Rotkäppchen … und der brave Wolf?

Von Gerald Pötz

»Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren! – Dass ich dich besser hören kann! – Ei, Großmutter, was hast du für große Augen! – Dass ich dich besser sehen kann! – Ei, Großmutter, was hast du für große Hände! – Dass ich dich besser packen kann! – Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul! – Dass ich dich besser fressen kann!« So hieß es in Brüder Grimms Märchen Rotkäppchen. »Das Böse« blieb dem Wolf bis heute angeheftet. Nach vielen Jahren des Versuchs, ihn auszurotten, ist er heute wieder dabei, sich hierzulande anzusiedeln.

Wenn man bedenkt, wie angefeindet heute schon große Hunde in der Stadt sind, fragt man sich, ob für den Wolf überhaupt Platz in unserer zunehmend hektischen und zubetonierten Zeit ist. Tierarten starben immer schon aus, wenn ihre Zeit gekommen war, doch ist für den Stammvater unserer Hunde jetzt die Zeit gekommen? Aus der Landwirtschaft und Jägerschaft werden zunehmend die Rufe nach Abschussgenehmigungen laut. Beispielsweise hat der niederösterreichische Landtag im September 2018 eine Änderung des Jagdgesetzes beschlossen, die bei Gefahr einen rascheren Abschuss von »Problemwölfen« ermöglichen soll. Der Wolf sei eine Gefahr für die Menschen in der Region, die Landwirtschaft und den Tourismus, so der Abgeordnete Franz Mold von der ÖVP. Bisher durften Wölfe in Österreich aufgrund ihres absoluten Schutzstatus weder in ihrem Bestand reguliert noch bejagt werden.

Der Wolf ist wieder da

Auch in Deutschland breiten sich Wölfe seit dem Jahr 2000 wieder aus. Laut dem DBBW (Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf) sind in Deutschland 73 Wolfsrudel bestätigt. Das geht aus neuen Erhebungen (Stand 11/18) der Bundesländer hervor, die durch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) und der DBBW zusammengeführt wurden. »Das Wolfvorkommen konzentriert sich weiterhin auf das Gebiet von der sächsischen Lausitz in nordwestliche Richtung über Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen bis nach Niedersachsen. Zum ersten Mal seit der Ausrottung der Art in Deutschland vor mehr als 150 Jahren ist zudem ein Rudel in Bayern bestätigt. Die meisten Tiere leben in Brandenburg, gefolgt von Sachsen und Niedersachsen.«, so der DBBW. Wölfe stehen auch in Deutschland unter strengem Schutz.

Laut DBBW ist damit die Zahl der in den Bundesländern bestätigten Rudel des Monitoringjahres 2017/2018 in Deutschland im Vergleich zum November 2017 um 13 gestiegen. Zusätzlich ist die Zahl der Wolfspaare von 21 auf 30 angestiegen. Außerdem wurden drei sesshafte Einzelwölfe bestätigt. »Die weiterhin positive Entwicklung der Wolfspopulation in Deutschland steht im starken Kontrast zum weltweit dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt.«, so der DBBW.

Truppenübungsplätze scheinen das ideale Areal für Wolfsansiedlungen zu sein, denn auch in Österreich hat sich auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig nach vielen Jahrzehnten – in Österreich galt die Art ab 1882 als ausgestorben –, das erste Wolfsrudel niedergelassen. Ein einzelner Wolf wurde erstmals 2015 gesichtet, ein erstes Wolfspaar im Januar 2016 und schließlich konnten im Sommer 2016 mit einer Wildkamera erstmals fünf Jungwölfe festgehalten werden. Der VgT (Verein gegen Tierfabriken) hält fest, dass das in Allentsteig angesiedelte Wolfsrudel im Jahr 2017 kein einziges Nutztier gerissen, keinen Menschen bedroht, den Truppenübungsplatz nie verlassen und auch keine anderen Wölfe ins Revier gelassen habe. Ernährt hätten sich die Wölfe hauptsächlich von Hirschen. Der VgT hat berechnet, dass dieses siebenköpfige Rudel in einem Jahr rund 20% des von Menschen gejagten Wildbrets gerissen hat. Als Großraubtier bevorzugt der Wolf Hirsche, Rehe oder Wildschweine, gelegentlich auch kleinere Tiere. Ältere und kranke Tiere sind eine leichte Beute für ihn. Damit übernimmt er aber auch eine wichtige Rolle im Ökosystem, weil er die Bestände vor allem der mittelgroßen Huftiere kontrolliert.

