Straßenhunde – Muss jeder „gerettet“ werden?

Von Regina Röttgen

Rund 100 Millionen Streuner ­tummeln sich in Europas Städten und Wäldern. Doch was wie ein herrenloser Hund aussieht, kann vieles sein: Auf der Straße geboren, ausgesetzt oder ein „freilaufender Besitzerhund“. Wer lebt wie und welchen sollte man retten?

Der große braune Hund zwickt der schlanken Frau in den Po. Als diese nur kurz zuckt, springt er flink um sie herum und nimmt ihr rechtes Handgelenk zwischen die Zähne. Er ist so groß, dass er dafür nicht mal hochspringen muss. Dabei wedelt er freudig mit dem Schwanz. Die junge Frau redet sanft, aber bestimmt auf ihn ein. Ganz klar, der große Braune möchte spielen, die Frau einkaufen. Denn diese Szene spielt sich vor einem Supermarkt in der Türkei ab. Die riesige Fellnase ist einer von unzähligen Teilzeitstraßenhunden, die es in dem Land gibt.

Hunde wie den großen Braunen gibt es viele. Sie leben auf der Straße. Wie viele freilebende Hunde es in den einzelnen europäischen Ländern gibt, ist ungewiss. Einheitliche Quellen sind schwer zu finden, meist sind es Schätzungen und diese nicht aktuell. Laut der ­European Society of Dog and Animal Welfare – ESDAW – leben in Ungarn 200.000 und in Bulgarien 400.000 Streuner. Griechenlands Straßen bevölkern 500.000 Hunde, Italiens 600.000. Rumänien und die Türkei sollen jeweils zwei Millionen freilebende Hunde zählen, Russland gar vier.

Zu viele Vorurteile
Was uns in Europa über diese Hunde zumeist erreicht, sind Berichte über gequälte Tiere, untergebracht in mise­rablen Zuständen, Massenvergiftungen, Bilder von hungrigen Hundemeuten oder verwahrlosten Fellnasen. Für unser tierliebendes Herz ist es schon fast ein Reflex, einem solchen Tier kurzerhand helfen zu wollen.

So erging es auch Katrin Tatoglu und ihrem Mann. Ursprünglich plante das Ehepaar, sich einen Hund vom Züchter zu holen. Doch dann sah Katrin in den sozialen Medien einen Hilferuf aus Bulgarien. Die neun Welpen waren gerade mal zwei Wochen alt, als sie ohne Mutter auf Bulgariens Straßen ausgesetzt wurden. Von Tierschützern wurden die Kleinen mit der Flasche großgezogen, eins schaffte es nicht. Als sie diese Bilder sah, war es um Familie Tatoglu geschehen. Sie und ihr Mann beschlossen, einen der Rüden zu sich zu holen. Eine deutsche Tierschutzorganisation besuchte das Ehepaar und organisierte den Transport. Zwei Monate später konnte Tyson im Alter von fünf Monaten bei den Tatoglus einziehen.

Der Wunsch zu helfen ergreift uns schnell. Stefan Kirchhoff ging es nicht anders. Drei Monate lang fuhr Kirchhoff 2013 mit seinem VW-Bus durch Italien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Kroatien, Slowenien und die Türkei. Seine Erlebnisse fasste er danach in dem Buch „Streuner! Straßenhunde in Europa“ zusammen. In den zwei Jahrzehnten, in denen er als Tierpfleger, Tierheimleiter und Hundetrainer im Tierschutz arbeitete, hatte er sehr viel mit Auslandshunden zu tun. Trotzdem überraschte ihn, was er auf seiner Reise erlebte: „Im Gegensatz zur allgemein negativen Meinung über Auslandshunde habe ich sehr viele gute Erfahrungen mit diesen Tieren gemacht.“ Seiner Meinung nach gibt es mehr Vorurteile als Tat­sachenberichte zum Thema Straßen­hunde und deren Leben auf europäischen Straßen.

In den süd- und osteuropäischen Ländern hat man gelernt mit den Streunern zu leben. „Die Toleranz gegenüber den Streunern ist wesentlich höher als erwartet. Ich habe Straßenhunde in Kantinen gesehen oder schlafend auf dem Spielplatz, während Kinder in Anwesenheit der Eltern dort spielten.“ Auch Streuner vor oder in Einkaufsläden wie der große Braune sind keine Seltenheit. „Menschen füttern die Tiere und geben ihnen Namen“, erzählt Kirchhoff. Oft werde von uns nur das Negative wahrgenommen und verbreitet, was dazu führe, dass die wenigsten Menschen in Deutschland, der Schweiz oder Österreich eine reale Vorstellung vom eigentlichen Leben der Streuner hätten.

