Das Aussterben der genetisch so vielfältigen „Strassenhunde“ könnte auch für die moderne Hundezucht unserer Hochleistungsrassen ein ernst zu nehmendes Problem werden: In der modernen Rassezucht geht die genetische Vielfalt unserer Hunde durch Inzucht und Leistungsselektion auf ein bestimmtes Merkmal immer mehr verloren, und diese Genverluste sind unersetzlich. Bei einigen Rassen wurden Defektvarianten zur Norm erhoben, und das ganze wird dann zu einem höchst fragwürdigen „Rassestandard“ erklärt. Vielleicht wird man eines nicht mehr allzu fernen Tages wieder auf den Genpool der Straßenhunde zurückgreifen müssen, um unseren Rassehunden wieder eine dringend notwendige Blutauffrischung zukommen zu lassen – was vielen nicht zuletzt auf gesundheitlichem Gebiet gut täte.
Suchen die Nähe des Menschen
Es ist nicht immer gleich ersichtlich, warum die Parias – trotz vielfacher Vertreibungsversuche durch die Menschen – dennoch offensichtlich deren Nähe suchen: Sind es allein die Gründe des einfacheren Nahrungserwerbes auf Müllhalden und in der Nähe menschlicher Ansiedlungen, oder ist es mehr ein lockeres Anschlußbedürfnis an den Menschen, die sie seine Nähe suchen lassen? Auf jeden Fall haben diese Straßenhunde aber auch als Wächter einsam liegender Gehöfte und versteckt liegender Dörfer in vielen Regionen neben ihrer Funktion als Abfallbeseitiger einen wichtigen Nutzeffekt für die Landbevölkerung: In solchen Situationen kann ihre Anwesenheit, auch im islamischen Kulturkreis, durchaus toleriert werden.
Verwilderte Haushunde
Parias gehören keiner definierten Rasse an, da sie seit vielen Generationen als wieder verwilderte Haushunde keiner Zuchtwahl durch den Menschen mehr unterliegen. Sie können aber durch die natürliche Selektion an die jeweiligen Lebensbedingungen ihrer Umwelt in einem bestimmten Gebiet relativ einheitliche Typen ausbilden: So erinnern beispielsweise die Pariahunde des Hochlandes von Iran und Anatoliens in ihrem Aussehen an die großen Herdenschutzhundrassen; In trockenen Gebieten Ostindonesiens und im Nordwesten Indiens, teilweise aber auch im zentralen Hochland und in den Trockensteppen von Madagaskar, leben Tiere von dingoähnlichem Habitus; ebenso leben in Madagaskar Hunde, die den „Berberhunden“ Nordafrikas sehr ähneln. Diese nordafrikanischen Hunde von der Größe eines mittleren Schäferhundes, hellfarben bis weiß und mit Säbelrute, sind stockhaarig bis langhaarig und in vergleichbaren Höhenlagen im Hohen Atlas zu finden.
Alte Landschläge
In der kühlen Bergregion Balis lebt der spitzähnliche „Kintamanihund“, ein Hund, der den „alten Landschlägen“ am ehesten zuzurechnen ist. Sein dichtes, langes Fell sowie sein weiterer Habitus erinnern – wohl kein Zufall – an den ostjavanischen Tenggerhund. Bekannt ist dies auch beim inzwischen leider vom Aussterben bedrohten Neuguinea-Dingo, dessen in den kühl-feuchten Bergen lebende Form im Vergleich zu den Hunden der Küstenregion mit ihrem Tropenklima ein dichteres Fell mit längeren Haaren sowie eine feste Unterwolle entwickelte.
Der „Kintamani-Hund“ Balis hat, wenn er im Flachland gehalten wird, offensichtlich trotz dichtem Fell keine allzu großen Probleme mit den Temperaturen, angeblich pflanzt er sich aber bei diesen Temperaturen nicht fort. Der Autor kann diese Bemerkung der Einheimischen zwar nicht direkt beweisen, er hat aber andererseits nie eine Hündin dieser alten Landrasse mit Welpen außerhalb der Bergregion gesehen.