Zurück zu den Wölfen in der Lausitz, dem ersten von Wölfen besiedelten Gebiet in Deutschland. Hier wurde in einer langjährigen Studie der Kot der Wölfe analysiert, was zu interessanten Ergebnissen geführt hat: Wölfe essen mehr Obst als Nutztierfleisch. Ihr durchschnittliches Nahrungsspektrum umfasst 1,7% Nutztierfleisch und 1,9% Früchte. Der Rest teilt sich auf Wild, Kleintiere etc. auf. »Wildschwein, Rothirsch und Reh kommen in Mitteleuropa in viel zu hohen Populationsdichten vor. Sie machen einen Großteil der Nahrung aus, wenn die Wolfsrudel etabliert sind«, so der VgT. Die Gründe für Wolfsrisse werden so erklärt: »Einzelne durchziehende Wölfe auf der Suche nach Partnern oder Partnerinnen und einem eigenen Revier müssen sich nehmen, was sie kriegen können, und das wären Schafe und Ziegen, wenn diese ungeschützt auf einer Weide stehen. Lassen wir die Wolfsrudel sich etablieren, dann werden Übergriffe auf Nutztiere zurückgehen!«

Wölfe sind sehr anpassungsfähig und brauchen keine Wildnis, um sich niederzulassen. Sie kommen mit nahezu jeder Umgebung zurecht, in der sie ausreichend zu fressen finden und sie nicht vom Menschen verfolgt werden. Dass Wölfe absolut flexibel sind, zeigt auch ein Blick über die Grenzen. Obwohl sie im Laufe der Jahrhunderte in immer entlegenere Waldgebiete zurückgedrängt wurden, werden heute Wölfe schon in Vororten Roms gesichtet. In Spanien leben Wölfe mitunter mitten in riesengroßen Agrarmonokulturen.

Der böse Wolf …?

Dass Rotkäppchen nur ein Märchen ist und vom Wolf keine Gefahr gegenüber Menschen ausgeht, sollte mittlerweile bekannt sein. Die Wolfsexperten Elli H. Radinger und Günther Bloch berichten in ihrem Buch »Der Wolf kehrt zurück« (Kosmos Verlag, 2017) von 7.673 dokumentierten Wolfsbegegnungen zwischen 1996 und 2014, bei denen nicht die leiseste Bedrohung vorhanden war. Seit 1950 seien nur vier tödliche Angriffe auf Menschen durch Wölfe in ganz Europa dokumentiert, so Radinger und Bloch. In Österreich und Deutschland ist seit dem 18. Jahrhundert kein Angriff bekannt. Die Gefährlichkeit, die von Wölfen ausgehen soll, ist von den Medien geschürt, ähnlich wie beim andauernden Thema über die sog. Listenhunde.

Gibt es einen gemeinsamen Nenner?

In einem Punkt sind sich Tier- und Naturschutz-Organisationen, Jäger und Landwirte einig: Es braucht präventive Management-Maßnahmen und klare Regelungen. Damit sind aber bestimmt keine Abschussquoten gemeint. Der Umweltschutzverein »Kuratorium Wald« hat beispielsweise einen 10 Punkte-Plan für ein Wolfs-Management ausgearbeitet. Darin enthalten sind Empfehlungen wie der Austausch mit unseren Nachbarländern, die Schaffung einer soliden Datengrundlage, die Definition von Wolfszonen oder der Erlass einer Wolfsverordnung, um nur ein paar Punkte zu nennen. Aber auch die Jäger müssen in die Pflicht genommen werden, heißt es in dem 10 Punkte-Plan: »Die Hauptnahrung des Wolfes sind Rehe, Hirsche und Wildschweine. Der Wildbestand wird seit Langem durch Winterfütterung auf einem zu hohen Niveau gehalten, dies führt zu immensen Schäden im Forst, da es zu starkem Verbiss von Jungbäumen kommt und der Wolf findet einen reich gedeckten Tisch, was ihm wiederum die rasche Ausbreitung erleichtert.«

Der Wolf ist hierzulande seit einiger Zeit in aller Munde, dabei reden wir von einer Population von weniger als 25 Tieren in Österreich und 60 Rudeln bzw. 13 Wolfspaaren in Deutschland. Der Wolf ist Teil des natürlichen Ökosystems Europas, stellt der Umweltschutzverein »Kuratorium Wald« klar. Weiter: »Jede Art, die schon immer heimisch war, hat ein ausdrückliches Recht zu überleben, da sie seit jeher Teil unserer Natur war. Wir haben ja schließlich dem Wolf die Überlebenschancen durch Tötung weggenommen. In seiner ökologischen Rolle als Spitzenprädator hat er keine natürlichen Feinde. Die Population eines Spitzenprädators wird also von unten und nicht von oben geregelt, also durch das Nahrungsangebot.«

