Der Geologe Prof. Dr. Albert Heim (1849 – 1937) war nicht nur ein exzellenter Wissenschafter in seinem Fachgebiet, sondern auch ein kynologischer Experte, der noch heute zitiert wird. Auch in unserer vielbeachteten und bereits andernorts mehrfach zitierten dreiteiligen WUFF-Dokumentation über den „Rassewandel in der Zeit“ (WUFF April bis Juni 1997) veröffentlichten wir die berühmten Fotos der Albert Heim Foundation über vergleichende Hundeschädelskelette. Bei den ergänzenden Recherchen zum genannten Artikel stiessen wir auf eine Festschrift der Schweizer Kynologischen Gesellschaft (SKG), die 1933 ihr 50jähriges Jubiläum feierte. In dieser Festschrift gibt Prof. Heim einen guten und umfassenden Überblick über die Zughunde im speziellen, sowie über die Hunde zur damaligen Zeit im allgemeinen, was sich aus heutiger Sicht nur noch umso spannender liest.
Informatives Lesevergnügen
Wir wollen Ihnen die interessantesten Stellen dieser Schrift nicht vorenthalten und präsentieren Ihnen ein echtes Lesevergnügen, das Sie sich gönnen sollten. Sie erhalten seltene Einblicke in die damalige Situation für Hunde, seien es Rassehunde oder Mischlinge (letztere bezeichnete man als „Köter”, was damals nicht die negative Bedeutung hatte wie heute). Übrigens: Die Zwischentitel bzw. Überschriften des Artikels von Dr. Heim wurden der besseren Gliederung und Übersicht von der WUFF-Redaktion gesetzt, Dr. Heims Text selbst wird völlig unverändert wiedergegeben.
Der Zughund in der Schweiz A.Prof. Dr. Albert Heim, 1932
Noch zur Zeit der Gründung der S.K.G. (Anm. d. Red.: Schweizer Kynologische Gesellschaft) gab es viele Hundefreunde, die das Ziehen höchstens einem Köter, aber niemals einem edlen Rassehunde zumuten wollten. Aber heute wissen wir: Die Arbeit adelt. Der arbeitslose Hund ist ein Unglück wie der arbeitslose Mensch.
In der Schweiz mögen Hunde schon in vorhistorischer Zeit an den Schlitten oder an herbeizuschleppendes erlegtes Wild gespannt worden sein. Die Römer brachten uns dann vor etwa 2000 Jahren Rad und Wagen und den Zughund. Durch das ganze Mittelalter ist wahrscheinlich der Zughund in unserem Lande sehr verbreitet gewesen. Daß die Notizen darüber aus der historischen Vergangenheit so spärlich sind, beweist nur, daß der Zughund ganz allgemein und selbstverständlich war.
Helfer der Witwen
Der Zughund hatte immer seine größte Bedeutung in der Umgebung der Städte und Marktflecken zum Transport der Ware kleinerer Produzenten oder Händler. Metzger, Bäcker, Gärtner, Milch-, Butter- und Käselieferanten und viele andere mehr waren mit Hundefuhrwerk trefflich versorgt. Besonders ist der Zughund oft der Helfer von Witwen. Er zieht nicht nur den Wagen, er beschützt ihn auch, und benötigt nicht eines Stallgebäudes, nicht Extrafutter und Streue; wohl aber verrichtet er noch andere Dinge, im besondern ist er der Beschützer der Familie und ihres Eigentumes. Im Anfang des letzten Jahrhunderts gab es in der Schweiz noch viel mehr Zughunde als jetzt. Ungefähr in dessen Mitte begann ein zunehmender Rückgang. Leider fehlt jede Aufzeichnung über die Zahl der Zughunde der Schweiz in verschiedenen Jahren und Kantonen.
Über den Rückgang des Zughundes
Zwei Ursachen bewirkten den Rückgang in der Benutzung des Hundes zum Ziehen. Erstens: Die große Zunahme anderer Verkehrs- und Transportmittel aller Art. Zweitens: Die systematische Arbeit unverständiger Tierschutzbeflissener, die die Behauptung aufstellen, das Ziehen der Hunde sei Tierquälerei. Sie drängten sich den gesetzgebenden Behörden als ,,Sachverständige“ zur Errichtung besonderer Gesetzesbestimmungen auf. Da der Zughund doch nicht einfach verboten werden konnte, erzwangen sie Bestimmungen, welche praktisch den Hund mehr und mehr ausschalteten und ihm die sonst so gesunde, fröhlich verübte Arbeit wirklich zur Tierquälerei machten.
