Nach Indien der Hunde wegen

Von Sabine Zemla

Ob in der Stadt oder auf dem Land – herrenlose Hunde sind ein alltägliches Bild in Indien. Die meisten kommen zwar ­irgendwie ganz gut über die Runden und haben sich den widrigen Umständen angepasst. Doch dann gibt es auch diejenigen, denen das Schicksal nicht gewogen ist und für die ohne Hilfe ihr letztes Stündchen geschlagen hätte. Gäbe es da nicht Animal Aid Unlimited …

Es ist jetzt ziemlich genau fünf Jahre her. Damals surfte ich im Internet auf der Suche nach Berichten über die von Russland angeordneten Massentötungen der Straßenhunde in Sotschi, um »saubere« Olympische Spiele veranstalten zu können. Dabei stieß ich zufällig auf ein Video: »Gelähmte Hündin gerettet. Schau Dir ihre unglaubliche Genesung an«. Und schon drückte ich die Wiedergabetaste.

Dieser kurze Filmbericht handelte von einer Straßenhündin, allerdings nicht von einer am Rande des Kaukasus-Gebirges, sondern des Aravalligebirges im indischen Bundesstaat Rajasthan. Die Organisation, die sie gerettet hat, Animal Aid Unlimited, hat ihr den Namen Yamuna gegeben – nach einer Göttin im Hinduismus. Sie wurde von einem Auto erfasst, und der Fahrer fuhr einfach weiter. Yamuna lag bewegungslos und voller Schmerzen am Straßenrand. Doch sie hatte Glück: Jemand hat sie gefunden und Animal Aid Unlimited verständigt. So kam Yamuna mit dem Rettungswagen schwerverletzt auf das Gelände nahe Udaipur und wurde umgehend medizinisch versorgt. Nach einer langen, notwendigen Ruhephase war sie allerdings nicht mehr in der Lage, selbstständig zu stehen: Sie hatte nach dem Unfall eine Parese an ihren beiden Hinterläufen.

Was Hände bewirken können
In dem Video ist zu sehen, wie sie sich in diesem Zustand mit ihren Vorderbeinen durch den Sand vorwärts bewegt. Ihre hinteren Extremitäten werden einfach mitgeschleift. Nach neurologischen Tests wurde festgestellt, dass Yamuna noch Gefühl in ihren Hinterbeinen hat, es sich folglich nicht um eine vollständige Lähmung handelte. Sie hatte daher mithilfe von Physiotherapie eine reelle Chance, sich wieder ganz normal zu bewegen. Sooraj, der für Massagen an allen geretteten Straßentieren der Organisation zuständig ist, nahm sich ihrer damals an. Er selbst hatte sich, wie ich mittlerweile weiß, die Handgriffe von einem Masseur abgeschaut und dann einfach probiert, sie an Tieren nachzumachen. Mit allem, was ihm zur Verfügung stand, versuchte Sooraj die Straßenhündin wieder auf vier Beine zu bringen. Und er hat es geschafft: Dank täglicher Massage und täglichem Bewegungstraining ist Yamuna wieder vollständig genesen.

Dieses Video hat mich damals in seinen Bann gezogen: Ein Mensch, der intuitiv mit seinen Händen das Richtige macht, bringt eine gelähmte Straßenhündin wieder zum Laufen. Das hat mich zutiefst bewegt. Und das hatte ich so bei anderen Tierschutzorganisationen noch nie gesehen. Ich wollte mehr erfahren über diese Organisation im fernen Indien, die auch mit Physio- und Hydrotherapie zur Genesung von Hunden beiträgt, und verfolgte deren Arbeit all die Jahre – über deren Homepage und YouTube-Kanal. Ich nahm mir fest vor: Wenn es die persönlichen Umstände erlauben, werde ich dort eines Tages volontieren und den Helfern vor Ort tatkräftig zur Seite stehen.

Eintauchen in eine andere Welt
Ende Januar war es dann soweit: Nach Tollwutimpfung, erfolgreichem Visum-Antrag und den Koffer vollgepackt mit nützlichen Dingen wie Schwimmwesten, Massage-Igel oder Expander für therapeutische Behandlungen ging es mit dem Flieger nach Udaipur. Die halbstündige Fahrt vom Flughafen in die Altstadt überstieg allerdings alles, was ich mir in meiner Vorstellung ausgemalt hatte. Beim ersten Mal auf Indiens Straßen erlitt ich trotz Vorbereitung auf Land, Leute und Gepflogenheiten einen regelrechten Kulturschock. Nach acht Stunden Flug taucht man wirklich in eine andere Welt ein …

