Unten am Bosporus reiht sich eine elegante Boutique an die andere. Die Kundschaft kommt von den unzähligen Kreuzfahrtschiffen, welche die historischen Gewässer um Istanbul befahren, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Gerade mal einen Steinwurf von den Boutiquen entfernt hat eine Hündin im Schatten großer Bäume mehrere Welpen geworfen, verborgen zwischen den Schutthalden, die sich im Laufe der Restaurierung einer byzantinischen Kirche dort angesammelt haben. Die Kleinen sind nun schon einige Wochen alt und haben begonnen, auf eigene Faust die ruhigen Hinterhöfe zu erkunden. Einer der Welpen hat einen Menschen gefunden, ein junges Mädchen, das in einer der Boutiquen arbeitet und dem kleinen Hundebaby etwas Wasser gegeben hat. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der kleine Kerl gelernt hat, in dieser Umgebung für sich selbst zu sorgen. In der Nähe liegen Fischerboote, deren Besatzung dort auch die Netze reinigt, nachdem sie ihren Fang zum Markt an der Galata Brücke gebracht hat. Und es gibt dort auch zahlreiche Straßencafés, wo gutherzige Touristen dem kleinen Vierbeiner hin und wieder schon mal einen Bissen zustecken, wenn auch die Kellner immer wieder versuchen, den Welpen zu verscheuchen, wenn der Gast gerade nicht hinschaut.
Etwas weiter oben nahe dem Stadtzentrum hat es sich ein erwachsener Hund mit dem Rücken an einer Marmorsäule gemütlich gemacht und schnarcht vor sich hin. Der uniformierte Portier vor dem piekfeinen Hotel scheint sich nicht darum zu kümmern, und es kommt ihm auch nicht in den Sinn, dass der Hund auf die zahlungskräftigen Kunden einen schlechten Eindruck machen könnte. Ein abgenutzter gelber Plastikclip mit einer Nummer baumelt vom Hundeohr herab. Die Stelle ist wund und scheint ein wenig entzündet zu sein, aber der Clip bedeutet, dass sich Jemand um ihn kümmert. Da hat sich wer die Zeit genommen, ihn registrieren zu lassen. „Er gehört zum Hotel, weil er sich immer hier aufhält“, erklärt der Portier. Als der Hund seine Stimme hört, blinzelt er kurz, um nachzuschauen, warum sein Freund wohl das beruhigende Verkehrsgeräusch unterbrochen hat. Und dann döst er wieder weiter vor sich hin.
Ruhig und gelassen
Auf dem Taksim Platz liegt eine Hündin, in der prallen Mittagssonne im Gras und lässt sich vom tosenden Verkehrslärm nicht stören. Sie muss da schon eine ganze Weile gelegen haben, denn der Schatten des Verkehrszeichens, in dem sie sich ausgeruht hatte, ist schon längst weitergewandert und bietet ihr nun keinen Sonnenschutz mehr. Sie sollte sich wirklich woanders hinlegen. Doch sie hebt nur ihren Kopf, der dem eines reinrassigen Anatolischen Hirtenhundes (Kangals) gleicht, und fällt zurück in ihre Meditation, auch wenn die Sonne ihr ziemlich heiß auf den Pelz brennt. Ein junges Pärchen in top-modischer westeuropäischer Kleidung beobachtet sie, während es auf den Bus wartet, lächelt und macht ein paar Bemerkungen, wahrscheinlich über die gesunde Lebensphilosophie des Hundes. – Vor einer der Botschaften hält ein anderer Hund Wache. Er scheint dort hinzugehören, denn er beobachtet das geschlossene Gittertor, lässt aber dann doch jeden passieren, der hinein will.
„Tourismusexperte“ Hund
Istanbul ist eine Metropole ohne nennenswertes Hunde-Problem. Natürlich trifft man Straßenhunde bei den Minaretten und Moscheen, häufig mit einer Ohrmarke als Zeichen dafür, dass jemand für sie verantwortlich ist. In anderen großen Städten kann es aber ganz anders aussehen. Manchmal geht es den Hunden dort so schlecht, dass sie einem leid tun können. Und in einigen Städten, wie z. B. in Paris, sind es nicht die Streuner, die zum Straßenbild gehören, sondern die ganz normalen Haushunde. Dass die oft frei herumlaufen, wird zwar geduldet, stößt aber nicht immer auf Verständnis.
Viele von uns neigen dazu, alle Straßenhunde zu bemitleiden. Und das kann ganz schön deprimierend sein, wenn man die Welt bereist. Die großen Städte sind voll von Streunern, die den Tag im Schatten verschlafen und dann in der Kühle der Nacht hervorkriechen und ihre Runde von einer Küchentür zur nächsten und von Mülltonne zu Mülltonne machen. Man kann diese Straßenhunde nahezu in jedem Winkel der Erde finden, wo sie zwar mitten unter uns leben, jedoch fast ohne menschlichen Kontakt. Nach vielen Generationen auf der Straße haben diese Hunde gelernt, den Menschen genau zu beobachten. Sie haben gelernt, was es bedeutet, wenn ein Kellner sich nach einem Stein bückt. Und sie wissen genau, was zu tun ist, wenn eine blonde Touristin sie mitleidig anschaut und dann in den Tiefen ihrer Badetasche nach etwas Essbarem für sie sucht.
