Qualzucht – Die Ursachen und ihre Bekämpfung

Von Dr. Hellmuth Wachtel

Der Einfluss des „Domestikators" Mensch auf die Entwicklung des Haushundes war nicht immer positiv. Als besonders erschreckender und folgenschwerer Auswuchs tauchte in den letzten 50 Jahren zunehmend die sogenannte Qualzucht auf. Wie kann ein weiterer folgenschwerer Niedergang des Hundezuchtwesens aufgehalten werden? Wie soll es nun weitergehen?

Erst in allerjüngster Zeit ­konnte geklärt werden, dass der Haushund eindeutig unser bei weitem ältestes aller Haustiere ist, domestiziert vor ca. 16.000 Jahren zunächst in China und dann auch in Nahost. Doch schon vor dieser Zeit, nämlich vor über 30.000 Jahren hat es in Eurasien da und dort „Wölfe" mit sehr deutlichen Haushundmerkmalen gegeben, deren Reste man in ­Belgien, der Tschechei, ­Nordrussland, am Ural und am Altai, also in ­Tausende Kilo­meter voneinander entfernten Regionen gefunden hat. Mit ­großer Wahrscheinlichkeit waren das also bereits früheste Hunde. Dies in einer Zeit, die dem Großwild, wie dem ­Riesenhirsch, dem Rentier, dem Wisent, ­Wildpferden und dem ­Mammut gehörte. Diese Nahrungsquellen ausnützend hatte sich der Mensch daher bereits zum fakultativen „Raubtier" hochent­wickelt und lebte deshalb als Großwildjäger im Überfluss. Vermutlich half ihm dabei bereits der domestizierte Wolf als Jagdgehilfe und schützte und wärmte ihn in der Nacht. Den Kopf eines solchen mutmaßlichen „Urhundes" hat man z.B. in einer Art ­„Hütte" aus Stoßzähnen des Mammuts in Nordrussland gefunden. ­Hunde ­sollen sogar dem Homo sapiens im Verdrängungskampf gegen ­seinen Rivalen, den Neandertaler, wesentliche Dienste geleistet haben.

Dann kam die Eiszeit, aus der solche Funde bislang nicht mehr festzustellen sind. Offenbar wurde diese erste Entwicklung der Domestikation durch die Eiszeit wieder ausgelöscht. Doch aus der Zeit danach, eben vor nun etwa 16.000 Jahren, stammen die ersten molekulargenetischen Spuren von der offenbar erneuten (und wohl endgültigen) Domestikation des Wolfes in Südchina.

Wenige Tausend Jahre später wurde der Wolf auch im Nahen Osten domestiziert und der Hund verbreitete sich dann rasch über die gesamten von Menschen bewohnten Regionen. Das war wohl auch der Beginn der enorm vielfältigen Abweichungen des Aussehens des Haushundes vom Stammtier Wolf, mit Größenunterschieden, wie sie bei keinem anderen Haustier vorkommen. Molekular­genetische Untersuchungen über das für geringe Größe zuständige Gen beim Haushund zeigen dies. Das mag wohl auch der Beginn der ersten Qualzucht gewesen sein. Denn die Zucht auf geringstmögliche Größe führt ja bereits zu verschiedenen Beschwerden und Leiden des Tieres. Damit waren nun wohl auch Hunde entstanden, um emotionale Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen, zum Teil auch als Ersatz für Kinder, als Pflegeobjekte und zum Gern­haben. In den entwickelten Ländern des ­Westens haben Hunde heute von allen Haustieren den höchsten emotionalen Stellenwert. Sie stehen dem Menschen am nächsten, sind Gefährten, Kumpane, Gehilfen, Schutz, Erzieher und noch vieles andere mehr. Nur lokal dienen sie auch als Nahrung wie ­andere Haustiere.

Alles dreht sich um den Hund
Eine eigene Industrie bemüht sich heute um die besten Produkte für die Ernährung, die Pflege, das Wohlbefinden und die Beschäftigung von Hunden. Der gesetzliche Tierschutz soll Grausamkeiten und Quälereien durch entsprechende Maßnahmen verhindern. Und die Züchter und ihre Organisationen sollen die Eigenschaften und Qualität der Hunderassen aufrecht erhalten und weiterhin verbessern. Warum dann gibt es trotzdem noch immer nicht wenige Hunderassen, deren Zuchtergebnisse für die Tiere ein Leben mit Schmerzen, Leiden und Krankheiten mit sich bringen? Warum haben trotz aller dieser Errungenschaften die Besitzer solcher Hunde mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit mit unzumutbar hohen Kosten, Kummer und Leid durch den Erwerb und die Haltung von Hunden dieser Rassen zu rechnen? Was ist hier offenbar völlig schief gelaufen?

