Paradigmenwechsel im Denken über Tiere:

Von Dr. Marc Bekoff

In der vergangenen Ausgabe brachte Bekoff Argumente gegen den Speziezismus, eine Lehre, nach der nur der Spezies Mensch moralische, rechtliche oder sonstige Interessen zugebilligt werden. Andere Spezies hingegen würden keinerlei Interessen haben. Wer anders denkt, solle nach der Meinung von Skeptikern Beweise vorlegen für die Tatsache, dass Tiere Gefühle haben können.

Wir müssen nun die Skeptiker in die Pflicht nehmen und den Spieß umdrehen. Die Skeptiker sollen uns „beweisen", dass Tiere keine Gefühle haben, als dass wir immer wieder beweisen müssen, dass sie Gefühle haben. Ich erinnere mich an ein Ereignis während eines Symposiums am Smithsonian Institute im Oktober 2000, das aus Anlass der Publikation des von mir herausgegebenen Buches „The Smile of a Dolphin" – ein Buch über Gefühle von Tieren – stattfand. Cynthia Moss sprach über Elefanten und zeigte wundervolle Videoaufnahmen dieser hochintelligenten und empfindsamen Tiere. Während der folgenden Diskussion fragte ein ehemaliger Programmleiter der National Science Foundation Cynthia: „Woher wissen Sie, dass diese Tiere die Gefühle haben, die Sie ihnen zusprechen?" Worauf Cynthia schlagfertig die Gegenfrage stellte: „Und woher wissen Sie, dass sie die nicht haben?"

Das war ein sehr wichtiger Wortwechsel, denn natürlich konnte er seine eigene Frage selber nicht mit Sicherheit beantworten, und Cynthia konnte es auch nicht. Immerhin, der wissenschaftliche Verstand – gepaart mit dem gesunden Menschenverstand und solider Evolutionsbiologie – würde ihre Ansicht der seinen vorziehen.

Es ist wunderbar, dass Mainstream Journale Essays zu Gefühlen von Tieren publizieren. Zum Beispiel erschien kürzlich in „Nature" der Artikel „Elephant breakdown" über das soziale Trauma von Elefanten. Und das Editorial in der New York Times „My little Chickadee" (New York Times, 2005) ist auch ein höchst willkommenes Ereignis.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel!
Nur weil etwas in der Vergangenheit zu funktionieren schien, heißt das noch nicht, dass es auch jetzt funktionieren muss. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Art, wie wir die Gefühle und die Empfindungsfähigkeit von Tieren erforschen und was wir mit dem, was wir wissen und über Gefühle und Empfindungsfähigkeit von Tieren fühlen, anfangen. Dem „Herdentrieb" muss ganz stark widerstanden werden – genau wie dem eingefahrenen Denkschema „Nun, es war für meinen Lehrer in Ordnung und für dessen Lehrer, also muss es richtig sein". Das historische Moment in Methodik, Interpretation und Erklärung muss kritisch neu hinterfragt werden. Wir müssen auch die Prioritäten bei der Verwendung der Geldmittel ändern, indem wir nicht in den Zeitgeist von „Wissenschaft über allem" investieren.

Wie konnten wir nur …!?
Es ist wesentlich, dass wir es besser machen als unsere Vorfahren, und wir haben gewiss auch die Mittel dazu. Mein Optimismus führt mich in keine andere Richtung. Aber ich schäme mich persönlich dafür, wie Menschen Tiere missbrauchen. Ich bin sicher, dass zukünftige Generationen geschockt und mit Entsetzen auf uns zurückblicken werden, wie wir mit anderen Lebewesen umgegangen sind. Sie werden sich fragen, wie wir die offensichtlich erkennbaren Gefühle von Tieren nur übersehen konnten, und wie viel Schaden und Leid wir über Milliarden und Abermilliarden von Individuen gebracht haben. Wie konnten wir nur das tun, was wir den Lebewesen antaten, die ganz eindeutig unter unseren Händen gelitten haben, und zwar nicht zu ihrem, sondern zu unserem Wohl. Wie konnten wir es nur zulassen, dass so viele individuelle Lebewesen grauenvolle Schmerzen erleiden mussten, damit wir sie erforschen oder essen konnten? Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß es wirklich nicht.

Raus – und etwas tun: All we need is love
Wir müssen fortfahren, die Stimme der Tiere zu sein, die keine Stimme haben, und in ihre „lautstarken Schmerzensschreie" einstimmen, wie es der Philosoph Graham Harvey ausdrückt. Zahlreiche Tiere schreien um Hilfe, und sie sind nicht wirklich „stumm".

Wenn wir das Paradigma wechseln und uns vorwärts bewegen, sind wir in der guten Lage, das Sicherheits-Prinzip (Vorsichtsmaßnahmen, Vorbeugungs-Prinzip) anwenden zu können. Hauptsächlich bedeutet dieses Prinzip, dass das Fehlen wissenschaftlicher Sicherheit nicht als Entschuldigung dienen darf, um das Handeln in einem bestimmten Bereich aufzuschieben. Und so habe ich auf dem Gebiet der Gefühle und der Empfindungsfähigkeit von Tieren genügend Argumente dafür gebracht, dass wir wirklich genug wissen, um informierte Entscheidungen treffen zu können und zu erkennen, warum sie wichtig sind.