Von Akbash bis Kangal
Nach den Ergebnissen des Kynologenehepaares MENZEL ließen sich aus der Gruppe der Pariahunde, die sie als eine Art von „Naturrasse“ bezeichnen, mühelos eine Fülle von echten Rassen züchterisch herausselektieren. Hierfür ein weiterer Hinweis: Betrachtet man in Wolfswinkel auf der EBERHARD TRUMLER-STATION die Gruppe der „Perser“, also Hunden aus dem Hochland von Iran und Anatolien, fällt sofort die überaus große Ähnlichkeit dieser Tiere mit den klassischen Hütehunden aus dieser Region auf: Es entsteht sofort der Eindruck, daß mit ein wenig züchterischem Geschick innerhalb weniger Hundegenerationen dort Rassen wie Akbash, Karabash oder auch andere Hunde dieses Rassekreises herausgezüchtet werden könnten. In Mode kommt derzeit der zu diesen Rassen zählende Kangal, ebenfalls ein Hund, der im Grunde nur wenigen sachverständigen Liebhabern vorbehalten bleiben sollte.
Wissenschaftliches Interesse
Die wohl erste wissenschaftliche Beschreibung von Pariahunden veröffentlichte GÜLDENSTEDT in seiner „SCHACALAE HISTORIA“ (1776): Er beobachtete diese Hunde im Kaukasus und verglich deren Verhalten mit demjenigen von Goldschakalen. Aufgrund vieler Gemeinsamkeiten dieser beiden Caniden – erwähnt sei hier das starke Scheuverhalten, die nächtliche Lebensweise als das Resultat hiervon, aber auch die Form des vergleichbaren Nahrungserwerbes auf den Abfallhalden in der Nähe menschlicher Siedlungen – schloß GÜLDENSTEDT, daß der europäische Goldschakal der Stammvater der Parias und auch der Haushunde sei.
Andere Autoren, wie z.B. der deutsche Forschungsreisende KANDT (1897), beobachteten ostafrikanische Pariahunde im heutigen Ruanda und kamen aufgrund vergleichbarer zufälliger Ähnlichkeiten zu dem Ergebnis, daß der Schabrackenschakal der Stammvater dieser Hunde sei.
Schakale und Hunde
Ebenso die soziale Lebensweise der von ihm beobachteten Parias – ohne Menschenbindung lebende Primitivhunde sind u.U. eher Einzelgänger oder leben bestenfalls in Kleingruppen – schien GÜLDENSTEDT ein Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen Schakal und Hund. Entspräche dies den Tatsachen, müßten Bastardierungen in solchen Gegenden häufig zu beobachten sein, in denen Schakale und Hunde gemeinsam vorkommen. Dies konnte bislang aber nicht bestätigt werden. Erfolgreiche Paarungen zwischen Wölfen und Straßenhunden sind zwar bekannt und Schakal und Hund können fruchtbare Nachkommen produzieren (was nicht zuletzt bei der „Scheichfamilie“ in Wolfswinkel bewiesen wurde, ebenso wie in zahlreichen Untersuchungen an den „Puschas“ des „Instituts für Haustierkunde“ an der Universität Kiel), sie tun es aber nicht; wohl aber z.B. italienische Straßenhunde in den Abruzzen mit Wölfen. Auch dies ist ein weiterer Hinweis auf die Abstammung des Hundes vom Wolf und nicht vom Schakal.
Es hat sich herausgestellt, daß Pariahunde sich auch im gemeinsamen Lebensraum mit Schakalen trotz einer vergleichbaren Nahrungsökologie unter natürlichen Bedingungen nicht verpaaren. Sollte in einem Ausnahmefall eine Verpaarung zwischen Goldschakal und Hund vorkommen, wird diese aufgrund der Seltenheit dieses Ereignisses keinen Einfluß auf die Gesamtpopulation nehmen. Ansonsten werden Schakale im Normalfall von den Pariahunden als Nahrungskonkurrenten innerhalb der gleichen ökologischen Nische vertrieben und verfolgt.