Der Hauptgrund dieser Fehlentwicklung ist wohl in dem menschlichen Streben nach Perfektion, also nach Vervollkommnung einer Rasse zu sehen. Das steht auch tatsächlich so in den Statuten der Züchtervereine. Sie alle suchen nach Verbesserung, nach der Optimierung ihrer Rasse – oder was sie dafür halten. Doch die Definition der gesuchten Verbesserung – der sog. Rassestandard – hat sich je nach Rasse in den letzten hundert Jahren wesentlich geändert. Die meisten Rassen haben, wenn sie zuvor Gebrauchshunderassen waren, ihre Aufgaben verloren. Die neue Aufgabe wurde nun die „Schönheit", also das perfekte Aussehen gemäß dem Standard. Nur zu bald jedoch kam es zu dessen maßloser Übertreibung oder sogar Karikierung.

Es ist das große Verdienst der ­britischen ­Dokumentarfilmerin ­Jemima Harrison, 2008 mit ihrem Film ­„Pedigree Dogs Exposed" ­(Rassehunde bloßgestellt) das unglückliche Schicksal so mancher Hunderasse und die Ursachen medien­wirksam aufgezeigt zu haben. In Großbritannien, das ja mit der Gründung des Kennelclubs 1873, des ersten Rassezuchtklubs der Welt, zur „Mutter der Rassehundezucht" wurde und wo bis vor kurzem noch wenig bis gar keine Zurückhaltung bei Inzucht und extremer Standard­auslegung bestand, reagierte der ­Kennel Club nach anfänglichem Schock zunächst äußerst kritisch. Bald jedoch änderte sich diese Haltung. So wurde dann beispielsweise die Inzestzucht verboten und auch die Inzucht soll nun reduziert werden. Zudem wurden die Rassestandards überarbeitet und dabei 15 sog. ­Qualzuchtrassen – dort etwas euphemistisch „high profile breeds" genannt – ­besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zu diesen Qualzuchtrassen zählen unter anderem Basset, English Bulldog, Mops, Chow Chow, ­Pekingese und Deutscher Schäferhund. Und zum allerersten Mal wurden kürzlich Championkandidaten aus dieser Liste, bevor sie den Titel erhalten konnten, tierärztlich untersucht und tatsächlich einige ausgeschlossen (s. CRUFTS, in WUFF 5/2012, S. 50). Bei ihren Besitzern führte dies zu großem Unmut, obwohl es eigentlich immer schon eine Selbstverständlichkeit hätte sein müssen!

Inzwischen sind nach der Erstausstrahlung von „Pedigree Dogs ­Exposed" drei Jahre vergangen und Jemima Harrison brachte nun ihren Folgefilm „Pedigree Dogs Exposed Three Years On" heraus, worin auch über die vielfältigen Auswirkungen des ersten Films berichtet wird.

Formen der Qualzucht
Die Karikierung des Rassestandards ist eine häufige und wesentliche Form der Qualzucht. Unverständlich, dass so etwas eine „Verbesserung" sein soll. Vielmehr ist sie meist mit einer Verminderung der funktionellen und organischen Fähigkeiten sowie der Gesundheit des Hundes verbunden. Hunde­rassen, die im Aussehen schon von vornherein von der typischen Canidenanatomie auffallend abweichen, sind daher in großer Qualzuchtgefahr. Das betrifft zum Beispiel die niederläufigen Hunde, wie den Dachshund und die Bassetrassen. Bei ersterem wird durch kurze Läufe das Eindringen in den Dachs- und Fuchsbau ermöglicht, bei der Zwergform auch in den Kaninchenbau. Jedoch verglichen mit alten Bildern der Rasse sind deren Läufe noch viel kürzer geworden, im angelsächsischen Ausland sogar übermäßig. Das verstärkt zusätzlich die Neigung dieser Rassen zu Bandscheibenvorfällen.