Während ich noch am selben Abend meine ersten unsicheren Gehversuche zwischen all den Motorrollern, Rikschas und Autos wagte, fiel mir auf, dass die Straßentiere hier auf all das ganz entspannt reagieren. Die Straßenseite zu wechseln, was für mich anfangs eine wahre Herausforderung darstellte, meistern Kühe, Affen und Hunde vollkommen souverän. Gut, Kühe sind groß, heilig und dürfen um keinen Preis angefahren werden, Affen können notfalls springen. Deshalb war ich am meisten von den Hunden beeindruckt, die sich beim Wechseln noch nicht einmal umdrehen und sich lediglich an dem permanenten Gehupe der Verkehrsteilnehmer orientieren. Das geht in der Regel gut, manchmal jedoch fehlen wohl ein paar Millisekunden zur sicheren Überquerung. Mit oftmals fatalen Folgen …
Am nächsten Tag begann ich meine Arbeit an dem Ort, an den ich schon so lange wollte. Nach 30-minütiger Rikschafahrt betrat ich zum ersten Mal das Gelände und wurde herzlich von der zuständigen Volontärbetreuerin begrüßt, die mir sofort alle Kennels zeigte und mir viel Hintergrundinformationen gab: Dass am Tag bis zu 50 Notfälle gemeldet werden, dass täglich bis zu 500 Tiere versorgt werden, auch medizinisch, dass seit 2002 bereits mehr als 90.000 kranken und verletzten Tieren geholfen werden konnte, dass alle Hunde, soweit es der Zustand erlaubt, kastriert, in jedem Fall aber geimpft auf die Straße zurückkommen.

Aufklärungsarbeit in den Schulen
Seit geraumer Zeit werden Straßentiere, falls es möglich ist, sogar direkt vor Ort behandelt, um ihnen Stress zu ersparen. In der Regel sind auch das täglich immerhin etwa 25 Fälle. Mit das Wichtigste, was Animal Aid Unlimited in den 17 Jahren seines Bestehens geleistet hat, ist allerdings wohl die Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. So werden in der Stadt immer wieder Flyer verteilt und Mitarbeiter gehen in Schulen, um dort zu zeigen, wie wichtig Tierschutz ist, wie Tiere fühlen, wie man helfen kann, dass man nicht wegsieht, wenn man ein verletztes Tier findet und wie man mit einem Anruf ein Leben retten kann.

Zu diesem Zweck kommt meist Deepak mit in die Schulen, ein Traum von einem Hund. Deepak wurde Ende 2014 von einem Zug erfasst. Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Ihm mussten letztlich beide Extremitäten auf der linken Seite und zum Teil der rechte Hinterlauf amputiert werden, sodass er lediglich noch ein gesundes Bein besitzt. Dieser Hund wäre schon seit mehr als vier Jahren tot, hätten Menschen einfach weggeschaut und nicht die Notrufnummer gewählt.

Zurück auf Indiens Strassen
Für viele mag es unverständlich erscheinen, dass medizinisch versorgte und wieder zu Kräften gekommene Hunde zurück auf die Straße gebracht werden. Doch genau das ist ihr gewohntes Umfeld. Hier sind sie geboren, hier leben ihre Rudel. Es wäre utopisch zu glauben, diese Hunde an die indische Bevölkerung als Haustiere vermitteln zu können – zumal selbst die meisten Familienhunde ihr Dasein oftmals mehr auf der Straße als am oder im Haus verbringen. Sie alle im Shelter zu behalten, geht auch nicht. Tausende Straßenhunde würden Platzkapazität und vor allem das Budget sprengen, immerhin finanziert sich Animal Aid Unlimited allein von Spenden. Und nicht zu vergessen: Würden sie dort auch noch so gut versorgt und geliebt sein, so würden sie doch um etwas beraubt, was sie von Anfang an kennen – ihrer Freiheit und Unabhängigkeit.

Ich wusste, dass es keinerlei Fähigkeiten bedarf, um zu volontieren. Die einzige Voraussetzung ist die Liebe zu Tieren. Trotzdem habe ich mir gedacht, dass ich gerade bei der Physiotherapie von Hunden – und wie es sich dann vor Ort herausgestellt hat, auch von Kühen – und der Hydrotherapie helfen kann, indem ich den Mitarbeitern noch weitere Behandlungsmöglichkeiten zeige. Letztlich wollte ich dort aber nicht nur Probleme rund um den Bewegungsapparat beheben, sondern einfach für alle Hunde da sein. Denn neben der Abteilung für gelähmte Hunde gibt es auch die für blinde, für Hunde mit Hautkrankheiten und mit Sticker-Sarkom. Besonders wollte ich mich um die kümmern, die von der Straße direkt in den Shelter kommen und dort einige Zeit bis zur Genesung verbringen müssen. Dass ausgerechnet diese für meine emotionalsten Momente sorgen würden, konnte ich vorab nicht ahnen.