Die Zaun-Diskussion

Ein Zaun ist sicher kein Allheilmittel zum Schutz von Schafen und Ziegen, aber es ist eines von mehreren möglichen Mitteln. »Kuratorium Wald« hält zum Thema Zaun fest: »Während Zäune in manchen Fällen Herden schützen können, gefährdet ein großflächiges Einzäunen die freie Begehbarkeit von Wald, Wiese und Alm. Dies schadet sowohl Naherholung als auch Tourismus und hat auch für Wildtiere Konsequenzen, da sie in ihrer Mobilität ebenso eingeschränkt werden wie der Wolf. Daher können Zäune nur in bestimmten Fällen als Herdenschutzmaßnahme dienen. Generell gilt: es gibt eine Palette aus Herdenschutzmaßnahmen, und keine davon deckt alleine alle Situationen ab. Nur durch eine intelligente Kombination der bestehenden Möglichkeiten kann Herdenschutz effizient gestaltet werden.«

Der VgT empfiehlt für den Schutz von Schafen den Einsatz von Elektrozäunen, wie in der Schweiz, den Einsatz von Hirten, wie in Rumänien bzw. den Einsatz von Herdenschutzhunden, Lamas oder Eseln. Laut VgT soll der Wolf sogar zahlreiche positive ökologische Auswirkungen haben:

• Die Populationen von Rehen und Hirschen werden gesünder, weil der Wolf kranke Tiere entfernt.
• Der Wolf treibt die Paarhufer (Reh und Hirsch) aus ihren Einständen im Dickicht, wo sie den meisten Schaden am Wald anrichten, hinaus in die offenen Flächen, weil sie sich dort sicher fühlen.
• Der Wolf hilft die Paarhufer-Populationen, die derzeit für den Wald zu hoch sind, weil sie von der Jagd künstlich hochgehalten werden, zu reduzieren. Das hat wiederum positive Auswirkungen auf Wald und Tiere.

Das Wolfsforschungszentrum

Das Wolf Science Center (WSC) im niederösterreichischen Ernstbrunn hat mittlerweile weltweit Anerkennung für seine wissenschaft­lichen Aktivitäten gewonnen. Was tun die Wissenschaftler im Wolf ­Science Center eigentlich und wie tun sie es? Das wissenschaftliche Interesse kreist um die kognitiven und kooperativen Fähigkeiten von Wölfen und Hunden, vor allem im Zusammenhang mit ihren Sozialbeziehungen zu Artgenossen und zu menschlichen Partnern. Aktuell arbeitet das WSC an Forschungsprojekten zu Themen wie: Warum jagen Wölfe in Gruppen? Hat sich der Hormonhaushalt der Hunde durch die Domestikation verändert? Sind Wölfe sozial unabhängiger als Hunde? Diesen und anderen Fragen geht das WSC-Team im Rahmen seiner Forschungsprojekte nach. Derzeit arbeiten 40 Personen im Wolf Science Center, das man übrigens auch mit Hund besuchen kann.

Heissen wir ihn willkommen!

Fest steht also, der Wolf kehrt in seine angestammte Heimat zurück, nachdem er vom Menschen bei uns schon ausgerottet war. Auch wenn die Sorgen der Landwirte ernst genommen werden müssen und daher Herdenschutzmaßnahmen erforderlich sind, so stellen sich Wissenschaftler und Naturschutzverbände grundsätzlich gegen den Versuch der neuerlichen Ausrottung der Wölfe durch Landwirte und Jäger. Nach einer Etablierung der Wölfe werde sich das Ökosystem mit Unterstützung eines wissenschaftlich fundierten Wolfs-Managements von selbst regulieren.

Niemand braucht vor dem menschenscheuen Wolf Angst zu haben, Menschen schon gar nicht, auch wenn das Thema »Wer hat Angst vorm bösen Wolf« sich medial gut verkaufen lässt. Hier ist auch an die Verantwortung der Journalisten zu appellieren, eine falsche Angst auch dann nicht zu schüren, wenn es hie und da zu Zwischenfällen kommt. Die positiven Effekte der Rückkehr des Wolfes in seine Heimat würden überwiegen, so Naturschützer und Wissenschaftler einhellig, und es ist zu hoffen, dass wir heute mit mehr Vernunft damit umgehen als dies in früheren Zeiten der Fall war. Heißen wir den noch lebenden Urahn unserer Hunde bei uns willkommen!
»Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und von nun an tat ihm niemand mehr etwas zuleide.« Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute …

Der Wolf in Zahlen

Europa (ohne Russland): ca. 10.000 Wölfe (Quelle WWF)
Österreich: ca. 25 Wölfe
Deutschland: ca. 40 Wolfsfamilien (Quelle WWF)
Alpen: ca. 250 Wölfe (Quelle WWF)

Links

Lesen Sie mehr zum Thema Wölfe auf dogodu.

www.dbb-wolf.de
vgt.at
www.wolfscience.at
www.wwf.at/de/wolf

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