Grosser Selektionsdruck
Die Auslesebedingungen für all diese Straßenhunde sind durchaus in ihrer Härte den Bedingungen vergleichbar, denen auch ein Wildtier unterliegt. Von der jeweils optimal an die Umweltbedingungen angepassten Form haben abweichende Varianten wenig Überlebenschancen, kaum Gelegenheit zur Fortpflanzung und damit zur Weitergabe ihrer Merkmale, und sie sterben aus.
Diese scharfe Selektion resultiert in Eigenschaften, die alle Paria- und Straßenhunde, die das Welpen- und Junghundalter überlebt haben (in Indonesien zieht eine vom Menschen direkt unabhängige Hündin kaum mehr als einen Welpen pro Wurf groß), gemeinsam haben: Trotz hohem Parasitenbefall, mit dem die Hunde aber relativ leicht fertig werden, eine robuste Gesundheit bei hoher körperlicher Leistungsfähigkeit, die gepaart mit einer ausgeprägten Intelligenz ist. Dennoch scheinen Pariahunde im Vergleich zu unseren Haushunden kein hohes Alter zu erreichen. Dies läßt sich allerdings relativ leicht mit einer oftmals schlechten Ernährungslage, mit mangelnder veterinärmedizinischer Versorgung, vielleicht aber auch mit dem für sie mit Sicherheit vorhandenen Dauerstress erklären (auch echte Wildtiere erreichen in menschlicher Obhut, z.B. im Zoo, ein sehr viel höheres Lebensalter als ihre Artgenossen in der freien Wildbahn). Daß die ersten nach Europa gekommenen Basenjis (1923) ausgerechnet an einer Staupeimpfung starben, widerlegt nicht die Tatsache der robusten Gesundheit: Diese Tiere wurden mit Krankheitserregern konfrontiert, auf die sie in keinster Weise vorbereitet waren.
Tierische Intelligenz?
Die Intelligenz eines Tieres wissenschaftlich zu bestimmen, d.h. reproduzierbar zu messen, ist äußerst kompliziert. Vor allem, wenn man von dem einen Tier als Individuum auf die ganze Art, hier in unserem Fall auf die ganze Rasse eine allgemein gültige Aussage machen will. Die individuellen Spannweiten sind enorm, da die Hunde (unsere Strassenhunde im Vergleich zu vielen oftmals hoffnungslos unterforderten Hunden aus Hochleistungszuchten) vom Welpenalter an mit den unterschiedlichsten Situationen konfrontiert waren, die sie meistern müssen, um zu überleben. Um es salopp auszudrücken: Ein Straßenhund, der nicht flexibel auf jedwede für ihn relevante Veränderung der Umweltbedingungen sofort reagiert, lebt nicht lange.
In vielen Fällen sind Tests, die eigentlich Aussagen über die Intelligenz von Hunden machen sollten, keine Intelligenztests, sondern Tests, bei denen Gehorsam und Unterordnung untersucht und bewertet wurden. Der Wiener Tierpsychologe BUBNA-LITTITZ definiert: „Intelligenz ist die Fähigkeit, Sachverhalte zu verknüpfen und zu einer Problemlösungsstrategie zu kommen“. Im Gegensatz zu den Straßenhunden ist es für unsere Haushunde, hiermit sind keine bestimmten Rassen gemeint, sondern nur die Tiere im unmittelbaren Einflußbereich des Menschen, nicht mehr notwendig, ihr Futter selbst zu suchen/erbeuten (selbst der Sexualpartner wird ihnen, zumindest in der Rassehundezucht, zugeführt), als unmittelbare Folge hiervon ist ihre Problemlösungsfähigkeit deutlich verkümmert.
Grosse Eigenständigkeit
Andererseits ist die Abrichtbarkeit bei Hunden im allgemeinen umso größer, je mehr sie für das Arbeiten mit dem Menschen gezüchtet wurden – was ja leicht einsehbar ist. Jeder, der mit Hunden verschiedener Rassen gearbeitet hat, kennt die große Gelehrigkeit z.B. des Deutschen Schäferhundes, während andererseits die Abrichtbarkeit des Basenjis äußerst gering ist. Dafür besitzt er aber eine dem Wolf vergleichbar große Problemlösungsfähigkeit, was er für sein Überleben braucht.
