Knigge für Mensch-Hund-Teams

Von Karin Joachim MA

Zwar nicht täglich, aber doch immer wieder einmal ärgern wir uns über unerfreuliche Begegnungen mit anderen Mensch-Hund-Teams. Wir ärgern uns über eine Bemerkung, auf die wir in dem entscheidenden Augenblick keine passende Antwort gefunden haben, oder über eine Beschimpfung aus heiterem Himmel. Oder über die leidige Diskussion über Freilauf und „Tut Nixe". Seltsamerweise sind wir uns im Grunde weitgehend einig darüber, was beim Spaziergang geht und was nicht, was wir von anderen erwarten. Warum also klappt es in der Realität hin und wieder so gar nicht? Warum haben viele von uns kaum noch Freude daran, mit dem Vierbeiner spazieren zu gehen und suchen stattdessen lieber Wege und Orte, an denen sie weitgehend ungestört sind? Ein Leben ohne Sozialkontakt, nur weil die Konflikte zu schnell eskalieren? Kann das die Lösung sein?

Bereits 1788 schrieb Adolph Freiherr von Knigge sein Werk „Über den Umgang mit Menschen". Die ersten Auflagen kamen noch zu seinen Lebzeiten heraus. Der Originalknigge war eine praktische Gesellschaftslehre und kein Benimmbuch, so wie wir es heute kennen. Es ging darin um das Zusammenleben der Menschen im Zeitalter der Aufklärung. In einem Kapitel widmete er sich sogar dem Verhalten der Menschen gegenüber Tieren, die er „unvernünftige Wesen" nennt. Dass er dieses Kapitel in sein Buch „Über den Umgang mit Menschen" aufnahm, rechtfertigte er mit folgendem Gedankengang: wer sich gegenüber Tieren grausam und hart verhalte, würde das auch gegenüber den Menschen, den „vernünftigen Mitgeschöpfen", tun. Er lehnte es ab, Tieren Schmerzen zuzufügen oder sie nicht artgerecht zu halten (z.B. Vögel in Käfige einzusperren). Andererseits kritisierte er die allzu starke Vermenschlichung von Haustieren.

Warum hier an dieser Stelle der Ausflug zu Herrn Knigge in eine längst vergangene Zeit? Weil Knigge etwas anspricht, das genau unser Thema ist: Sein Buch enthalte, so erläutert er es selbst im Vorwort zur Ausgabe von 1790, „Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen (gemeint: Mitmenschen) glücklich und froh zu machen." Wollen wir bei unseren Hundebegegnungen nicht genau das?

Woran aber sollen wir uns orientieren? Lediglich an unseren eigenen Interessen sowie den vermeintlichen Interessen unseres Hundes? Will unser Hund tatsächlich überall frei laufen, jeden Hund begrüßen? Oder stimmt das gar nicht? Fragt man Hundehalter und Nichthundehalter, so äußern sie nahezu dieselben Wünsche an ihre Mitmenschen. Es besteht ein stiller Konsens, jedoch prallen in der Realität trotzdem die unterschiedlichsten Vorstellungen aufeinander und der eine fühlt sich vom anderen gegängelt, bevormundet, missverstanden.

Deshalb seien hier einmal die wichtigsten Verhaltensregeln aufgelistet, die Hunde-Begegnungen und den Umgang miteinander enorm erleichtern können. Im Einzelfall kann dann immer noch entschieden werden, wie man weiter verfahren möchte.

Regel 1:
Mein Hund ist an der Leine, dann sollte es deiner auch sein

Das ist eines der Hauptärgernisse: Wir spazieren gemütlich mit unserem Fido am Stadtrand entlang und halten ihn an der Leine. Weil wir noch mit ihm üben möchten oder weil es dort eben so vorgeschrieben ist. Aus der Ferne saust ein freilaufender Hund auf uns zu. Egal, ob klein oder groß, schwarz oder weiß, Rüde oder Hündin. In einiger Entfernung sehen wir einen Menschen, der der Halter sein ­könnte. Es gibt nun mehrere Szenarien: Der Hundehalter ist völlig unbeteiligt und nähert sich im Schneckentempo. Oder er/sie fuchtelt aufgeregt mit den Armen und ruft: „Der tut nichts, ­lassen Sie Ihren los!". Während wir versuchen, den Heißsporn auf Abstand zu halten, weil wir wissen, dass unser Fido fremde Hunde so gar nicht mag, folgt die Belehrung aus der Ferne auf dem Fuße: „Nun lassen Sie Ihren doch endlich von der Leine – so wird das nichts!" Klar ist: hier wird Verantwortung abgeschoben. Vermeintliche Freiheit wird propagiert. Darf der eine alles? Was lernt er daraus? Muss ich meine Erziehung den Wünschen anderer opfern? Und was ist mit Lene, die läufig ist? Selbst im Wald oder an abgelegenen Orten fühlen sich andere Hundehalter in ihrem Freiheitsdrang ausgebremst: „Sie können doch nicht hier mit einer läufigen Hündin spazieren gehen!"

