Beim Anblick der sechs Monate alten Huskys, die über die Wiese im kanadischen Toronto toben, werden die Augen der Helfer von der kanadischen Tierschutzorganisation „Team Dog Rescue“ feucht. Lange hatten sie nach passenden Familien für die sechs Welpen gesucht, von denen sie nichts ahnten, als sie Mitte Oktober letzten Jahres am Flughafen Toronto deren Eltern, die Husky-Mischlinge Lucy und Loki in Empfang nahmen – zwei Hunde mit einer unglaublich außergewöhnlichen Geschichte.
So wie die sechs Junghunde waren auch Lucy und Loki vor nun knapp einem Jahr minutenlang überglücklich durchs Gelände gerannt, als sie zum ersten Mal ihre lang ersehnte Freiheit genießen konnten. Lucy und Loki sind zwei der Tiere, welche die internationale Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“ in einer spektakulären Rettungsaktion aus einem Zoo im syrischen Aleppo befreite. „Wir waren überwältigt zu sehen, wie glücklich die beiden in ihrem Gehege herumliefen“, erinnert sich Dr. Amir Khalil an den Moment, in dem die beiden Huskys vor Freude ganz vergaßen, zuerst die Umgebung zu überprüfen.
Seit über 20 Jahren rettet Khalil als Tierarzt und Leiter der Vier Pfoten Tiernothilfe Tiere aus Krisengebieten. Auch aus dem syrischen Zoo Aalim al-Sahar, ebenfalls als Magic World bekannt, befreite er die dortigen Tiere. Acht Jahre hatte der Bau des Erlebnisparks mit 50 Geschäften, Restaurants, Aquarium und Zoo gedauert. Zu Kriegsausbruch flüchtete der Besitzer Azzam Massassatis in die USA. Damals lebten rund 300 Tiere im Zoo. Nach vielen Jahren des Bürgerkriegs liegt der Zoo heute genauso wie Aleppo in Schutt und Asche. Zahllose Tiere starben durch Bomben und Krankheiten, verhungerten oder wurden vom Zoowärter auf dem Schwarzmarkt verschachert. Khalils Nachforschungen ergeben: Anfang 2017 zählte der Zoo nur noch 35 Tiere, darunter zwei Huskys. Die Hunde waren natürlich niemals für den Zoo geplant. Seit sie 2013 auf den Straßen Aleppos gefunden wurden, lebten sie jedoch im ehemaligen Zoo.
Unmögliches möglich machen
Die Zeit und damit das Leben weiterer Tiere rinnt Khalil und seinem Team wie Sand durch die Finger. Als sich nur wenige Wochen später US-Journalist und Gründer der gleichnamigen Tierschutzorganisation Eric Margolis bereit erklärt, die Rettung der Tiere finanziell großzügig zu unterstützen, ist die Zahl der Tiere bereits auf 16 geschrumpft. Für einen ungehinderten Abtransport der Tiere verlangt Aleppos Ortsvorsteher jedoch eine Videonachricht Massassatis. Dieser verweigert allerdings zuerst die Rettung der Tiere! Erst als Khalil zu ihm in die USA fliegt, willigt er ein.
Internationale Sicherheitsfirmen, die Khalil um Unterstützung bei der Rettungsaktion bittet, lehnen ab. Die Region zwischen Aleppo und der türkischen Grenze würde von Rebellen kontrolliert und sei „No-go-Zone“, heißt es. Schließlich findet Vier Pfoten doch noch eine Firma, die sich nach Aleppo vorwagt. Die Sicherheitsmaßnahmen werden später einen Großteil der mehrere 100.000 Euro teuren Aktion vereinnahmen. Diese ähnelt regelrecht einer militärischen Intervention: Unzählige Helfer, Hilfsorganisationen, Regierungsvertreter, Militärberater und diverse syrische Gruppierungen unterstützen die Aktion, der eine detaillierte Planung und langandauernde diplomatische Bemühungen vorausgehen. Denn der Weg zum 150 Kilometer entfernten türkischen Grenzübergang ist hoch riskant. Der Konvoy könnte an einem der vielen Checkpoints zurückgeschickt, auf dem Weg angegriffen und bombardiert oder als Geisel genommen werden. Mehrere Alternativpläne werden ausgearbeitet: An drei verschiedenen Routen sollen mehrere Dutzend Leute bereitstehen, ein leerer Konvoy soll vor Abfahrt als Lockvogel auf eine weitere Route geschickt werden. Das Team wird in Jetzt-Zeit die sich im Minutentakt ändernde militärische Situation verfolgen und Pläne dementsprechend sofort adaptieren. „Bis zum Schluss muss man immer auf alles gefasst und so gut wie möglich vorbereitet sein“, beschreibt Khalil die hochstressige Situation. Auch der Gesundheitszustand der Tiere kann sich jederzeit plötzlich ändern. Am Freitag, dem 21. Juli 2017 geht es los. Khalil wählt bewusst einen Freitag, in der Hoffnung, dass am heiligen Ruhetag im Islam die Gefahr von Angriffen am geringsten sein wird. Mittlerweile sind drei weitere Tiere verschwunden.
