Meine Welt, Deine Welt – Die gemeinsame Realität von Mensch & Hund

Von Dr. Hans Mosser

Leben Mensch und Hund jeweils in ­Parallelwelten? Oder gibt es das, was die psychologische Wissenschaft als gemeinsame Realität (shared reality) bezeichnet, auch zwischenartlich?

Als gesellschaftlich verfasstes Lebewesen steht der Mensch stets im Austausch mit anderen, ja, er kann sich auch nur so entwickeln. Damit befinden wir uns in einer gemeinsamen Wirklichkeit mit jenen, mit denen wir interagieren. Mit ihnen teilen wir bestimmte innere Zustände, wie bspw. Gefühle, Werte oder Überzeugungen. Anders wären Freundschaft und Kommunikation, ja, überhaupt das gesamte soziale Leben nicht möglich und würden wir auch die Wirklichkeit nicht verstehen.

Dieses Konzept der gemeinsamen Wirklichkeit (shared reality) findet in der Psychologie zunehmendes wissenschaftliches Interesse. Interessanterweise kommt dazu neuerdings der Hund als ein Vergleichsmodell zum Menschen in den Blick (Johnston 2018). Hunde seien eine »ideale Species«, da auch sie Grundbausteine einer gemeinsamen Wirklichkeit aufweisen würden, wie Wahrnehmung, Gefühle und ein daraus resultierendes Verhalten. Im Unterschied zu anderen nichtmenschlichen Lebewesen sind Hunde häufig wie Familienmitglieder in das soziale Leben ihrer Menschen integriert und in der Regel an so ein Leben angepasst.

Perspektivenwechsel
So haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die frühe Entwicklung der mensch-hundlichen Kommunikation bei Welpen untersucht und herausgefunden, dass schon im Alter von nur 6 Wochen Welpen kommunikative Hinweise des Menschen benutzen, ohne dass sie es vorher gelernt hätten (Riedel 2008). Mit zunehmendem Alter verbessern sie dann ihre Fähigkeit, diese menschlichen Hinweise richtig zu interpretieren. Und dass sie schließlich – wie eine Studie zeigt (Passalacqua 2011) – schon im Alter von mehreren Monaten in der Lage sind, von sich aus den Blick zum Menschen zu suchen, wenn sie bspw. Hilfe bei der Lösung einer schwierigen Aufgabe benötigen, ist ein starker Hinweis dafür, dass Hunde auch mit ihren Menschen eine gemeinsame kognitive Wirklichkeit teilen. Was aber bedeutet das konkret?

Eine gemeinsame Realität von Hund und Mensch bedeutet, dass beide in der Lage sind und auch das Interesse haben zu verstehen, was der andere wahrnimmt. So erkennen Hunde beispielsweise, ob ein Mensch schaut (Augen offen oder geschlossen), wohin er schaut (folgen seiner Blickrichtung) und sogar, ob es aufgrund der Lichtverhältnisse möglich ist, dass er überhaupt etwas sieht. Um das zu verstehen, muss der Hund einen Perspektivenwechsel vornehmen und sich sozusagen in den Blick des Menschen, in dessen visuelle Erfahrung hineinversetzen können. Mehrere Studien haben diese nicht zu unterschätzende kognitive Fähigkeit nachgewiesen, die bekanntesten Studien stammen aus dem schon erwähnten Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Call 2003, Kaminski 2013). Diese Fähigkeit von Hunden, die Perspektive des Menschen einzunehmen, scheint wohl auch mit eine Voraussetzung zu sein für ihre Fähigkeit zu Empathie gegenüber Menschen, ein Thema, das andernorts in dieser Ausgabe behandelt wird (ab S. 26).

Hunde orientieren sich am Menschen
Wenn Hunde also die Fähigkeit haben, sich bis zu einem gewissen Grad in die Perspektive und damit in die Einstellung ihres Menschen hineinversetzen zu können, dann tun sie das nicht nur aus Spaß. Sie tun es vielmehr, um ihr Verhalten am Menschen zu orientieren, und dies, weil sie gelernt haben, dass es ihnen nützlich ist. Verallgemeinernd könnte man sagen, Hunde verlassen sich auf ihren Menschen. Dazu gehört aber auf der anderen Seite auch, dass der Mensch verlässlich ist. Wankelmut und Unsicherheit im Umgang mit dem Hund wird es diesem schwieriger bis unmöglich machen, sich an seinem Menschen zu orientieren.

Dass es in der Praxis nicht ganz so einfach ist, wie es die Theorie glauben macht, ergibt sich daraus, dass es bei Mensch und Hund trotz vieler sozialer, psychologischer und biologischer Gemeinsamkeiten auch entscheidende Unterschiede gibt. Gibt es solche Unterschiede doch auch schon zwischen Menschen. Sind sie besonders groß, spricht man von sog. Parallelwelten. In diesem Fall ist Kommunikation nicht möglich.

Wir wissen, dass die meisten Hunde sinnesphysiologisch Meister der Nase sind, die Mehrheit der Menschen hingegen Experten des Sehsinns. Allein aus dieser Tatsache ergibt sich schon (und da gibt es noch viele andere Unterschiede), dass sich die jeweiligen Wirklichkeiten bzw. Welten von Mensch und Hund nicht komplett decken. Dort, wo jedoch eine Deckung besteht, das ist die gemeinsame Wirklichkeit. Je mehr Mensch und Hund voneinander wissen und – empathisch – ineinander hineinversetzen können, desto größer ist diese gemeinsame Realität, die gemeinsame Welt. Und doch gibt es auch dabei einige unterschiedliche Aspekte zu beachten, wie Psychologen sagen.

