Mantrailer: Türöffner für ein eigenständiges Leben

Von Martina Stricker

Was tun, wenn verwirrte Menschen plötzlich nicht mehr nach Hause oder ins Heim zurückfinden? Ist es wirklich nötig, sie sofort ihrer Selbständigkeit zu berauben? Vielleicht sollte man noch einigermaßen überschaubare Risiken in Kauf nehmen, um den Betroffenen möglichst lange ein annähernd selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Hilfe könnte im verstärkten Einsatz von Mantrailern zu finden sein.

»Frau Mayer, haben Sie Herrn Becker gesehen?« Völlig außer Atem stürmt der Praktikant auf die Heimleiterin zu. »Marion von der Eins hat mich losgeschickt ihn zu suchen. Ich war überall, aber er ist wie vom Erdboden verschwunden.« Die Leiterin blickt sich erschrocken um. »Psst, nicht so laut! Es muss doch nicht gleich jeder mitbekommen, dass jemand vermisst wird. Wo haben Sie bereits nach ihm gesucht? Seit wann ist er abgängig?« Frau Mayer versucht, wie immer, den Fall analytisch anzugehen.

Nachdem sie die nötigen Informationen von dem aufgeregten Praktikanten in Erfahrung gebracht hat, trommelt sie einen Suchtrupp aus den eigenen Reihen zusammen. Vielleicht ist der alte Herr in der Umgebung, sodass man nicht den peinlichen Schritt gehen und die Polizei um Hilfe bitten muss. Sie kennt das Szenario, weiß zu gut, dass sich schnell jemand dazu berufen fühlt, ihr und den Betreuern mangelnde Sorgfalt vorzuwerfen, zumal wenn sich herumspricht, dass es bereits der zweite Fall in dieser Woche ist. Glücklicherweise hatte man Frau Hoffmann vor drei Tagen gleich in einer Seitenstraße aufgespürt. Aber sollte man nicht, solange irgend möglich, vorrangig den Wünschen der Heimbewohner gerecht werden?

Herr Becker ist eigentlich noch ganz rüstig. Die Familie, alle beruflich sehr eingespannt und oft unterwegs, konnte ihn davon überzeugen, in ein Heim zu ziehen. Hier sollte er umsorgt werden und Anschluss finden. Der fröhliche, alte Herr hatte sich auch schnell mit der neuen Situation arrangiert und fühlt sich offensichtlich wohl. Noch gut zu Fuß, wenn auch mit Rollator, dreht er täglich seine Runden durch den angrenzenden Park, kauft auch gern im nahen Supermarkt eine Kleinigkeit ein, um dann aber immer pünktlich zu den Mahlzeiten zu erscheinen. Gut, er verwechselt ab und an die Wochentage, trägt an den Füßen zwei unterschiedliche Socken oder läuft ins falsche Zimmer, aber im Großen und Ganzen kommt er gut zurecht. Warum sollte man ihm seine kleinen Exkursionen verweigern?

Im goldenen Käfig?
Wenn Oma oder Opa von Passanten zurückgebracht werden, stellt sich die Frage, ob die alten Herrschaften alleine noch das Haus verlassen sollten. Man muss sich vor Augen halten, was das für die Betroffenen trotz liebevoller Fürsorge bedeutet: massiv eingeschränkte Eigenständigkeit oder unverblümt ausgedrückt: Gewahrsam auf Lebenszeit, Freigang nur in Begleitung einer Aufsichtsperson. So überspitzt mag das nach Strafvollzug klingen, kommt der Realität jedoch relativ nahe.

Falsche Schuldzuweisung
Demenz kommt nicht mit einem Paukenschlag, sondern entwickelt sich, sieht schlechtere und bessere Tage. Kritisch wird es, wenn die Orientierung zunehmend unter der Verwirrung leidet. Wenn die alten Herrschaften vermisst werden, ist es ein Leichtes, Familie oder Heimleitung wegen mangelnder Aufsicht an den Pranger zu stellen. Das führt jedoch unweigerlich dazu, dass diese die Anforderung professioneller Hilfe möglichst lange aufschieben und erst einmal verzweifelt selbst nach den Abgängigen suchen. Wollte man jedoch zuverlässig ausschließen, dass die Senioren sich mal verirren, müsste man sie einschließen. Wollen wir das wirklich?