Voll- oder Teilzeitstraßenhund
Pauschales Denken dominiert auch, wenn es um die Definition des Wortes „Straßenhund“ geht. Gleich vorneweg: Den typischen Streuner gibt es nicht. „Der typische Straßenhund ist für die meisten Menschen ein wilder, ­scheuer, ängstlicher und kranker Hund, der ständig um sein Überleben kämpfen muss“, so Kirchhoff. Doch das ist fern der Realität. Natürlich gibt es Hunde, die auf der Straße geboren wurden und dort leben. Die Mehrheit der Hunde sei jedoch irgendwann vom Menschen ausgesetzt worden. „Auf den Straßen tummeln sich zudem noch die freilaufenden Besitzerhunde, an der Zahl mehr als man denkt“, ­Teilzeitstraßenhunde nennt Kirchhoff diese. Das Leben solcher freilaufenden Besitzerhunde unterscheidet sich nur gering von dem der Vollzeitstreuner. Trockenfutter oder tierärztliche Hilfe bleiben auch diesen Hunden meist verwehrt. Zumindest ­haben diese Hunde einen trockenen und sicheren Schlafplatz, wohin sie jeden Tag zurückkehren und sich mit Essensresten zufriedengeben. Für unser Verständnis ein schreckliches Hunde­leben. Auf der Straße organisieren die Hunde sich selber. Kirchhoff vergleicht die Lebensweise derer, die „irgendwie zueinander gefunden haben“ mit einer Wohngemeinschaft: „Man lebt zusammen, aber jeder macht sein eigenes Ding. Meistens hängen sie zusammen an einem Platz ab und haben gelegentlich auch soziale Kontakte untereinander.

Überlebenskampf im Wald
Viele der türkischen Streuner leben mittlerweile nicht mehr auf der ­Straße, sondern im Wald. Wie die anderen Waldflächen der Metropole lag auch der Alemdag˘ Wald bis vor einigen Jahren noch außerhalb Istanbuls. Verschiedene Stellen zählen heute zum Lebensraum von Streunern. Manche der Vierbeiner wurden dort geboren, andere ausgesetzt, weitere von Bezirksverwaltungen einfach illegal dorthin „übergesiedelt“. Jeden Sonntag macht sich Gonca Kaya mit ihrem Auto auf den Weg dorthin. Hundefutter stapelte sich bis unter die Autodecke. Die 32-jährige Außenhandelskauffrau kümmert sich seit drei Jahren aktiv um die Hunde im Alemdag˘ Wald. Mit anderen Tierschützern bringt sie jede Woche kranke Hunde aus dem Wald zu Tierärzten in der Umgebung, versorgt leichte Wunden selber, verteilt Wurmkuren und Parasitenmittel, stellt Hundehütten und Wassertränken auf und verteilt Futter. Laut Kaya ist das Leben im Wald ein Überlebenskampf. 350 Tiere leben in dem Waldstück, das sie betreut. „Die Sterberate ist hoch. Hunger, Krankheiten und Kampfwunden sind die häufigsten Gründe.“ Soweit es ginge, würde sie Hunde kastrieren lassen, doch jede Woche kämen neue dazu. Welpen von freilaufenden Besitzerhunden, aber auch „Pudel mit Halsband, Golden Retriever oder ans Autofahren gewöhnte Deutsche Schäferhunde“ seien plötzlich unter den Hunden zu finden. Was es dort nicht gibt, ist „Futter, Wasser und ein trockener Unterschlupf“, klagt Kaya. 200 Kilogramm Trockenfutter, von Metzgern gespendete Knochen und Essensreste aus Kantinen verteilt sie jede Woche an zehn verschiedenen Stellen. „Manchmal sind es fünf, manchmal 50 Hunde, um die wir uns an einer einzelnen Stelle kümmern“, erzählt die junge Frau. Rund 6 Kilometer entfernt von der nächsten Ansiedlung leben die Hunde. Überleben können dies nur die wenigsten. Laut Kaya würden sich die Hunde zudem langsam vom Menschen entfremden. Das Verwildern führe zu Rudelbildung und Jagen. „Ich habe schon mal Hunde gesehen, die sich im Rudel bewegten und Aas fraßen“, weiß Gonca Kaya zu berichten.

