Multitalent Hundezunge

Von Regina Röttgen

Meister der Technik

Seit jeher ist die Zunge des Hundes das ­faszinierendste Organ. Im Mittelalter ­glaubte man an ihre ­heilende Wirkung. Heute weiß man, dass sie außerdem ein Genie der Hydrodynamik und der Akrobatik ist.

Die längste hatte Brandy. Laut dem „Guinnessbuch der Rekorde“ ist der Rekord der Boxerhündin aus Michigan mit der enormen Zungen­länge von 43 Zentimetern seit über zwei Jahrzehnten noch immer ungebrochen. Ein Vergnügen war das Schleckorgan für Brandy jedoch sicherlich nicht. Aufgrund eines Geburtsfehlers war ihre Zunge überdimensional lang und passte natürlich auch nicht in ihr Maul. Sie hing immer heraus. Das hatte zur Folge, dass Brandy stets dehydriert war und ständig Durst hatte.

In der Regel sind Hundezungen viel kürzer. Genaue Maße gibt es allerdings nicht, denn die Länge ist individuell und hängt überdies von der Rasse ab. Ein Muskelprotz ist sie auf alle Fälle immer. Unmengen von Muskeln befinden sich in der Zunge, welche diese zu einer regelrechten Akrobatin machen. Außerdem sitzt an der Zungenspitze die knapp vier Zentimeter lange sogenannte Lyssa, eine Art Schlauch. Dank dieser kann der Hund seine Zungenspitze fast unabhängig vom Rest der Zunge atemberaubend verformen: Rohr, Spatel, Kelle – alles kein Problem!

Meister der Technik
Doch die Hundezunge kann noch viel mehr. Klimatechnisch zum Beispiel ist sie ein ausgeklügeltes ­Kühlungssystem. Zuerst einmal lassen Hunde die Zunge zur Abkühlung heraushängen, da sie nur über ihre Pfoten schwitzen. Mit steigender Temperatur wird die Zunge dann aber immer länger und breiter. Denn so vergrößert sich auch die ­nötige Wärmeaustauschfläche. Je ­größer die Fläche, desto effektiver folglich die Abkühlung.

Reicht die erzeugte Verdunstungs­kühle nicht mehr aus, beginnen ­Hunde zu hecheln. Bis zu dreihundert Mal pro Minute lässt ein Hund nun Luft über die Zunge streichen und sorgt somit für eine effiziente Abkühlung des Körpers. Da dieses Kühl­system extrem viel ­Energie kostet, brauchen Hunde aus­reichend Trinkwasser, um es am Laufen zu halten. Trotzdem reicht es bei extrem hohen Temperaturen eventuell nicht mehr aus. Ist ein Hund erst einmal dehydriert oder vor lauter Hecheln ermüdet, folgt rasch die lebensbedroh­liche Überhitzung.

Hydrodynamisch gesehen stellt die Hundezunge beim Trinken selbst die Technik in den Schatten. Was auf den ersten Blick banal aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als physikalische Meisterleistung. Erst vor wenigen Jahren fanden Forscher der Harvard Universität heraus, dass unsere Vierbeiner ein ausgefeiltes Trinksystem entwickelt haben, für das sie die Flüssigkeitsdynamik nutzen. In Zeitlupenaufnahmen konnten die Evolutionsbiologen A. W. Crompton und Catherine Musinsky erkennen, dass Hunde beim Trinken ihre Zunge zu einem Löffel formen. Sie löffeln das Wasser aber nicht. Stattdessen lassen sie ihre Zungenoberfläche parallel auf der Wasseroberfläche auftreffen und ziehen sie dann rasch zurück. Dadurch entstehen Adhäsionskräfte, die das flüssige Nass nach oben reißen und eine Wassersäule entstehen lassen. Bevor der Schluck in sich zusammenfällt, schnappen die Hunde zu. Solange bis die Säule komplett durchgebissen wird, fließt das Wasser ins Maul. Danach geht es erneut los. Eine solche Trinkeinheit dauert laut den Wissenschaftlern exakt 342 Milli­sekunden.

Geht es ums Futter, ist die Zunge zwar nicht ganz so beeindruckend, eine wichtige Funktion hat sie aber allemal. Kaum kauen Hunde auf ihrem Futter herum, schon hat die Zunge eine Aufgabe: Alle Brocken müssen schön glitschig und matschig gemacht werden. Der größte Teil des dafür benötigten Speichels wird an der Unterzungendrüse produziert. Hier beginnt dann auch die kanine Verdauung.

Viel von dem, was sie gerade im Maul haben, schmecken unsere ­Vierbeiner allerdings nicht. Nur rund 1.500 Geschmacksrezeptoren sitzen auf der kaninen Zunge, knapp sechsmal weniger als auf der menschlichen. Auch die geschmackliche Differenzierung ist bei Hunden eher begrenzt. Sie können nur zwischen süß, sauer, salzig und bitter unterscheiden. Für etwaige Nuancen reichen die Rezeptoren nicht. Da Hunde im Gegensatz zu Katzen auch keine Frische oder Schmackhaftigkeit wahrnehmen können, braucht Hundefutter nicht unbedingt „gut“ schmecken. Es muss nur spitzenmäßig riechen. Wenn die Nase „lecker!“ sagt, läuft Hunden im wahrsten Sinne die Spucke im Mund zusammen.