Überschaubare Risiken
So bleibt zu überlegen, ob, wie und wie lange man diesen Schritt hinauszögern kann. Hier sollten die Risiken unter die Lupe genommen und das Für und Wider jeweils sorgfältig abgewogen werden. Demenzkranke sind selten zügig unterwegs und insofern für andere kaum als Risikofaktor anzusehen. Ja, man muss im Straßenverkehr manchmal unvermittelt anhalten oder ausweichen; durchaus kalkulierbare und, wie ich denke, zumutbare Beeinträchtigungen im sozialen Zusammenleben. Problematisch ist eher die Frage, inwieweit sich die älteren Menschen selbst in Gefahr bringen, was meist davon abhängig ist, wie lange es dauert, sie wieder in Obhut nehmen zu können.

Das Suchteam kommt nach einer Stunde unverrichteter Dinge zurück. Frau Mayer bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei einzuschalten. Bis diese eintrifft und sich über die Lage ein Bild gemacht hat, sind weitere 20 Minuten verstrichen. Man wolle nun im erweiterten Umfeld mit Polizeifahrzeugen die Straßen abfahren und nach dem Vermissten Ausschau halten bis der angeforderte Personenspürhund herangeschafft sei. Das würde jedoch noch einige Zeit dauern, denn er komme aus 70 km Entfernung. Der Diensthund aus der näheren Stadt sei gerade von einer Suche zurückgekehrt und noch nicht wieder einsatzfähig.

Es folgt eine kaum zu ertragende Wartezeit. Natürlich hat sich nun doch herumgesprochen, dass der nette Karl Becker nicht zum Essen erschienen ist. Die Pfleger haben alle Hände voll zu tun, die Bewohner zu beruhigen. Unerwarteterweise meldet sich nun eine Besucherin, sie wolle gerne helfen. Frau Mayer bedankt sich höflich und versichert der Dame, bereits alles Mögliche in die Wege geleitet zu haben. Doch die Frau lässt sich nicht abwimmeln. Sie selbst habe einen sehr gut ausgebildeten Personenspürhund und wolle sich gern bis zum Eintreffen des Polizeihundes schon einmal auf die Suche machen. Warum eigentlich nicht? Einen Versuch sollte es doch wert sein. Die Heimleiterin stimmt zu, erleichtert, wenigstens irgend etwas unternehmen zu können.

Die Hundeführerin, die nur wenige Straßen entfernt wohnt, holt ihren Vierbeiner und lässt sich das Zimmer des Vermissten zeigen, um dort nach einem Geruchsmuster Ausschau zu halten. Die Pflegerin zeigt auf ein buntes Halstuch, das Herr Becker in Erinnerung an seine verstorbene Frau häufig liebevoll und mit abwesendem Blick in seinen Händen hält. Ideal! Daran darf der Hund den Geruch des Herrn aufnehmen und direkt im Zimmer zur Suche starten. Eine Pflegerin begleitet das Team. Sollte man den Vermissten finden, kann ihn diese vertraute Person in Empfang nehmen. Der Vierbeiner nimmt die Spur zügig auf, verlässt das Gebäude, zögert, prüft, steuert dann Richtung Park, durchquert ihn, kreuzt eine vielbefahrene Straße, weiter Richtung Innenstadt. Am Rathausplatz zieht er plötzlich aufgeregt an. Die Hundeführerin kennt diese Zeichen. Und tatsächlich – der nächste Abzweig gibt zwischen den Häusern den Blick auf eine Bank frei, auf der sich der alte Herr erschöpft niedergelassen hat.