Gar keinen Wert haben Gesetzesbestimmungen über die maximale Last, welche dem Wagen des Zughundes aufgeladen werden darf. Zürich gestattet für Wagen und Ladung zusammen nur 120 kg, der Kanton Glarus 150 kg! Die Beschaffenheit der Straße hat auf die zu leistende Anstrengung viel größeren Einfluß als 30 kg mehr oder weniger an Wagenbelastung. Verfehlt ist ferner das Verbot des Kummets, weil bei richtigem Anpassen der Hund mit Kummets besser und leichter zieht, als im Sielengeschirr. Dagegen ist die Bestimmung des Mindestalters des Zughundes (St. Gallen 2 Jahre) sehr vernünftig. Es ist hier nicht der Ort, auf die vielen Bestimmungen kritisch einzutreten. Ich verweise auf meine allgemeine, eingehende Arbeit ,,Der Zughund” in Band XXIX (1930) des S.H.S.B. (Schweizerischen Hundestammbuches).
Rassehund oder Mischling?
Beim Zughunde handelt es sich selbstverständlich zunächst nicht um Rassereinheit. Es kommt nur darauf an, daß der Hund groß und stark gebaut und gesund ist, und daß er intelligent genug ist, um seine Arbeit zu leisten und zu begreifen. So finden wir denn unter den guten Zughunden unseres Landes mannigfaltige Bastarde. Die besten Abstammungswurzeln waren gegeben durch die Molosser, welche die Römer vor bald 2000 und abermals vor 1800 bis 1900 Jahren in unser Land gebracht hatten. Aus dem leichteren Typus sind sehr wahrscheinlich die schweizerischen Sennenhunde, aus dem schwereren die St. Bernhardshunde entstanden. Im Mittelalter fand anscheinend wenig Rassenaustausch unter den verschiedenen Ländern statt. In den Jahren 1750 bis 1850 und später noch einmal brachten uns zuerst die Engländer Neufundländerhunde, die vielfach als vorzügliche Zughunde dienten. Sie waren damals meistens größer, als die Bernhardiner heute sind. Dänische und deutsche Doggen kamen allmählich dazu, gelegentlich sind auch kleinere Hunde, seit 1870 sogar deutsche Schäferhunde verbastardiert zu Zughunden verwendet worden.
Ziehen mit Stolz und Eifer
Der beste Grundstock nicht nur, sondern auch die vollkommenste Ausbildung der Zughunde war uns in der Schweiz gegeben durch die Rasse der ,,Großen Schweizer Sennenhunde”, früher auch ,,Metzgerhunde“ oder „Große Blässe” genannt und zugleich, nahe an die großen heranreichend, die stammverwandten, etwas kleineren und langhaarigen ,,Berner Sennenhunde“ (Dürrbächler). Diese beiden Schweizerrassen sind sicherlich während vielen Jahrhunderten die fast einzigen und häufigsten Zughunde vor allen anderen gewesen. Stete Auswahl und Zuchtwahl unter Verwendung zum Hüten, Treiben, Beschützen und zum Ziehen der Wagen hat diese Tätigkeiten zu Instinkten befestigt. Wenn man einen solchen Hund zum ersten Male einspannt, so benimmt er sich meistens schon so, als wäre das, was da geschieht, alles selbstverständlich. Nach 1 Stunde Anweisung zieht er schon mit Stolz und Eifer, hält an auf Zuruf und läßt sich bald lenken.
Rassewandel bei Zughunden
Der alte große Neufundländer ist jetzt bei uns und auch in Deutschland und Frankreich ganz verschwunden. Zum letzten Mal sah ich noch als Zughund einen solchen an einer Ausstellung vor etwa 25 Jahren (ca. 1908) in München. In der Schweiz lebt er wohl nur noch in Bastarden als den Ausläufern. Dagegen sind, erst seit etwa dem Jahre 1800, Bernhardiner und Bernhardinerbastarde vielfach zum Ziehen verwendet worden. Das Anlehren zum Zug geht etwas weniger rasch als bei den Sennenhunden, aber viele gewöhnen sich gut und arbeiten sehr gut und mit Freude.