Ähnliche Beobachtungen machte auch die bulgarische Wissenschaftlerin Diana Zlatanova. Im Rahmen einer Studie (Sofia St. Kliment Ohridski Universität, 2016) fand das Team um die Zoologin heraus, dass freilebende Hunde im bulgarischen Vitosha immer mehr die bewohnten Gegenden verlassen, um in umliegende Wälder zu ziehen. Die tagaktiven Tiere seien zumeist erst freilaufende Hunde, die dann aber nach und nach verwildern. Jedoch selbst dann seien sie noch immer auf menschliche Futterquellen angewiesen.

Die eigentliche Wurzel des Problems
Wie viele der Hunde in europäischen Wäldern und auf Straßen überleben, ist fraglich. Tierschützer stellen gerne die Rechnung auf, dass eine einzige Hündin und ihre Welpen in sechs Jahren bis zu 67.000 Hunde erzeugen könne, doch die Realität spricht eine andere Sprache. Dies zeigte das Tuscany-Dog-Project, von Mai 2005 bis Dezember 2007 in Italien vom deutschen Wolf- und Hundeexperten Günther Bloch durchgeführt. Auch Kirchhoff war bei dem Projekt dabei: „Es kam nicht zu einer explosionsartigen Vermehrung der Hunde, obwohl die Nahrungsversorgung durch den Menschen geradezu bombastisch war.“ Die natürliche Selektion besorgt offenbar das Ihrige. „Die Welpensterblichkeit ist sehr hoch. Auch in anderen Studien erreichten nur 5 bis 22 Prozent aller Welpen das Alter von einem Jahr. Dazu kommt, dass die Wurfgröße insgesamt sehr gering ist.

Tatsächlich sind trotz breitflächiger Kastrationsarbeiten auf den Straßen Europas keine wirklichen Rückgänge der Population zu verzeichnen. Herrenlose Straßenhunde sind offenbar nicht das eigentliche Problem. Kirchhoff und Kaya sind sich einig: Die Wurzel des Problems sind vor allem ausgesetzte Tiere und freilaufende Besitzerhunde, die aus Kostengründen nicht kastriert werden. Trotzdem hält Kirchhoff Kastrationsprogramme weiterhin für sinnvoll. „Sie ändern zwar nur sehr wenig an der Population, tun aber jedem Straßen­hund gut“, da sie Bissverletzungen unter Rüden reduzieren und weniger Energie­verbrauch für beide Geschlechter bedeuteten und dadurch vielleicht sogar lebensverlängernd seien. Vor allem werden die Hunde, wie zum Beispiel in der Türkei, dabei mit einer Ohrmarke versehen und gegen Tollwut geimpft. „Das wissen die Einheimischen und das beruhigt viele Menschen, die Angst vor Krankheiten haben.“

In den meisten Ländern kümmert sich der Staat überhaupt nicht um die Straßentiere, stellte Kirchhoff auf seiner Reise fest. Tierheime sind in diesen Ländern eher Auffangheime oder Tötungsstationen. Während viele Länder noch immer Tiere, die nicht vermittelt werden können, nach einer kurzen Frist von nur 2 bis 3 Wochen töten, greifen in anderen Ländern mittlerweile Tierschutzgesetze. Insbesondere die Türkei überraschte Kirchhoff. Das 2004 dort in Kraft getretene Tierschutzgesetz beinhaltet das Einfangen, Kastrieren und wieder Freilassen von Straßenhunden. „Dies wird tatsächlich auch in der Praxis um­gesetzt“, sagt Kirchhoff. Heute werden in Istanbuls neuestem Tierheim jährlich bis zu 20.000 Tiere kastriert, geimpft, ­markiert und wieder ausgesetzt. Insgesamt 700.000 Quadratmeter umfasst das Mega-Tierheim, das seit 2015 in Betrieb ist. Wegen seiner Größe und dem Verzicht auf freiwillige Mitarbeiter stand es unter heftiger Kritik von Seiten der Tierschützer. Doch leben dort nur Tiere, die auf der Straße nicht überleben könnten. Alte und behinderte Tiere zum Beispiel teilen sich in Gruppen aus 20 Hunden Bereiche à 500 Quadratmeter. Aufgrund der immensen Kastrationsrate des Tierheims konnte die Stadt Istanbul vergangenes Jahr 26.828 Tiere kastrieren. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es 5.651, 2004 gar nur 805 Tiere.