Lange Ohren werden vor allem auch bei den niederläufigen Jagdhunderassen mit Vorliebe noch gerne über­mäßig verlängert, beim Basset so sehr, dass er fast darauf tritt. Gern wird das mit einer besseren „Zusammenhaltung der Witterung" beim Fährten erklärt, doch darüber gibt es meines Wissens keine Studie, die das beweist.

Ein weiteres Problem sind Falten: sie erfordern eine ständige aufmerksame Pflege, manche Rassen werden aber auf deren Übermaß gezüchtet, so etwa der Shar Pei oder bei der exzessiven Form des Mastino Napoletano. Bei ersterem werden so in der westlichen „Hochzuchtform" manchmal Operationen an den sonst durch die Faltenmengen sozusagen „zuge­kniffenen" Augen nötig.

Wolliges, ständig wachsendes Haar ist an sich keine Qualzucht, sofern es regelmäßig gekürzt wird, wie etwa beim Pudel. Beim Puli oder Komondor wird das aber oft unterlassen, vor allem, wenn er ausgestellt ­werden soll, und das ist dann eher als „Qualhaltung" denn als Qualzucht zu qualifizieren. Der Hund hat dann zwar immer noch den Geruchssinn und den Tastsinn mit den Vibrissen – das sind die Tasthaare an der Schnauze – zur Verfügung, dennoch ist die züchterische Behinderung des Sehvermögens eine unzulässige Verirrung.

Allzu kleine (sog. „Teetassen"-) ­Hunde sind gleichfalls einer Reihe von Gefahren, Leiden und Behinderungen ausgesetzt. Gerade sie sind aber derzeit hoch in Mode, auch weil u. a. Paris Hilton und andere bekannte Personen sie bevorzugt präsentieren.

Die Nachfrage nach Hunden „fürs Liebhaben" wurde zu einem starken Motor zur Zucht von runden Köpfen durch Brachyzephalie und zu extremen Zwergrassen. Damit entstanden die Qualzuchtprobleme beim Mops, dem Pekingesen und anderen Rassen. Aber sogar ein früherer Arbeitshund wie der Englische Bulldog ­wurde zum Opfer einer übertriebenen Schnauzen­verkürzung. Vor allem kleine kurzschnauzige Rassen wie der Mops regen beim Menschen den Pflegetrieb besonders an, da sie durch ihre Kopfform an Kleinkinder erinnern (sog. Kindchenschema). Weil dieser Trieb sehr stark ist und das die Nachfrage nach Hunden dieser Art fördert, wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedenen Rassen ultraschnell die Nasen einfach „weggezüchtet". Das Resultat ist eine mehrfache Behinderung und oft schweres Leiden. Die Atmung ist oft eingeschränkt, vor allem bei höherer Temperatur. Die Wärmeregelung, die beim Hund vor allem in der Nase – und nur zum Teil durch Hecheln – erfolgt, ist beim kurznasigen Hund oft nicht mehr ausreichend, denn die Luftwege sind verengt und die Kühlung in den Nasenmuscheln kann nicht aus­reichend erfolgen. Beim Atmen entsteht dadurch oft ein schnarchendes Geräusch, das alles andere als Behaglichkeit ausdrückt, als was manchmal Mopsbesitzer dieses bezeichnen. Die ­Wärmeregulierung ist beim Hund schon von Natur aus keine sehr effektive, sie wird bei ­kurzer Schnauze daher noch geringer. Dafür ist bei Rassen wie dem Mops in der Nase einfach kein Platz mehr.

Soweit eine kurze und nicht vollständige Darstellung der Formen von Qualzucht. Sie entstand gerade auch in einer Zeit, in der es bereits Tierschutzgesetze gab, welche die früher häufig vorgekommene brutale Behandlung von Haustieren endlich verhindern sollten. Und dennoch konnte gerade heute trotzdem eine neue, besonders unheilvolle Art von Tierquälerei entstehen. Warum war dies möglich?