Wirklich alles kann schiefgehen
Für das erprobte Team von Vier Pfoten beginnt die Umsetzung einer organisatorischen und logistischen Herausforderung: In einer Nacht- und Nebelaktion verlädt der Zoowärter mit vier Helfern ohne jegliches professionelles Gerät die bis zu 400 kg schweren Käfige. Danach macht sich der Konvoy bei knapp 40 Grad Sommerhitze auf den Weg – ohne Lucy und Loki! Die Zeit hatte nicht für die nötigen Dokumente gereicht. „Wir hatten von Lucy und Loki erst sehr spät erfahren. Im Nachhinein überhaupt noch die notwendigen Dokumente für die Ausreise der Hunde zu erhalten, war sehr schwierig“, erzählt Khalil. Auch zwei Löwen bleiben zurück, der LKW ist zu klein.
Neun Stunden und ein Zwischenfall später erreicht der Konvoy die türkische Grenze. Nur mit einer Genehmigung von ganz oben wird dem Konvoy eine Stunde von Seiten der Türkei gewährt – eine Stunde, in der die neun Käfige auf einen nationalen LKW umgeladen werden müssen. Khalil ist wieder einmal überwältigt: „Bei solchen Rettungsmissionen legen politisch verfeindete Menschen all ihre Bedenken und Waffen beiseite und helfen uns, die Tiere in Sicherheit zu bringen.“ Nach weiteren 1200 Kilometern und 24 Stunden trifft der Konvoy in der staatlichen Rehabilitationsstation für Wildtiere in Karacabey bei Bursa im Nordosten der Türkei ein. Drei Tage hat das Team nicht geschlafen, die Tiere sind vom Krieg traumatisiert, vom Transport erschöpft und aufgrund ihres Lebens im Zoo abgemagert, dehydriert, teilweise sogar schwer krank. Mit seinen Gedanken ist Khalil jedoch bei Lucy und Loki sowie den beiden Löwen. Schon der Erfolg dieser Rettungsaktion grenzte an ein Wunder, doch für ihn und sein Team steht zweifelsfrei fest: Sie müssen noch einmal nach Aleppo!
Mithilfe des türkischen Ministeriums für Forst- und Wasserwirtschaft, türkischen Helfern und den Sicherheitsexperten kann Khalil am darauffolgenden Freitag eine zweite Rettungsaktion starten. „Wir wurden allerdings gewarnt, dass bestimmte Rebellengruppen Hunde erschießen würden, da sie diese als unrein betrachten“, so Khalil. „Die ersten 25 Meilen aus Aleppo raus waren daher hochriskant.“ Alles geht zum Glück gut. Am späten Abend des 29. Juli können auch Lucy und Loki sowie die zwei Löwen die Grenze zur Türkei überqueren. In Bursa zeigt sich dann zum ersten Mal, wie außergewöhnlich Lucy und Loki sind. „Beide waren in einem überraschend guten physischen Zustand. Sie waren ruhig und neugierig“, erinnert sich Khalil an seine erste Begegnung mit den zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise vier Jahre alten Hunden.
Zwei Huskys als Symbol der Hoffnung
Für Khalil werden die Hunde zum Symbol der Hoffnung: „Ich war zutiefst gerührt, als mich Loki nach der veterinärmedizinischen Untersuchung küsste. Er ist so unglaublich fröhlich und freundlich, wenn er erstmal Vertrauen gefasst hat.“ Auch von Lucy ist der Tierarzt bewegt. „Lucy ist eine unglaublich freundliche, zutrauliche und hübsche Hundedame. Von jeder Hand, die in ihre Reichweite kam, holte sie sich Streicheleinheiten.“ Der Plan ist, alle Tiere so schnell wie möglich nach Jordanien in verschiedene Parks und Rehabilitationszentren zu transportieren. Lucy und Loki hingegen sollen erst einmal ins New Hope Center von Amman. Doch die für eine Ausreise nötigen Gesundheitszertifikate und Genehmigungen der türkischen Regierung lassen auf sich warten. Fast zwei Wochen müssen die 13 Tiere in ihren Transportkäfigen in Bursa ausharren. Erst am 10. August können Lucy und Loki mit den anderen Tieren endlich in Istanbul in eine Linienmaschine der Royal Jordanian Airlines verfrachtet werden.