Es könnte so einfach sein, wenn derjenige, der seinen Hund frei laufen lässt und einem anderen Mensch-Hund-Team begegnet, seinen Hund erst einmal zu sich heranruft und anleint – als eine Geste der Höflichkeit. Auch die Hunde lernen daraus: nämlich Respekt, Impulskontrolle und dass Herrchen oder Frauchen die Entscheidungen trifft. Macht es wirklich so viel Mühe, den Vierbeiner eine ­Minute angeleint an dem anderen Team vorbeizuführen? Und wenn man sich sympathisch ist, kann ja daraus auch eine Verabredung für den nächsten Spaziergang entstehen.

Regel 2:
Ich kümmere mich um meinen Hund und du dich um deinen

Damit kommen wir schon zur zweiten Vereinbarung. Wer, warum, wie mit seinem Hund trainiert, ist – sofern es nicht wirklich tierschutzrelevant ist – zunächst nicht meine Sache. Und: ich bin für das Benehmen ­meines eigenen Hundes verantwortlich. Wenn mein Hund nicht hört, darf ich nicht vom anderen verlangen, dass er es mir leicht macht, indem er seinen Hund zum Beispiel auch von der Leine nimmt. „Ihr Hund hat meinen angestarrt!" oder „Ihr Hund hat zuerst gebellt!". Das sind durchaus plausible Erklärungen, aber es ist ein wesentlich zielführenderer Gedanke, den Fokus auf meinen eigenen Vierbeiner zu richten und mich zu fragen, wie ich meinem Hund in diesen Situationen unterstützen kann.

Es könnte so einfach sein: Wenn ich auch gedanklich bei meinem Hund bleibe, spürt das mein Hund und ­achtet ebenfalls mehr auf mich als auf das Drumherum. Er merkt, dass ich wortwörtlich auf seiner Seite bin und ihm beistehe.

Regel 3:
Ich gebe nicht ungefragt ­Erziehungsratschläge

Statt mit einem netten Gruß (s. ­Vereinbarung 4) aneinander vorbeizugehen, halten es viele Hundehalter für zwingend angebracht, ungefragt Erziehungsratschläge loszuwerden: „Sie müssen Ihrem Hund ein anderes Halsband kaufen" oder „Sie müssen Ihren Hund nach Methode xy erziehen." Beliebt sind auch Hinweise auf einschlägige Fernsehsendungen und Berühmtheiten der Szene: „Der Herr X. hat das aber gerade erst im Fern­sehen erklärt."

Herr Knigge kannte dieses Phänomen ebenfalls: „Sei vorsichtig in Tadel und Widersprüchen! Es gibt wenig ­Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln oft die Augen selbst des klügeren Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müsste Dir sagen, dass Du noch weiser wie sie seist!"

Es könnte so einfach sein, wenn man sich darüber im Klaren wäre, dass es nicht den „perfekten" Hundehalter gibt und dass nicht ein einziger Weg zum Ziel führt. Begegnungen ver­mitteln immer nur Momenteindrücke und sagen nicht unbedingt etwas darüber aus, wie das andere Mensch-Hund-Team in anderen Situationen miteinander umgeht, und schon gar nichts über Trainingsstand, Vorer­fahrungen etc.

Regel 4:
Ich sage höflich „Guten Tag!"

Das ist doch selbstverständlich, oder? Ist es leider nicht. Hundehalter ­grüßen sich nur äußerst selten, wenn sie sich begegnen, achten Sie einmal darauf. Entweder, man schleicht ­schweigend aneinander vorbei oder ist ein ­Hundehalter aus der Ich-weiß-alles-besser-Fraktion und steigt direkt mit einer Belehrung oder Beschimpfung ein. Höflichkeit baut Barrieren ab. Plötzlich stellt man fest, dass man sich sympathisch ist.

Es könnte so einfach sein, wenn wir im Alltag (nicht nur gegenüber anderen Menschen mit Hund) ­freundlicher umgehen würden. Eine höfliche Grundhaltung und ein wertschätzender Umgang mit den Mitmenschen überträgt sich stimmungsmäßig auch auf die Hunde.