Unterschiede Mensch & Hund
Psychologen der Yale University in New Haven (Connecticut, USA) betonen einen nach ihrer Ansicht bedeutsamen Unterschied in der gemeinsamen Wirklichkeit von Mensch und Hund, nämlich den Aspekt der Freiwilligkeit (Johnston 2018). Demnach würden Menschen keine Kontrolle darüber haben, ihre Wirklichkeit mit anderen zu teilen. Und sie würden in die Wirklichkeit anderer eintauchen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Hunde hingegen, so die Wissenschaftler, scheinen sehr wohl die Kontrolle darüber zu haben, ob bzw. wann sie in diese mit ihrem Menschen gemeinsame Welt eintauchen wollen.

Der Vergleich der Forscher hinkt allerdings ein bisschen, weil sie ein Verhalten zwischen Menschen vergleichen mit einem zwischen Hund und Mensch. Denn in Bezug auf die gemeinsame Welt der Menschen mit ihren Hunden dürfte sehr wohl auch auf Seiten der Menschen der Aspekt der Freiwilligkeit vorliegen, während bei Hunden untereinander vermutlich der Aspekt der Unfreiwilligkeit zutrifft, wie dies die Wissenschaftler für zwischenmenschliche Wirklichkeiten angeben.

Das Zwischenergebnis aus dieser Überlegung wäre demnach, dass geteilte Wirklichkeiten innerartlich auf überwiegend unfreiwilliger Basis, zwischen zwei Arten wie Mensch und Hund jedoch unter dem Aspekt der Freiwilligkeit ablaufen. Ich kann mich dem Hund verschließen, wenn ich das will, so wie der Hund sich dem Menschen. Oder aber ich eröffne mir die Welt des Hundes, indem ich mich in seine Realität einlasse – durch ein vertieftes Wissen über Hunde und meine eigene Erfahrung mit ihnen. Dass sich dann im Laufe des gemeinsamen Lebens mit einem Hund diese gemeinsame Wirklichkeit stetig vergrößert und damit auch das gegenseitige Vertrauen, ist für Hundehalter eine Alltagserfahrung.

Gemeinsame Realität: Regeln und Normen
Einen weiteren Unterschied zwischen Mensch und Hund sehen die Forscher der Yale University darin, wie und mit wem die Wirklichkeit geteilt wird. Menschen würden keinen direkten Auge-in-Auge-Kontakt benötigen, um ihre Wirklichkeit mit jemandem zu teilen. Außerdem würde sich diese geteilte Wirklichkeit, diese gemeinsame Welt in vielen Bereichen der Gesellschaft manifestieren, etwa in gesellschaftlichen Regeln, in kulturellen Werten und gesetzlichen Normen. Diese Wirklichkeiten teilen die meisten Menschen eines bestimmten Kulturbereiches, ohne dass sie sich je kennenlernen. So können sich schon kleine Kinder schuldig fühlen, wenn sie eine ihnen bekannte Norm verletzt haben, dies auch dann, wenn es niemand gesehen hat (Kochanska 1995, Stipek 1995).

Hunde hingegen machen, wenn es um die Befolgung von Verhaltensregeln geht, einen Unterschied, ob ihnen ein Mensch dabei zuschaut oder nicht. Der Titel einer Studie, die dies eindrücklich nachweist, sagt schon alles aus: »Dogs steal in the dark« (Kaminski 2013). Wenn Hunde das Verbot bekommen, ein Leckerli vom Boden aufzunehmen, gehorchen sie solange sie erkennen, dass der Halter zuschaut. Ist dies nicht mehr der Fall – schwupps, ist das Leckerli weg. Ob das aber ein Verhalten ist, das nur bei Hunden vorkommt?

Fazit
Obwohl Psychologen unseren Vierbeiner primär als ein Modell verstehen, um die Besonderheit einer gemeinsamen Realität unter Menschen zu untersuchen, ergeben sich aus ihren Beobachtungen und Ergebnissen auch für uns als Hundehalter wichtige Erkenntnisse über unseren »besten Freund«. Wenn nämlich ein Interesse für und ein Wissen um die jeweilige Perspektive des anderen Voraussetzung ist für eine gemeinsame Wirklichkeit, ohne welche eine sinnvolle Kommunikation nicht möglich ist, dann ist es spätestens jetzt für uns an der Zeit, uns mehr damit zu beschäftigen, was die Perspektive unseres Vierbeiners ausmacht, das heißt konkret, unser Wissen um den Hund zu vermehren. Denn mehr Wissen führt zu besserem Verständnis und dieses zu einem besseren Leben mit dem Hund – das Leitmotiv von WUFF! Damit wir nicht in Parallelwelten leben.

Literaturquellen

Die im Artikel zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge.

• Call J. et al., Domestic dogs (Canis familiaris) are sensitive to the attentional state of humans. J Comp Psychol 2003; 117:257–263.
• Johnston A. et al., What is unique about shared reality? Insights from a new comparison species. Curr Opin Psych 2018;23:30–33.
• Kaminski J. et al., Dogs steal in the dark. Anim Cogn 2013;16:385–394.
• Kochanska G. et al.,: Toddlers’ sensitivity to standard violations. Child Dev 1995,;66:643-656.
• Passalacqua C., Human-directed gazing behaviour in puppies and adult dogs, Canis lupus familiaris. Anim Behav 2011;82:1043–1050.
• Riedel J. et al., The early ontogeny of human-dog communication. Animal Behaviour 2008;75(3): 1003–1014.
• Stipek D., The development of pride and shame in toddlers. In: Self-conscious Emotions: The Psychology of Shame, Guilt,
Embarrassment and Pride. Ed.: Tangney J., Fischer K. Guilford Press, New York 1995;237–252.

Pdf zu diesem Artikel: gemeinsame_realitaet

 

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