In New Hope angekommen, werden Lucy und Loki von Prinzessin Alia Al Hussein persönlich begrüßt. Nicht nur die Hunde sind sichtlich froh, als sie jordanischen Boden betreten dürfen: „Ich war so erleichtert, dass wir alle Tiere in Sicherheit bringen konnten“, erinnert sich Khalil an den Moment, da Lucy und Loki ungestüm herumtobten. Sofort wird mit ihrem Sozialisierungsprogramm begonnen, denn Leine und Halsband kennen die Hunde nicht. Doch: So ungeeignet das Klima Syriens oder der Türkei für Huskys ist, so unpassend ist für sie auch das Wetter in Jordanien. „Zudem können wir Wildtiere in geeigneten Schutzzentren unterbringen, Hunde jedoch brauchen eine Familie“, sagt Khalil.
Ein zweites Leben beginnt
Die Margolis Foundation macht sich umgehend auf die Suche nach einer passenden Bleibe für Lucy und Loki. Als bei Nancy Gothard, Leiterin der kanadischen Tierschutzorganisation Team Dog Rescue, das Telefon klingelt, sagt sie umgehend zu, so bewegt ist sie vom Schicksal der beiden Hunde. „Unser Verhaltensspezialist Sevan Cerrah von Sticks ‘n Bones war bereit, die beiden für einige Monate bei sich zu Hause zu betreuen.“ Bereits wenige Tage nach dem Telefonat nehmen die Helfer von Team Dog Rescue Lucy und Loki in Toronto in Empfang. „Lucy und Loki überraschten uns alle sehr“, erinnert sich Gothard. „Denn trotz ihrer sehr traurigen Vergangenheit sind die beiden außergewöhnlich ausgeglichene Hunde. Beide haben einen unglaublich liebenswürdigen Charakter. Es macht einfach Spaß, sie um einen herum zu haben“, schwärmt Gothard. So liebt Loki einfach jeden, der mit ihm spielt oder auf dem Sofa schmust – sei es Mensch oder Hund. Selbst Katzen findet er spannend. Sein Futter möchte er dennoch nicht teilen, selbst seinen Wassernapf beschützt er zu Anfang. Cerrah führt dieses Verhalten auf die harten Jahre voller Entbehrung im syrischen Zoo zurück.
Lucy ist anders. Zwar wirken auch auf sie Menschen wie ein Magnet und ihr ewiger Wunsch nach Aufmerksamkeit und Zuneigung bringt ihr schnell den Spitznamen „sozialer Schmetterling“ ein. Doch mit anderen Hunden kommt sie nicht gut zurecht. Wie Loki findet sie es großartig im Garten zu toben. Noch lieber allerdings schlummert sie im Hundebett neben ihrem Spielzeug.
Dank Cerrah lernen Lucy und Loki in kürzester Zeit „westliches Hundeleben“ kennen und lieben. Der Verhaltensspezialist ist verblüfft: Die Huskys kauen nichts an, sind vom ersten Tag an stubenrein und gewöhnen sich extrem schnell an ihr neues Leben. Die Hunde brauchen das geplante Rehabilitationsprogramm nicht.
Im November überrascht Lucy das Team dann erneut, als sie sechs Welpen zur Welt bringt. Ein paar Tage nach der Ankunft hatte das Team während der Planung von Lucys Kastration vom zukünftigen Nachwuchs erfahren. Dank Team Dog Rescue haben heute alle Welpen passende Familien gefunden. Bei dem Familientreffen im Frühling konnten sich Odin, Kovu, Gracie, Arley, Rudy und Otis dann zum ersten Mal wiedersehen und ausgiebig miteinander spielen.
Auch Lucy und Loki haben ein neues Zuhause: Bei Matt und Murray in Toronto werden sie fürsorglich umsorgt und genießen vor allem die gemeinsamen Tage in dem Cottage des Paares außerhalb der Stadt. Sogar einen eigenen Instagram-Account haben die beiden: lucy.and.loki. Bei Matt und Murray finden Lucy und Loki die Muße, um ihren Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen: gemütlich auf dem Sofa kuscheln, im See schwimmen und durch den Schnee toben. Lucy und Loki genießen ihr zweites Leben in vollen Zügen!
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