Nicht mit zweierlei Maß messen
Wir sollten nicht länger tolerieren, dass mit zweierlei Maß gemessen wird! Das, was die Skeptiker behaupten, ist nicht besser und nicht wahrer als das, was wir sagen. Und selbst wenn wir zeitweise auch mal „falsch" liegen sollten, so bedeutet das nicht, dass wir immer falsch liegen. Und selbst wenn wir gelegentlich mal falsch liegen sollten oder unsicher sind, wie wir vorgehen müssen – na und? Wenigstens werden wir keine weiteren Grausamkeiten einer sowieso schon grausamen Welt hinzufügen. Und ich – wie auch andere – vertrete den Standpunkt, dass wir uns im Falle eines Zweifels zugunsten des einzelnen Tieres irren sollten.

Es ist in Ordnung, Gefühle zu haben und dem Herzen zu folgen. Wir brauchen mehr Mitgefühl und Liebe in der Wissenschaft, wir brauchen eine Wissenschaft mit Herz. Einfach ausgedrückt, wir müssen uns um Tiere kümmern und die Natur sehr behutsam „umgestalten". All we need ist love – nur die Liebe zählt …

Oft ist „gute Fürsorge" einfach nicht „gut genug". Tiere verdienen mehr, und wir können es immer noch besser machen!



Marc Bekoff


„Skeptiker sollen uns beweisen, dass Tiere keine Gefühle haben!"




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Wissenschaftliche Erforschung
der intensiven Gefühle von Elefanten
Prof. Bekoff besuchte im Vorjahr die Studiengruppe um den Forscher Iain Douglas-Hamilton, Zoologe der Oxford University, die das intensive Gefühlsleben von Elefanten untersucht.

Das Foto zeigt vier Mitglieder einer Elefantenherde, die von Iain Douglas-Hamilton und seinen Kollegen im Samburu Reservat in Nord-Kenia beobachtet wird.

Elefanten bilden soziale Gruppen in Form eines Matriarchats. Individuen unterschiedlichen Alters (die sich klar in der Größe unterscheiden, wie hier auf dem Foto) knüpfen untereinander sehr enge soziale Bande. Elefanten sind in der Lage, eine große Bandbreite von Gefühlen zu empfinden, die von Freude beim Spielen bis hin zu Trauer beim Verlust eines Freundes reichen. Und sie haben Mitgefühl mit anderen Elefanten. Joyce Poole, eine erfahrene Expertin für das Verhalten von Elefanten, schrieb über eine Elefanten-Mutter, die gerade ihr Neugeborenes verloren hatte: „Als ich Tonie beobachtete, wie sie bei ihrem toten Neugeborenen wachte, bekam ich meinen ersten starken Eindruck davon, dass Elefanten trauern. Ich werde niemals den Ausdruck ihres Gesichts, ihrer Augen und ihres Mauls vergessen oder die Haltung ihrer Ohren, ihres Kopfes und ihres Körpers. Ihr ganzer Körper zeugte von unendlicher Trauer."

Poole schrieb außerdem: "Es ist sehr schwer, das bemerkenswerte Verhalten von Elefanten während der Begrüßungszeremonie einer Familie oder einer Gruppe, der Geburt eines neuen Familienmitgliedes, einer spielerischen Interaktion, der Paarung eines Verwandten, der Rettung eines Familienmitgliedes oder der Ankunft eines brünftigen Elefantenbullen zu beobachten und dann nicht daran zu glauben, dass sie starke Gefühle empfinden, die man am besten mit solchen Begriffen wie Freude, Glück, Liebe, Freundschaft, Überschwang, Amüsement, Vergnügen, Leidenschaft, Erleichterung und Respekt beschreiben könnte."

Ich selber hatte das Vergnügen, Iain 2005 in Samburu besuchen zu können, und ich war überrascht, als ich aus erster Hand etwas über das intensive Gefühlsleben dieser großartigen Tiere erfahren konnte, die mit anderen Gruppenmitgliedern äußerst enge soziale Bindungen eingehen. Ganz klar gesagt, solche sozialen Elefantengruppen sollten niemals auseinander gerissen werden, um Individuen in der Gegend herum zu verschiffen, damit sie dann ein erbärmliches Leben in Gefangenschaft fristen müssen.

www.savetheelephants.org



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Danksagung & Literatur
Ich danke Jan Nystrom, Gay Bradshaw, Graham Harvey und Jessica Pierce für ihre Kommentare zu meinem Essay.

Quellen und empfohlene Literatur
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• Bekoff, M. (ed.) (2000) The Smile of a Dolphin: Remarkable Accounts of Animal emotions. Random House/Discovery Books. Washington, D. C.
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WUFF STELLT VOR


Dr. Marc Bekoff
Der Autor ist Universitätsprofessor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der University of Colorado in Boulder. Er hat bisher 18 Bücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch, Encyclopedia of Animal Behavior, erschien im Dezember 2004. Seit über 2 Jahren schreibt Dr. Bekoff in WUFF Essays über seine Arbeit und seine Gedanken zu Tieren.

• Encyclopedia of Animal Behavior. (Dezember 2004) 1200 Seiten in 3 Bänden. Preis 349.95 Dollar plus Versand.
ISBN 0-313-32745-9. Greenwood Publishing, www.greenwood.com


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