Die Guggisberger Korbflechter brachten früher stets mit von Berner Sennenhunden gezogenen Wagen ihre Waren zu Markte nach Bern. Jene Gegend zwischen Aare und Schwanwasser wird nach dem dortigen Dürrbach genannt und der Hund, den die Leute von dort nach Bern brachten, hieß „Dürrbächler”. Jahrhunderte, zwar noch ohne diesen Namen, war der Dürrbächler der Nationalhund des ganzen Kantons Bern und anstoßender Gebiete. Das Dürrbachgebiet beherbergte gegen Ende des letzten Jahrhunderts diese Rasse nicht als Ausgangsland, sondern als noch ein Rest aus früherer Zeit viel größerer Verbreitung. Nachdem es uns 1904 bis 1910 gelungen war, den Dürrbächler zur kynologischen Anerkennung zu bringen, um ihn nach seiner früheren Verbreitung „Berner Sennenhund” zu nennen, wurden solche Hunde wieder vielfach verlangt. Den Korbflechtern von Guggisberg wurden ihre Hunde auf dem Markte in Bern abgekauft. Schließlich war das Reliktgebiet ausverkauft und man mußte sich dort um andere Zughunde umsehen. Bernhardiner und Bernhardinerbastarde ziehen jetzt die Wagen der Guggisberger.
Der beste Zughund
Am Gebrauch der Hunde zum Ziehen hat sich die S.K.G. ursprünglich nicht aktiv beteiligt. Wohl aber hat sie manche derselben (Neufundländer, Bernhardiner und Sennenhunde), wenn sie rasserein und vom Richter gut beurteilt wurden, gerne in ihr Stammbuch aufgenommen. Das war die Regel bei den Großen Schweizer Sennenhunden, die erst 1908 bis 1912 beachtet und vom Verschwinden eben noch gerettet worden sind. Herr Jaussi, Präsident des Klubs für „Große Schweizer Sennenhunde”, schätzt den jetzigen Bestand guter Tiere dieser Rasse in der ganzen Schweiz auf wieder 250 bis 300. Einst waren es wohl zehnmal so viel, und darunter viele ohne Schwarz, ganz rotgelb. Die Zuchtrichtung geht ganz auf die ältesten, schwarzen Hunde mit rotgelben und weißen Abzeichen. Der ,,Große Schweizer Sennenhund” übertrifft an Schönheit, Kraft, Eignung und Charakter alle bisher verwendeten Zughunde, eingeschlossen den Belgischen, bei weitem. Er ist der beste Zughund, den es gibt!
Sinn von Ausstellungen und Prüfungen
Ausstellungen und Prüfungen von Zughunden sind schon oft in Belgien, Deutschland und Österreich abgehalten worden. In der Schweiz haben wir unter dem Protektorat der S.K.G. eine erste solche 1909 in Zürich und dann 1911 und 1913 weitere in Langenthal, und am 12.V. 1929 in Bern veranstaltet. Dabei galt es nicht dem Sport mit Rekorden. Vielmehr galt es, zu zeigen, wie der Zughund seine normale Arbeit leistet, wie er sich dabei benimmt, und wie er dazu geeignet ist. Es galt, Kritik zu üben am Hund, seiner Pflege, dem Wagen, dem Geschirr, um einen edlen Wetteifer unter den Zughundhaltern zu wecken und dieselben zu beraten.
Gesund – und stets mit Freude bei der Arbeit
Bei diesen Zughundeprüfungen zeigte sich immer, daß die Hunde große Freude an ihrer Arbeit hatten: Sie stellten sich sofort wedelnd in ihr Geschirr, keiner war dabei unwillig. Alle zogen sehr gut. Sie zogen eine bedeutende Last auch bergan, oder über frisch gekieste Straße mit der gleichen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, wie auf glatter, ebener Straße. Zur Leitung diente meistens nur das Wort. Peitschen werden bei uns nirgends gebraucht. Zug im Schritt paßt den Hunden nicht, das ist zu anstrengend. Der Hund will wenigstens in langsamem, noch lieber in schnellem Trab ziehen. An keinem der Tiere fanden wir irgend ein Gebrechen, das als Folge ihrer täglichen Zugarbeit gedeutet werden könnte. Unsere Tierärzte kennen überhaupt keine durch das Ziehen entstehende Krankheit bei den Zughunden. Manche sind mit 12 bis 14 Jahren noch gute, muntere Gesellen.
Nicht für Jedermann
Die Zughunde sind die glücklichsten, diejenigen, die am längsten jung bleiben. Sie überleben die Arbeitslosen! Die erbarmungswürdige Kreatur, die uns die Phantasie mancher Tierschutzleute vormalt, wo der magere, halbverhungerte Hund keuchend unter Schimpfen und Peitschenhieben seine Arbeit verrichtet, habe ich nie und nirgends gefunden. Allerdings möchte ich den Zughund nicht jedem Volke anvertrauen. Bei der Verwendung im Kriege werden Tierquälereien unabwendbar sein. Das liegt aber nicht am Prinzip des Ziehens, sondern an der Menschen-Sünde, die Krieg heißt.
Zürich, 7.X.1932.
Dr. Albert Heim, a.Prof.