Personenspürhunde für mehr Eigenständigkeit
Der Einsatz von Personenspürhunden kann das Risiko für die erkrankten Menschen minimieren. Ein Mantrailer, im ehrenamtlichen Einsatz, am besten in der Nähe ansässig, hat gerade durch den kurzen Anfahrtsweg beste Chancen, die abgängige Person schnell und unverletzt wiederzufinden, denn die zurückgelegten Strecken sind meist überschaubar und somit für ein Mantrail-Team eine mit großer Wahrscheinlichkeit lösbare Aufgabe.

Kritik
Kritiker mögen einwenden, dass die Suche Vermisster Sache der Polizei bleiben müsse. Es ist jedoch absolut unrealistisch, dass diese mit den wenigen Diensthunden bei im deutschsprachigen Raum (D, A, CH) 1,9 Mio. Betroffenen und täglich 900 Neuerkrankungen (Demenz Blog, denken.de) sofort und überall eingreifen kann. Der Bedarf ist viel zu groß, die Anfahrtswege zu lang. Bis ein offizieller Spürhund in den Einsatz kommt, könnte ein Team aus der Nähe schon erfolgreich gewesen und der Vermisste wieder in Obhut sein, wodurch sich das Risiko für den Betroffenen reduziert und größerer Aufwand vermieden werden könnte.

Qualität in der Ausbildung
Jedoch muss unbedingt sichergestellt sein, dass das Team eine sorgfältig durchdachte Ausbildung genossen hat. Hier sollten wir uns nicht scheuen, neue Wege zu gehen. Noch immer sind bei vielen Ausbildungskonzepten Anleihen bei der Fährtenarbeit unverkennbar. Gerade weil wir Menschen, im Vergleich zum Hund olfaktorisch völlig unbedarft, die gigantischen Möglichkeiten unserer Vierbeiner nicht nachvollziehen können, sind wir geneigt, sie auch nur bedingt zuzulassen, sehen weiterhin Spurtreue oder Spurnähe als erstrebenswert an. Jedes Raubtier verfolgt bei der Jagd generell die frischesten Geruchspartikel potenzieller Beute. Es vergeudet keine Energie auf die Spur des Vortages, verharrt nicht vor dem bereits verlassenen Bau. Nur das sichert letztendlich das Überleben und ist auch unserem Hund in die Wiege gelegt. Er kann naturgemäß das Alter der Partikel unterscheiden und würde, völlig auf sich gestellt, immer den der Geruchsprobe entsprechend frischesten Partikeln folgen, damit aber auch witterungsbedingt zugewehte neuere Partikel bevorzugen und abkürzen. Wird dies in der Ausbildung vereitelt, indem auf Spurtreue gesetzt wird, vermittelt man dem Vierbeiner unbeabsichtigt, nur vor der Nase nach der Existenz der Partikel zu fahnden, den Einsatz seiner Fähigkeit der Alt-Neu-Unterscheidung jedoch zu unterlassen.
Doch im Umfeld der Wohnung oder des Heimes eines Vermissten finden sich natürlich reichlich Spuren dieser Person der letzten Wochen, Tage und Stunden vor dem Verschwinden. Nur wenn der Vierbeiner zuverlässig die neueste Spur identifiziert und verfolgt, kann die Suche zum Erfolg führen.

Chance nutzen
Wer als Mantrailer, völlig ehrlich zu sich selbst, sagen kann, dass er mit seinem Vierbeiner diese Anforderung erfüllt, sollte sich nicht scheuen, in seiner ­Familie oder in seinem Umfeld für etwaigen ­Bedarf Hilfe anzubieten. Selbst wenn man mit der Suche erfolglos bleiben sollte, hat sich die Situation für den Vermissten in keiner Weise verschlechtert. Man kann mit ­seinem Vierbeiner überhaupt ­keinen Schaden angerichtet haben, wenn ­nötigenfalls später eintreffende, hinzugezogene Polizeihunde dann doch noch die Suche aufnehmen müssen. ­
Doch den Betroffenen kann der schnelle ­Einsatz vielleicht noch einige Zeit die ­Eigenständigkeit oder gar das Leben ­retten.

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