Regel 5:
Kommentare, die den anderen bloßstellen oder kränken könnten, erspare ich mir

„Sie haben Ihrem Hund gerade zum völlig falschen Zeitpunkt ein Leckerchen gegeben!" „Ihr Hund ist nicht erzogen!" – Das saß! Warum tun andere das? Fühlen sie sich dann besser, indem sie dem anderen seine vermeintlichen Fehler präsentieren, möglichst noch so, dass es andere, Unbeteiligte mitbekommen? Oder lenkt man so ganz gerne vom eigenen Unvermögen ab?

Das sagte Herr Knigge: „Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Un­kosten zu schimmern!" Passt doch, auch nach über 200 Jahren.

Es könnte so einfach sein, wenn wir mit der Kritik bei uns selbst ­beginnen würden. Wenn man sich schon einmischen oder ins Gespräch ­kommen möchte, dann ist ein ehrliches Lob für das, was gut läuft, ein viel ­besserer Einstieg. Das baut Barrieren ab. Außerdem ist es nie verkehrt, die Welt ­positiv gestimmt zu betrachten. Das hilft auch bei der Erziehung des ­eigenen Hundes.

Regel 6:
Ich beschimpfe andere Hunde­halter nicht

Beschimpfungen nehmen leider immer mehr zu. Und leider machen da Hunde­halter unter sich gar keine ­Ausnahme. Nicht nur, dass Beschimpfungen wegen Kleinigkeiten sicher nicht der richtige Weg im Umgang miteinander sind. Die aufgeheizte Stimmung und meine schlechte Laune übertragen sich leicht auf mein Verhalten meinem Vierbeiner gegenüber. Außerdem spürt er nicht nur die aufgeladene Atmosphäre, er bezieht meine Verärgerung möglicherweise sogar auf ein Verhalten, das er gerade gezeigt hat. Dass unsere Hunde sehr auf unsere menschliche Stimmung reagieren, hängt auch mit dem langen Zusammenleben in der menschlichen Welt zusammen. Nach einer Verbal­attacke zwischen zwei Hundehaltern gehen viele Hundehalter mit ihrem eigenen Hund ebenfalls unfreundlicher um, achten Sie einmal darauf. Ferner geben Hundehalter, die sich gegen­seitig beschimpfen, auch nach Außen kein gutes Bild ab.

Es wäre so einfach, wenn man sich an den alten Knigge halten würde: „Du hast, bei der besten Sache, schon halb verloren, wenn Du nicht kaltblütig (gemeint: sachlich) bleibst und wirst wenigstens auf diese Art nie über­zeugen."

Regel 7:
Ich habe keine Vorurteile ­gegenüber anderen Hunden

Schuld ist immer der andere Hund, schuld ist er, weil er einer bestimmten Rasse angehört, weil er ein Mischling ist, weil er aus dem Tierschutz kommt oder weil er groß oder klein oder schwarz ist. Oder, weil er einen Maulkorb trägt, dann ist er per se eine Gefahr. Wie sollen Nichthundemenschen tolerant sein, wenn wir es untereinander schon gar nicht sind? Und einen Hund einer bestimmten Rasse oder Größe zu haben, ist noch lange kein Freibrief dafür, es mit der Erziehung nicht so genau zu nehmen: „Pudel sind doch so lieb", „Mein Kleiner tut doch keinem etwas, aber nehmen Sie bloß Ihren Shar Pei an die Leine!". Bitte, liebe Kleinhundehalter, macht es euren Mitmenschen nicht so schwer und lasst euren Vierbeiner nicht vorlaut zu anderen Hunden rennen oder zu Kindern oder älteren Menschen. Außerdem: da kleine Hunde aufgrund ihrer genetischen Ausstattung wagemutiger sind, laufen sie tatsächlich Gefahr, unter die Räder bzw. Pfoten zu kommen. Denn nicht jeder größere Hund lässt es sich gefallen, dauerhaft umrundet, angebellt oder angesprungen zu werden. Sei der Große auch noch so entspannt und belastbar, irgendwann reicht es.

Es könnte so einfach sein, wenn Hunde­halter zusammenhalten würden und gemeinsam statt gegeneinander handeln würden. Wenn ­Hundeleute untereinander schon Vorurteile pflegen, bestätigen wir damit doch die Ängste und Ressentiments jener Menschen, die keine oder wenig Erfahrung mit Hunden haben.