Problem Einzelrichter
Ich habe schon früher darauf hingewiesen (s. WUFF 7/2011), dass diese negative Entwicklung mit dieser großen Geschwindigkeit nur infolge der einseitigen Gesamtbewertung durch Einzelrichter auf den Hundeausstellungen erfolgen konnte. Der britische Kennel Club hat nun, wie erwähnt, als Erster begonnen, teilweise darauf zu reagieren, und nach der Bewertung durch den Einzelrichter für Champion­anwärter vor der Prämierung eine tierärztliche Beurteilung eingeschaltet, wenngleich bislang nur für einige sog. Qualzuchtrassen. Ich meine allerdings, dass es schon ein Team von drei Fachleuten sein sollte, wie einem Tierarzt, einem Kynologen und einem Formwertexperten. Damit könnte nicht mehr ein einzelner Richter allein das Resultat in eine exzessive Richtung lenken, wie dies bislang leider so oft geschehen ist. Auch sollte die Beurteilung des Hundes nicht mehr im Rahmen der bisherigen Art von Hundeausstellungen mit all ihren Ablenkungen und ihrer Jahrmarkt­atmosphäre erfolgen.

Eine solche mehrfache fachkund­liche Beurteilung von Rassehunden, mit denen gezüchtet werden darf, erscheint mir als eine unbedingte Voraussetzung, um die Schaurassehunde künftighin vor schweren Leiden zu schützen und ihren Besitzern hohe Kosten für kranke Hunde und viel Kummer zu ersparen. Allerdings muss dies auch durch einen Leistungstest ergänzt werden, um das erforderliche Niveau an Gesundheit und Vitalität zu gewährleisten!

Konkurrent Designer Dog
Ein neuer Aspekt kommt hinzu: Den Rassehunden ist mit der geplanten Zucht sog. Designer Dogs neue Konkurrenz erwachsen. Obwohl zu deren Zucht Rassehunde als Ausgangsrassen erforderlich sind (Designer Dogs sind stets nur eine F1-Generation, man züchtet also mit ihnen nicht weiter), gefährden sie doch die noch vorhandene genetische Vielfalt der Reinzuchtrassen weiter. Warum? Mehr Konkurrenz bedeutet weniger Nachfrage für Rassehunde, daher werden diese weniger gezüchtet, wodurch sich die genetische Variabilität der Rassehunde noch weiter verringert. Weil bei ­Designer Dogs durch die Kreuzung zweier Rassen exzessive Merkmale meist in geringerem Ausmaß auftreten, ist hier seltener von Qualzucht zu sprechen. Mancher Interessent mag sie deshalb den reinen Rassehunden vorziehen. Umso mehr muss daher die wirksame Bekämpfung der Qualzucht auch im Eigeninteresse der Rassehundezucht vorrangig werden.

Fazit
Zusammenfassend ist festzuhalten: Qualzucht ist eine schwerwiegende Fehlentwicklung der Rassehundezucht. Sie wird bei vielen Rassen verursacht durch den Verlust der „Leistungszucht", was die einseitige Selektion lediglich nach dem äußeren Erscheinungsbild („Schönheit", bzw. dem, was dafür gehalten wird) mit sich brachte. Zudem wird dies auch noch durch modische Vorlieben verzerrt, erleichtert durch die einseitige Auswahl durch einen einzelnen Zuchtrichter in der Jahrmarktatmosphäre von Hundeausstellungen. Große, auffällige Hunderassen sowie kleine, kurzschnauzige sind durch diese Entwicklung besonders gefährdet, letztere durch das Lorenz’sche Kindchenschema, das dabei noch auf Kosten der Gesundheit dieser Rassen zu optimieren versucht wird.

So ist die Qualzucht heute zu einer neuen, besonders gefährlichen Entwicklung in der Rassehundezucht geworden. Dies zusätzlich zu den schon bestehenden Problemen der Rassehundezucht, wie etwa dem Verlust der vitalitätsfördernden Leistungszucht bei vielen Rassen, der Championzucht (favorite sire), der Verringerung der genetischen Vielfalt und der massiven Inzucht.

Die Tendenz zu Qualzuchten ist ­heute bereits so stark, dass sie meines Ermessens alleine durch eine verbesserte Ausbildung der Formwertrichter nicht mehr aufzuhalten ist. Vielmehr wird nun eine kooperative Bewertung gefordert. Neben der Formwertfeststellung sollte auch eine veterinär­medizinische und eine Verhaltens­beurteilung durch ein Fachteam erfolgen. Nur so wird ein weiterer Niedergang des Hundewesens durch das veraltete Zuchtsystem aufzu­halten sein.

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