Das Heulen der Heimatlosen
In manchen Städten sind die Streunerhunde zu einem riesigen Problem geworden. In Mexico City zum Beispiel wird ihre Zahl auf über eine Million geschätzt. Grundsätzlich stellen diese Hunde keine Gefahr für den Menschen dar. Sie sind schlau und haben sich ihrer Umgebung angepasst. Selbst die großen Rudel, die durch die Straßen einiger Städte ziehen, haben viel zu viel Respekt vor dem Menschen, als dass sie irgendwelchen Ärger riskieren würden. Sie trotten lässig dahin und blicken kaum auf, wenn sie vorbeilaufen. Dabei tun sie so, als ob es in der Ferne etwas unheimlich Wichtiges zu sehen gäbe. Und es klingt schon irgendwie gespenstisch, wenn das Heulen der Heimatlosen nachts zwischen den Pyramiden von Gizeh bei Kairo widerhallt. Und in Rom tappen sie wie Spukgestalten durch die dunklen Gänge des Colosseums, wo sie dann in den frühen Morgenstunden zwischen den antiken Ruinen bellen und heulen.
Noch viel zu erforschen
Große Städte können wegen ihrer Straßenhunde aufregende Reiseziele für Verhaltensforscher und an Hunden Interessierte sein. Es gibt jedoch nur sehr wenige Orte, wo man wirklich noch große Rudel beobachten kann, wie sie miteinander leben, ohne dass der Mensch sich mehr als nötig einmischt, obwohl er Teil ihrer Umgebung ist. Zwei Jahre lang habe ich in einem winzigen Viertel von Athen gelebt und das Glück gehabt, das dort heimische Hunderudel kennenzulernen. Jeden Abend wurden sie wach und kamen dann aus den verschiedensten Ecken hervor, um sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Sehr schnell wurde mir klar, wer der „Chef“ war, und wer welchen Platz in der Rangordnung einnahm. Zwar gab es Unterschiede von der Größe oder vom Alter her, auch hatte nicht jeder Hund den gleichen Zugang zum Futter oder zu einer läufigen Hündin, aber im Großen und Ganzen kam die Gruppe gut miteinander aus, und Auseinandersetzungen waren relativ selten, nachdem die Rangordnung erst einmal geklärt war. Die Menschen um sie herum mischten sich niemals in die Angelegenheiten des Rudels ein. Sie gaben zwar den einzelnen Hunden passende Spitznamen, aber die Hunde hörten nicht auf diese Namen. Persönlich habe ich eine ganze Menge gelernt, vor allem, die Fähigkeit der Hunde zu respektieren, sich zu sozialisieren und ihre Probleme selbständig zu lösen, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Und gleichzeitig verschwand mein Unbehagen beim Gedanken an Städte mit Straßenhunden. Heute betrachte ich diese Hunde mit ganz anderen Augen: Sie erfüllen mich eher mit Staunen als mit Mitleid.
Wer hat´s besser?
Man könnte nun behaupten, dass diese Hunde ein oft artgerechteres Leben führen als jene, die sich der Mensch in der ihm eigenen Selbstsüchtigkeit unterworfen hat. Beispiele für eine solche „Benutzung“ der Hunde in unserem Teil der Welt sind zum einen die Greyhounds, die in manchen Ländern ihr kurzes Leben zwischen den einzelnen Rennen in engen Käfigen verbringen müssen, die oft noch übereinander gestapelt sind, zum anderen manche Ausstellungshunde, deren „Karriere“ in der „heißen Phase“ während der Saison aus einem Leben nahezu ohne jegliche Sozialkontakte mit ihren Artgenossen besteht. Ihr Leben spielt sich dann praktisch nur noch in Transportboxen und auf Trimmtischen ab, unterbrochen von wenigen Minuten im Ausstellungsring. Freiheitsentzug empfindet jeder einzelne von uns als Strafe, und dennoch wenden wir in unserer „zivilisierten Welt“ genau dieses Mittel beim besten Freund des Menschen an.
Vielleicht ist die Freiheit der Straßenhunde gar nicht so etwas Ungewöhnliches. Sie leben in einem natürlich gewachsenen Rudel, angepasst an ihre menschliche Umgebung. Jeder einzelne Hund ist für sein eigenes Überleben verantwortlich, frei nach den Regeln der Evolution: Nur der Stärkste überlebt! Das allerdings bedeutet nun nicht, dass man alle Hunde frei und heimatlos in die Straßen der Städte entlassen soll. Aber da Streunerhunde nun aber einmal eine Realität sind, ist es vielleicht an der Zeit, die Lebensqualität dieser Straßenhunde neu zu überdenken, verglichen mit dem Leben, das wir unseren Haushunden aufzwingen.
Filmromantik
Diese Straßenhunde sind von einer gewissen romantischen Aura umgeben. Hollywood stellt den Streuner oft als einen intelligenten, lässigen und erfinderischen Charakter dar, der nahezu jedes Problem lösen kann, stets furchtlos ist, kaum jemals überrascht oder übers Ohr gehauen wird, und der gelernt hat, den Menschen zu manipulieren, sich seinerseits aber nicht manipulieren zu lassen. Der Film-Streuner trägt oft romantische und philosophische Züge und stellt einen Typ dar, den wir wohl bewundern, mit dem wir aber niemals tauschen würden, auch wenn wir es manchmal gerne möchten. Es gibt zahlreiche Beispiele, die dieser Phantasiefigur entsprechen: Disneys Tramp und Benji fallen uns da sofort ein.
Vielleicht ist es das ungezwungene und sorglose Leben in den Tag hinein, ohne an das Gestern oder Morgen zu denken, was viele von uns diese Straßenhunde bewundern lässt. Und vielleicht können sie gerade deshalb in so vielen großen Städten überall auf der Welt überleben. Auf jeden Fall verdienen sie unsere Aufmerksamkeit. Wer weiß: Vielleicht können wir sogar noch etwas von ihnen lernen.