerzen), Schlafentzug, Futterumstellung etc.
• Leistungsstressoren: Überforderung, wie durch zu viele Spaziergänge und durch zahlreiche neue Reize zu Hause sowie auswärts etc.
• Soziale Stressoren: Neue Bezugspersonen, Familienveränderungen etc.
• Psychische Stressoren: Erwartungsunsicherheit in der neuen Umgebung, Konflikte, Unsicherheiten etc.
Hinzu kommt, dass jedes Individuum Hund auch ein sogenanntes „Stressgedächtnis“ bereits von der Mutterhündin im Mutterleib und danach durch die Aufzuchtbedingungen mitbekommt. Eine sehr gestresste Mutterhündin, die möglicherweise auch als Straßenhündin gelebt hat, überträgt ihre innere Anspannung sowie die Stresshormone bereits im Mutterleib an die ungeborenen Hunde und in weiterer Folge durch ihr Verhalten und durch die Stimmungsübertragung bei der Aufzucht auf die Welpen. Zusätzlich hat die individuelle Persönlichkeit des Hundes Auswirkungen auf die Stressbewältigungssysteme und sollte daher bei den weiteren Maßnahmen des Verhaltensumgangs berücksichtigt werden. Wenn der Hund in der Lage ist, mit eigenen, zuvor erworbenen Lösungsstrategien zur Verbesserung seiner derzeit nicht optimalen Lage beizutragen, verringert sich der Stress für den Hund. Wahrscheinlich wird Louis als Straßenhund andere Erfahrungen im Umgang mit Menschen gemacht haben und diese sind ihm momentan in seinem neuen Umfeld nicht hilfreich.
Durch die vielen neuen und unbekannten Umweltreize werden vermehrt Stresshormone ausgeschüttet, die auch dazu führen, dass schon normale Reize beim Hund neuerlichen Stress auslösen können. Diese Negativspirale gilt es zu durchbrechen und Sie sollten Ihren täglichen Ablauf zum Wohl des gestressten Louis anpassen. Dazu sollte etwa bei der Eingewöhnung auf lange, „aufregende“ Spaziergänge verzichtet und diese durch mehrere kurze Gassi-Runden in ruhiger Umgebung, mit wenig Ablenkung und Umweltreizen ersetzt werden. Auch ständiger Besuch oder oftmalige Veränderungen in der „Einzugsphase“ sind kontraproduktiv. Außerdem sollten Sie den Hund nicht zu allen Ihren Aktivitäten mitnehmen, da erwachsene Hunde 16 bis 18 Stunden täglich schlafen sollten und es oft sinnvoller ist, das Tier ruhen zu lassen. Möglich ist das allerdings nur dann, wenn das Alleinbleiben langsam aufgebaut und richtig antrainiert wurde, so dass der Hund sich in dieser Situation auch wirklich gut entspannen kann.
Mögliche Maßnahmen zur Stressreduktion
1. Schlafen zählt wohl zum Allerwichtigsten und besonders ausreichend qualitativer Schlaf ist essenziell. Gerade in stressigeren Zeiten kann es durchaus auch vorkommen, dass der Hund mehr als 16 bis 18 Stunden täglich für Schlaf, Ruhe und Dösen benötigt, um Stress abzubauen.
2. Bewegung ist ebenso hervorragend für den Stressabbau geeignet. Ruhige Spaziergänge mit vielen Stellen zum Riechen eignen sich für den Stressabbau, sofern kein menschlicher Plan, um von „A“ nach „B“ zu kommen, dahintersteht. Selbstverständlich muss die Route so gewählt werden, dass der Hund auch entspannen kann.
3. Schnüffeln trägt ebenso zum Stressabbau bei und es hat den enormen Vorteil, dass die Sinneseindrücke des Riechhirns direkt und ungefiltert die Amygdala (limbisches System) erreichen und mit Emotionen verknüpft werden. Es ist zu empfehlen, beispielsweise eine Leckerli-Suche − anfangs zu Hause – zu üben. Wenn die Suchaktivitäten erlernt sind, kann mittels dieser positiven Emotionen auch erreicht werden, dass man den Hund aus einer stressigen oder beginnend ängstigenden Situation „positiv rausriechen“ lässt. Dafür können Sie für Louis Leckerchen im Garten verstreuen, die er ohne Leistungsdruck erschnüffeln kann. Sollte eines liegen bleiben, wird es beim nächsten Suchen vielleicht wiedergefunden. Hier sollte keinesfalls ein Leistungsdruck aufkommen.