Doch auch in der Türkei gibt es noch immer Vergiftungsaktionen. Mal sind es Anwohner, die Angst vor den ­Streunern haben, mal Dorfbewohner, die ihre Küken schützen wollen. Gerade in ­Touristengebieten stehen oft Hotels unter Verdacht, wenn im Frühling vergiftete Köder ausgelegt wurden. „Dass manchmal der Staat seine Finger mit im Spiel hat, kann man leider nicht ausschließen“, fügt Kirchhoff hinzu.

Wirkliche Freiheit oder goldener Käfig?
Wieder ein Grund mehr, per Adoptionen zu helfen. Bei weltweit etwa 600 Millionen freilebenden Hunden scheinen solch gutgemeinte Aktionen ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein. Doch nicht alle Straßenhunde müssen gerettet werden. „Auch wenn es auf der Straße Gefahren gibt, heißt das noch lange nicht, dass ein Hund gerettet werden muss“, meint Kirchhoff. Das Tuscany-Dog-Projekt zeigte damals, dass das Leben als herrenloser Hund nicht nur Nachteile hat. „Diese ­Hunde durften Dinge tun, von denen unsere Haushunde nur träumen können. Immer und jederzeit eigene Entscheidungen treffen zu können und immer die Möglichkeit zu haben, danach zu handeln, ist das, was wir als Freiheit bezeichnen.“ Ein Leben ohne Risiko sei kein Leben, und wirkliche Freiheit gäbe es in keinem Käfig, auch nicht, wenn er golden sei.

Was für uns oft rettungsbedürftig ist, ist in süd- und osteuropäischen Ländern die Norm. Hunde als Haustier zu halten ist dort eher die Ausnahme. „Die Einstellung zum Hund und die Art der Hundehaltung unterscheiden sich von unseren Vorstellungen. Die meisten Hunde haben eine gewisse Funktion, zum Beispiel als Wach- und Hofhund“, so Kirchhoff. Natürlich hat auch ein solches Leben Vor- und Nach­teile. „Sitzt der Hund den ganzen Tag an der Kette, ist das natürlich nicht so toll. Hat er aber die Möglichkeit sich als Besitzerhund frei zu bewegen und führt eine Art Teilzeitstraßenhundleben, dann ist das sicherlich für den Hund spannender, als 20 Stunden am Tag im Haus eingesperrt zu sein.

Nicht für jeden Hund ist das freie Leben so spaßig. Es gibt auch welche, die Hilfe bitter nötig haben. Viele dieser Hunde sind vom Leben auf der Straße geprägt oder anderweitig traumatisiert. Werden sie dann ins Ausland vermittelt, kann es zu Problemen kommen. Horrorgeschichten von Hunden, die nichts als Essensreste futtern und Radler ankläffen, schrecken den westeuropäischen Adoptionswillen. Doch es muss nicht immer in einer Katastrophe für Tier und Halter enden.

Alle wollen nur das Eine
Gerade Ex-Straßenhunde können besonders einfühlsam sein. So wie Melli, die bei Besuchern, die Angst vor ihr haben, so lange bewegungslos ausharrt, bis der Besuch es wagt, sie zu streicheln. Die heute 2,5-jährige Hündin stammt aus Bulgarien, wo sie von ihrem Besitzer misshandelt wurde. Seit eineinhalb Jahren lebt Melli nun bei Petra Mittermaier in Deutschland. Sie und ihr Lebensgefährte sind mit Hunden aufgewachsen und haben neben Melli noch zwei weitere Hunde, die aus dem Tierschutz sind. Die einjährige Viki hat neun Monate in Bulgarien auf der Straße gelebt. Sora, heute zwei Jahre alt, wurde als Welpe in Rumänien an einer Tankstelle ausgesetzt und hat dort lange im Tierheim verbracht. Heute genießen die drei Mädels die Zuneigung der ­Mittermaiers.

Egal ob im warmen, sicheren Zuhause oder in Freiheit auf der Straße lebend, eines haben die Hunde immer gemein: Das Bedürfnis nach menschlicher Liebe. Auch Gonca Kaya ist jedes Mal aufs Neue darüber erstaunt, dass die Hunde im Wald Futter und Knochen erst mal links liegen lassen, um sich erst einmal eine gehörige Portion Knuddeln und ­Kraulen zu holen. Menschliche Zuneigung wiegt selbst bei diesen Tieren noch immer schwerer als der blanke Überlebenstrieb. Auch der große Braune möchte schmusen. Die junge Frau krault ihm ein letztes Mal die Ohren und streichelt ihm über den Kopf, dann geht sie in den Supermarkt. Der große ­Braune zieht zufrieden von dannen.

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