Nach der Erstversorgung landen verletzte und kranke Hunde zunächst in einem käfigartigen Abteil, einer gefliesten Zelle von etwa zwei Quadratmetern mit einem Eisengitter als Tor, einem Jutesack zum Liegen und einer stets gefüllten Wasserschüssel. Zweimal am Tag wird gefüttert. Diese Art der Unterbringung ist wichtig. Zum einen benötigen die Hunde in der Regel Ruhe, ja sogar »Bettruhe«. Zum anderen müssen sie erst einige Zeit beobachtet werden, ob sie mit Menschen, was eigentlich normalerweise der Fall ist, und mit den bereits freilaufenden Hundepatienten im Gehege sozial verträglich sind. Ansonsten wären schwere Kämpfe vorprogrammiert.

Hunde in den Schlaf singen
In diese Hunde, die plötzlich »hinter Gittern« sitzen, ihrer gewohnten Freiheit beraubt sind, die nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist und noch geschehen wird und ob diese Lebenssituation anhält, die ihre Kumpel auf der Straße vermissen, die vor Schmerzen, vor Trauer oder »Heimweh« winseln, kann ich mich absolut hineindenken. Genau diese Hunde haben es mir besonders angetan. Ich wollte, dass sie Vertrauen fassen, dass sie ruhig werden, dass sie mit dieser neuen Situation zurechtzukommen. Deswegen habe ich mich um jeden Hund dort bemüht – vor allem um die, die ganz neu ankamen und vor sich hin jammerten. Ich bin erst vor der Türe gesessen und habe leise mit ihnen gesprochen, bis sie zu winseln aufhörten. Aus Ermangelung der Musik, die ich sonst bei aufgeregten und ängstlichen Hundepatienten verwende, habe ich einfach begonnen, ihnen Schlaflieder für Babys vorzusingen. Mit derselben Wirkung: Die Hunde legten sich nach kurzer Zeit nieder und schlossen die Augen. Wenn ich daran denke, kommen mir vor Rührung immer noch die Tränen.

Dank meiner Erfahrung mit dem Verhalten von Hunden konnte ich abschätzen, ob ich auch zu ihnen in den Käfig gehen kann. Was einem hier widerfährt, kann man eigentlich kaum beschreiben. Sie kommen sofort her, legen den Kopf auf den Oberschenkel oder klemmen ihn gleich zwischen die Beine, suchen nach Nähe und genießen jede noch so kleine Berührung – selbst die Hunde mit starker Räude. Für sie war ich im Moment der Nabel der Welt. Die Zelle dann wieder verlassen zu müssen, brach mir jedes Mal fast das Herz. Aber nur eine Tür weiter sitzt ja schon der nächste, der Nähe und Zuneigung braucht. Der endgültige Abschied von »meinen« Straßenhunden nach vier Wochen war unendlich schwer …

Yamuna hat einen festen Platz auf meiner Homepage gefunden, die Menschen und Hunde von Animal Aid Unlimited in meinem Herzen.

Bella darf bleiben

Yamuna wurde nach ihrer vollständigen Genesung, wie Hunderte Hunde vor und nach ihr, wieder genau an der Stelle abgesetzt, wo man sie gefunden hatte. Denn hier war ihr vertrautes Umfeld. Ob sie da immer noch lebt? Wohl eher nicht. Straßenhunde erreichen in der Regel kein biblisches Alter.

Doch manchmal nützt auch alle Physio- und Hydrotherapie nichts und der Hund bleibt nach einem Trauma gelähmt. Alle Hunde ohne eine Chance, auf der Straße zu überleben, dürfen dann bleiben – lebenslang. Wie etwa Bella.

Bella erlitt dasselbe Schicksal wie Yamuna. Sie wurde Ende 2015 von einem Auto angefahren und war danach nicht mehr in der Lage zu stehen. Als der Rettungswagen eintraf, fand man sie versteckt in dicken Brombeerbüschen, zitternd vor Angst und Schmerzen. Damals war sie etwa acht Monate alt, wollte sich nicht anfassen lassen und schnappte wild um sich. Durch den Unfall war ihre Wirbelsäule so schwer verletzt, dass sie ihre beiden Hinterbeine nicht mehr benutzen konnte. Bella blieb gelähmt.
Es dauerte lange, bis sie Vertrauen zu Menschen fasste. Aber seitdem ist sie eines der freundlichsten Geschöpfe auf dem Areal. Sie kommt sofort an den Zaun gerannt, kaum, dass sie einen erblickt. Streicheleinheiten kann sie niemals genug bekommen. Sie strahlt eine Lebensfreude aus, der man sich nicht entziehen kann. Heuer wird sie vier Jahre alt. Ohne Animal Aid Unlimited hätte sie wohl nicht mal ihren ersten Geburtstag feiern können.

Links:
Animal Aid Unlimited:
https://animalaidunlimited.org/
Video Yamuna: https://www.youtube.com/results?search_query=yamuna

Pdf zu diesem Artikel: hunde_indien

 

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