4. Kauen ist ebenfalls wirksam, um Entspannung herbeizuführen. Daher sollten dem Hund auch täglich Kausachen, mit denen er mindestens 15 Minuten beschäftigt ist, angeboten werden. Erst nach dieser Zeit entfaltet sich die beruhigende und entspannende Wirkung. Deshalb zählt ein Leckerchen, das kurz gekaut und dann abgeschluckt wird, nicht dazu. Wichtig ist es aber, darauf zu achten, dass diese meist sehr proteinhaltigen Kausachen auch bei der Berechnung der täglichen Futterration mitberücksichtigt werden.
5. Bei der Kuschel-Zeit, dem gemeinsamen Kontaktliegen und auch Kuscheln, wird das Bindungshormon Oxytocin – das gleiche Hormon wie beim zärtlichen Streicheln zwischen zwei Partnern – ausgeschüttet. Dieses Hormon ist ein natürlicher Stress-Gegenspieler. Bei der Betreuung von Tieren werden im Gehirn die gleichen Belohnungssysteme aktiviert wie bei der Betreuung von Kindern. Das fördert die Bindung zwischen Eltern und Kind, zwischen Lebenspartnern und auch zwischen Mensch und Hund. Daher darf gerne viel gekuschelt werden, wenn dies von beiden Seiten als wohltuend empfunden wird. Beachten und respektieren Sie bitte, dass Louis sich vielleicht nur an Sie dran legt, sogenanntes „Kontaktliegen“ zeigt und keinen engen Körperkontakt möchte, weil er dies womöglich gar nicht kennt.
Zusätzlich kann man aktiv daran arbeiten, dass sich der Hund schneller entspannt. Das kann beispielsweise über sanftes Streicheln und/oder mit Massagen gelingen, sofern er sich dabei wohlfühlt und es gerne annimmt. Auch dabei wird das oben erwähnte Kuschel- und Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet.
Wenn nach einigen Wochen oder Monaten des Trainings der Stress bei Louis reduziert wurde und er sich merklich entspannt hat, können Sie dazu übergehen, zeitweise auch „ehemalige“ Stressoren in Ihren Alltag einzubinden, denn so lernt Ihr Hund auch damit umzugehen. Dazu müssen Sie viel Ruhe, Gelassenheit und Konsequenz ins Training bringen, ansonsten würde sich auch Ihre innere Anspannung auf den Hund übertragen. Weniger ist mehr – dieser Grundsatz sollte in diesem Fall ganz besonders beachtet werden. Setzen Sie Louis nicht mehreren Reizen gleichzeitig aus, sondern zeigen Sie ihm einzelne Reize in geringer Dosierung und mit kurzer Trainingszeit. Dazwischen muss es auch „Ruhetage“ ohne Training mit den oben genannten Stressreduktions-Maßnahmen geben, denn nur so hat der Hund auch die notwendige Zeit, um die Reize positiv zu verarbeiten.
Außerdem gibt es auch einige Mittel zur Unterstützung des Trainings – eine „Wunderpille“ dürfen Sie jedoch nicht erwarten. Worauf Hund und Mensch gut ansprechen, ist sehr individuell.
Gute Erfolge gibt es etwa mit:
– Düften, wie Kamille, Lavendel oder Sandelholz
– Entspannungsmusik
– Farben, vor allem mit Orange und Rosa; interessante Aspekte sind in der Farbenlehre nachzulesen
– Kräutern, wie Hopfen, Melisse oder Baldrian als Nahrungsmittelergänzungen
– Homöopathie oder Akupunktur
– Tryptophanhaltige Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel sowie Lebensmittel, die reich an B-Vitaminen und Lein- oder Lachsöl sind und einen hohen Anteil an Omega 3- und Omega 6-Fettsäuren besitzen. Wichtig ist dabei, auf das Verhältnis der Fettsäureanteile zueinander zu achten.
Vieles kann ein Training unterstützen, jedoch NICHT ersetzen. Und es sollte vorab mit dem Tierarzt besprochen werden, wenn man etwa Nahrungsergänzungsmittel einsetzen möchte, zumal Louis ja auch andere Präparate erhalten hat. Wichtiges Kriterium ist jedoch, dass immer nur ein Faktor verändert und diese Veränderung über mehrere Tage beibehalten werden soll. Denn nur so ist erkennbar, welche Maßnahme den Hund wirklich unterstützt bzw. nicht zum Erfolg geführt hat.
Zusätzlich sollten Sie auch die Atmosphäre zu Hause beachten. Herrscht ein entspanntes Lernklima? Können Sie sich miteinander optimal entspannen? Mit gezieltem Stressabbau und Stressmanagement kann zu viel Stress und damit möglicherweise einhergehende Frustration vermieden werden – wodurch sich wiederum die Lebensqualität für Mensch & Hund erhöht.
Herzlichst, Yvonne Adler
Pdf zu diesem Artikel: stressabbau
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