Regel 8:
Ich denunziere andere Hundehalter nicht

Oh ja, das gibt es: Fotos anderer Hundehalter wandern zum Ordnungsamt, weil diese die Häufchen nicht vorschriftsmäßig entsorgen, ihren Hund laufen lassen, dort, wo das streng untersagt ist. Abgesehen davon, dass das Fotografieren anderer ohne deren Einwilligung unzulässig ist, weil es Persönlichkeitsrechte verletzt (s. z.B. Urteil des Landgerichts Bonn Az. 5 S 47/14), stellt sich doch die Frage, was man damit bezweckt. Somit steigert man jedenfalls nicht die Akzeptanz der Hunde in der Öffentlichkeit und hinterlässt das Bild einer sich ständig streitenden, uneinigen Interessen­gemeinschaft. Der Dialog wäre der richtige Weg, und wenn der andere für Argumente unzugänglich ist, hilft es meist nur, eine Faust in der Tasche zu machen und trotzdem mit gutem Beispiel voranzugehen. Wir werden nicht alle Menschen ändern können.

Es könnte so einfach sein, wenn wir miteinander statt gegeneinander agieren würden. Dann könnten wir in wichtigen Fragen auch geschlossener auftreten.

Regel 9:
Ich nehme Rücksicht auf andere

Übt jemand mit seinem Vierbeiner, müssen wir uns nicht dazwischendrängen. Kommt uns ein Kind auf einem Skateboard entgegen, rufen wir unseren Hund zu uns und oder halten ihn an der kurzen Leine. Wir lassen ihn nicht an anderen Menschen hochspringen, weichen aus, wenn uns ein anderes Mensch-Hund-Team an einer Engstelle entgegen kommt. Wir behindern keine Jogger oder Radfahrer, die böse stürzen ­können, wenn Emilie, Jasper und Co. auf sie zustürmen oder ihnen den Weg versperren. Die Beispiele für rücksichtsvolles Verhalten könnten munter weitergeführt werden. Eigentlich ist es traurig, überhaupt Worte darüber verlieren zu müssen. Rücksichtsvolles Handeln tut nicht weh, es kostet kaum Zeit und schon gar kein Geld. Warum fällt es uns so schwer? Manchmal, ich gebe es zu, muss man sich schon sehr wundern: Rücksichtnahme, etwa das Ausweichen eines Mensch-Hund-Teams an einer Engstelle, wird nicht mit einem einfachen „Dankeschön" begrüßt, sondern mit Bemerkungen wie diesen quittiert: „Haben Sie doch keine Angst vor meinem Hund!" oder „Ist Ihr Hund aggressiv?" Rücksichtnahme wird negativ kommentiert – seltsam. Gerade in Zeiten, in denen die Akzeptanz von Hunden in der Gesellschaft zu schwinden scheint (s. Giftköder), kann jeder mit seinem Verhalten signalisieren, dass letztendlich doch alle Platz an ein- und demselben Ort haben können.

Es wäre so einfach, wenn wir alle rücksichtsvoller miteinander umgingen und uns bisweilen in den anderen hineindenken würden. Warum immer eine Konfrontation suchen?

Regel 10:
Ich treffe Absprachen

Schon aus einiger Entfernung kann man sich z.B. darüber verständigen, wer welchen Weg nimmt, wer wartet etc., damit es gar nicht erst zu Konflikten zwischen zwei Hunden kommt. Etwa wenn man sich an einem schmalen Durchgang begegnet, sofern man weiß, dass der eigene Hund mit Nähe (noch) seine Probleme hat oder der andere Hundehalter mittels seiner Körpersprache Unsicherheit signalisiert. Abgesprochen werden sollte auch, ob sich die angeleinten Hunde unbedingt körperlich begrüßen ­müssen. Gerne wird das frischgebackenen Welpenhaltern „verordnet" und das Beschnuppern an der Leine regelrecht aufgezwungen: „Sie müssen sich aber doch begrüßen!". Leinenaggression ist nur eines der Probleme, das aus derartigen Überschreitungen der Individual­distanz entstehen kann. Abgesprochen werden sollte auch, ob der andere Hund ein Leckerchen erhalten darf. Erziehungs- und Unverträglichkeitsgründe sprechen durchaus dagegen. Die Aufzählung ließe sich noch mit zahlreichen weiteren Beispielen fortführen.

Es wäre so einfach, nachzufragen und miteinander zu reden. Bei anderen dieselben Interessen vorauszusetzen, die ich selbst habe, ist zu kurz gedacht und schafft Raum für neue Konflikte.

Diese 10 Vereinbarungen thematisieren genau jene Konflikte, mit denen wir – mal seltener, mal öfter – im Alltag konfrontiert werden. Gehen wir einfach mit gutem Beispiel voran. Vielleicht schaffen wir es ja doch, den einen oder anderen Menschen auf die richtige Fährte zu bringen.

Knigges Texte im Original lesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/uber-den-umgang-mit-­menschen-3524/6

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