Heilende Wirkung
Nebst solch wichtigen physischen Funktionen erfüllt die Hundezunge auch einen sozialen Sinn. Schleckt sich der Hund übers Maul, versucht er sowohl sich als auch sein eventuelles Gegenüber zu beschwichtigen. Auch schlecken Hunde gerne Artgenossen oder Menschen ab, meist um zu zeigen, dass sie freundlich gesinnt und gütiger Stimmung sind. Gerade Kindern gegenüber zeigen unsere Vierbeiner so ihre Fürsorge.

Vom Hund abgeschleckt zu werden finden viele Menschen jedoch weder hygienisch noch olfaktorisch akzeptabel. Denn manchmal ist der Duft des Speichels im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend schlecht. Die Normalflora der im Speichel vorhandenen Bakterien verursacht allerdings keinen unangenehmen Geruch. Für eine solch abschreckende Duftcoloration sind eher gesundheitliche Gründe wie Zahnstein, Infekte im Rachenraum oder organische Beschwerden wie die der Niere verantwortlich.

Früher blendete man den strengen Geruch wohl einfach aus. Im Vordergrund stand nämlich die heilende Wirkung der Zunge. Diese blickt auf eine lange Vergangenheit zurück: Mit Äskulap hielt der Hund Einzug in die Medizin. Schon in den Tempeln des Gottes der Ärzte und Gründers der Medizin sollen sich neben Schlangen auch Hunde aufgehalten haben. Im Lukas-Evangelium dann leckten Hunde die Geschwüre des Lazarus, auch wenn dies eher metaphorisch gemeint war. Abt Absalon vom Chorherrenstift in Springiersbach nennt Ende des zwölften Jahrhunderts die Hundezunge eine „Bußarznei“. Nach schweren Sünden und Vergehen lasse diese den Menschen sich kräftiger als zuvor wieder erheben.

Im Mittelalter etablierte sich auch die Behandlung durch Wundschlecken. So schrieb die im Jahre 1098 ­geborene ­Mystikerin und Ärztin Hildegard von Bingen „Et calor qui in lingua est, vulneribus et ulceribus sanitatem convert“ – die Wärme, die in der Zunge ist, bringt Gesundheit für Wunden und Geschwüre. Überhaupt hielten die Ärzte des Mittelalters viel auf „Hunde als Heilmittel“. Nebst dem Wundschlecken erfuhren diverse Hundeteile vielfältige Anwendung, die uns heute ein Gräuel und tierschutzrechtlich sowieso ver­boten wären.

Aus dieser Epoche stammt wahrscheinlich auch die Redewendung „sich die Wunden lecken“. Instinktiv lecken Hunde ihre eigenen wie auch infizierte Körperstellen am Menschen mit ihrer Zunge ab. Die damit verbundene Idee der heilenden Wirkung hält sich bis heute. 2003 veranlasste dies den Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Meinolf Schumacher sogar dazu, ein Buch mit dem Titel „Ärzte mit der Zunge. Leckende Hunde in der europäischen Literatur“ zu schreiben.

Fakt ist allerdings: Der Speichel von Hunden kann eine Infektion durch bestimmte Bakterien verhindern. Denn zum Einen wird die Anzahl der in einer Wunde auftretenden Bakterien durch den Speichel stark verdünnt und zum Großteil heraus geleckt. Zum ­Anderen enthält Hundespeichel auch anti­bakterielle Komponenten. So findet man im Speichel Lysozym, das GRAM-­positive Bakterien wie Staphylokokken und Streptokokken angreift. Ferner enthält Speichel sogenannte Immunglobuline, also Antikörper, die für die Abwehr von Erregern wichtig sind.

Vorsicht Zungenkuss!
Trotzdem ist zur Vorsicht geraten: Der Speichel des Hundes kann für den Menschen potenziell gefährliche Bakterien enthalten, die durch Abschlecken übertragen werden können. Ferner können resistente Bakterien im Speichel auftreten, die bei einer Übertragung auf den Menschen zum gesundheitlichen und therapeutischen Problem werden können. Auch die potenzielle Gefahr einer Übertragung von Tollwutviren durch den Speichel ist, wenn auch in Österreich und Deutschland nicht mehr, so aber doch in anderen Ländern noch immer gegeben.

Vor allem aber kann ein bestimmtes Bakterium für den Menschen gefährlich werden: Rund ein Viertel der Hunde trägt „Capnocytophaga canimorsus“ im Speichel. Im Falle einer Übertragung auf den Menschen wird es schnell ernst. Es folgen Blutvergiftung und eine rasch voranschreitende Nekrose der Extremitäten.

Grund zur Panik besteht allerdings nicht. Zwar gibt es auch Erreger, die über ein für das bloße Auge nicht erkennbares Mikrotrauma in der Haut in den menschlichen Körper eintreten können und somit das Abschlecken durch einen Hund für den Menschen rein theoretisch zur potenziellen Gefahr machen. ­„Capnocytophaga canimorsus“ jedoch findet den Weg in den menschlichen Organismus nur über offene Wunden.

Der Deutsche Jörg Jores, Professor für Veterinärbakteriologie in Bern, rät daher nur älteren und immunosupprimierten Personen dringend davon ab, sich von einem Hund abschlecken zu lassen. Denn eine Infektion mit solchen Erregern könnte für diese verheerende Folgen haben. Für gesunde Menschen reiche es, wenn sie zumindest auf das Wundschlecken von Hunden verzichten. Ansonsten jedoch kann man sich von seinem geliebten Vierbeiner weiterhin freudig abschlabbern lassen.

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