Die Intelligenz, die die Straßenhunde entwickeln mußten, um die harte Selektion in Hinsicht auf die Fähigkeit zur selbständigen Lebensweise und ohne direkte Abhängigkeit vom Menschen zu überleben, führte zu einer extremen Eigenständigkeit, die sie kaum erziehbar macht: Hunde, die weitgehend selbständig ohne Hilfe ihres Herrn arbeiten müssen, gelten auch als „schwer erziehbar“; als sprichwörtliches Beispiel sei hier der Dackel erwähnt, dessen jagdlich geführter Vetter ganz alleine den Fuchs aus dem Bau sprengen muß und für dessen Überleben hierbei eine große Eigenständigkeit absolut notwendig ist. Gleiches gilt für den kleinen Jagdterrier – auch heute noch glücklicherweise ein Hund, der fast nur in jagdlichen Kreisen anzutreffen ist – der in der Dickung dem angeschossenen Keiler gegenüber steht und in ihm auf einen schwer bewaffneten Gegner trifft, der es bis zu einem zehnfachen Körpergewicht auf die Waage bringt und aggressiv sein Leben verteidigt.
Eine systematische Zuchtauswahl auf bestimmte Merkmale durch den Menschen erfolgte nur bei einigen wenigen, die für bestimmte, zumeist jagdliche Zwecke eingesetzt wurden. Hier seien exemplarisch salukiähnliche Hunde genannt. Besonders der Saluki weist in seinen Eigenschaften wie schwierige Unterordnung und ein mißtrauisches Verhalten gegenüber Fremden noch typische Eigenschaften der Parias auf.
Andere Parias und vor allem Schensis jedoch werden auch heute noch bei der Jagd auf u.a. Hirsch und Wildschwein verwendet (teilweise neben Ziegen aber auch als Lebendköder bei der Tigerjagd in Sumatra bis vor kurzer Zeit): Der Batak-Hund des nordwestlichen Sumatras ebenso wie die Hunde der Kleinen Sunda-Inseln treiben Mähnenhirsch und Wildschwein in aufgespannte Netze, in denen das Wild dann von den Jägern mit Speeren erlegt wird. Insgesamt also, zumindest für europäische Verhältnisse und unser Verständnis für Jagdethik eine archaische Form des Beuteerwerbs, die noch am ehesten an die mittelalterlichen Feudaljagden erinnert.
>>> WUFF – INFORMATION
Paria: Urform des Hundes oder sekundär verwilderter Haushund?
Die Frage, ob es sich bei den Parias um Urformen des modernen Haushundes handelt, oder ob diese Tiere wieder sekundär verwilderte Formen ehemals gezüchteter Hunde sind (auffällig ist der Lebensraum der Parias, der sich grob mit der Verbreitung der antiken Hochkulturen deckt), ist immer noch unbeantwortet.
Wildling australischer Dingo
Für die Sekundärverwilderung spricht beispielsweise der Australische Dingo, der ja einstmals mit dem Menschen den australischen Kontinent betreten haben muß, und der nach seiner Verwilderung unter dem relativ gleichförmigen Selektionsdruck seiner Umwelt eine einheitliche Form in seinem gesamten Verbreitungsgebiet annahm. Die in ihrem Äußern den asiatischen Wölfen gleichenden Dingos sind demnach keine Wildhunde; dies wird u.a. auch durch Verhaltenseigenarten, hier insbesondere die Anschlußfreude an den Menschen, belegt. Sie sind somit wie alle Parias im strengen Sinn keine Übergangsform, sondern eher echte Haustiere und sollten zoologisch korrekt als „Wildlinge“ bezeichnet werden. Die Anerkennung des Dingos als Rassehund wird diesem ehemals freien Hund wahrscheinlich den Gnadenstoß versetzen – auch, weil er dann seinen Schutzstatus (seit 1964 zumindest auf dem Papier) als Wildtier verlieren wird.