Kastration auf Probe

Von Sandra Andrés

Was bringt der Kastrations-Chip?

Tierärztin und Trainerin sprechen über den Prozess der chemischen Kastration, was man bedenken sollte und ob sie für alle Hunde geeignet ist. Eine Hundebesitzerin erzählt von ihren eigenen Erfahrungen.

An diesem Morgen liegt Käpp friedlich auf seinem Platz am Fenster. Doch das ändert sich, sobald der fünfjährige Golden Retriever auf der Straße ist: »Wenn wir einen anderen Hund treffen, kann ich ihn kaum halten«, erzählt Frauchen Caren Frank. »Ohne Theater brauchen wir eine Feldbreite Abstand. Er zieht auch wie verrückt an der Leine, um alles zu markieren.« Schon in der Hundeschule hat Käpp alles niedergebellt, was ihm an der Leine begegnete. »Unsere Tierärztin war nicht sicher, ob Kastration die Lösung sei, wenn der Hund auch Rüden anbellt.« Außerdem stieß die Hundehalterin in ihrer ländlichen Umgebung auf Widerspruch. »Die Leute meinten: ‚Mach das nicht! Der arme Hund!’«

Doch es wurde schlimmer: Der 5-jährige Rüde wollte nachts ständig raus, hörte auf zu fressen. »Ich dachte zuerst, er müsste raus, sein Geschäft machen, doch dann merkte ich, eigentlich war es wegen läufiger Hündinnen. Nach vier Tagen bin ich am Stock gegangen. Und ich habe mir gedacht: Ich muss wissen, was für uns richtig ist. Andere müssen nicht den ganzen Tag mit dieser Situation klarkommen«, erzählt die 43-jährige Mediengestalterin. Nach einem Gespräch mit der Hundetrainerin fiel die Entscheidung. »Sie hat uns den Chip zur chemischen Kastration vorgeschlagen, um zu sehen, ob der Hund dann nicht mehr so abgelenkt ist, sodass wir das Training starten können. Es geht darum, dass er nicht überall markiert und schnuppert.« Vor fünf Wochen ist der Chip bei Käpp eingesetzt worden. »Wir sind hingekommen, Kanüle angesetzt, er hat nicht mal gezuckt. Wir sind gleich nach Hause.«

Vorübergehende Kastration
Der Prozess der chemischen Kastration, die es seit 2007 gibt, sei simpel, bestätigt Tierärztin Elke Rebscher. »Es funktioniert wie beim Registrierchip. Er wird ohne Betäubung zwischen den Schulterblättern injiziert.« Das könne auch gleichzeitig mit anderen Behandlungen oder Impfungen stattfinden. Das Hormon Suprelorin für vorübergehende Unfruchtbarkeit zeigt etwa sechs Wochen danach seine Wirkung. Die häufigste Nebenwirkung ist eine mittelgradige Schwellung an der Implantationsstelle. Die Wirkungsdauer ist je nach Implantat sechs Monate oder ein Jahr, die dementsprechenden Chips haben auch unterschiedliche Preise. »Der Sechsmonatschip kostet 105 Euro, für ein ganzes Jahr fallen 140 an«, sagt Rebscher. »Ich hatte schon Tiere, bei denen ein Halbjahreschip zwei Jahre gehalten hat, bei anderen nur vier Monate.« Der Kastrationschip bleibt im Hund, auch wenn er danach nicht weiter hormonell behandelt wird. Die Wirkung klingt dann langsam ab. »Die Hoden werden dann wieder deutlich größer, falls man es nicht am Verhalten merkt«, sagt sie. Auf Nebenwirkungen hätte die Dauer keinen Einfluss. »Eine Kastration kann Einfluss auf den Hormonhaushalt haben, auf die Schilddrüse. Durch den Chip kann man diese Wirkung absehen, da sie wieder abklingt.« Reaktionen auf das Implantat habe sie aber noch nie erlebt. Auch von Nebenwirkungen auf den Menschen hat sie noch nie gehört: »Ich wüsste nicht, wie das funktionieren sollte, man kommt mit den Hormonen nicht in Kontakt.«

Bevor das Tier eineinhalb Jahre alt ist, rät sie generell nicht zur Kastration, obwohl sie theoretisch ab sechs Monaten möglich sei. »Dann ist der Hund erst geschlechtsreif.« Wichtig sei es, abzuklären, ob die Verhaltensstörungen tatsächlich hormonell bedingt seien. »Das ist oft schwer festzustellen«, findet Rebscher. »Der Chip ist eine gute Möglichkeit zu testen, ob Kastration eine sinnvolle Lösung ist, das heißt, ob sie etwas für das Verhalten bringt.« Die chemische Kastration sei theoretisch auch eine lebenslange Alternative zur operativen. Doch Rebscher findet: »Es ist nicht sinnvoll, dem Tier permanent Hormone zu geben. Wenn man das zwei, drei Mal macht und eine gute Wirkung sieht, rate ich zur operativen Kastration.« Diese koste etwa 300 Euro und sei ein kleiner Eingriff. »Bei chemischer Kastration wirken Hormone, die den Körper beeinflussen. Ich bin nicht dagegen, es hat oft gute Auswirkungen. Aber man sollte nicht unvorsichtig damit umgehen, und ich bin kein Verkäufer von Kastrationschips.« Das Implantat sei kein Allheilmittel, sagt sie: »Erziehungsmaßnahmen bleiben nicht erspart. Eine Kastration, egal welcher Art, ändert nicht den Charakter des Hundes oder den Umgang mit ihm.« Wichtig sei deshalb individuelle Beratung beim Tierarzt oder einem Hundetrainer. »Ich kläre die Leute über Vor- und Nachteile auf. Wir besprechen, ob es ein guter Zeitpunkt ist und wie sich die Hormone auf den Hund auswirken können. Wenn ich mir sicher bin, dass es für den Rüden sinnvoll ist, rate ich zur Operation. Manchmal ist es eindeutig, wenn sie ansonsten gut zu führen sind, aber plötzlich auf läufige Hündinnen reagieren.« Etwa bei der Hälfte der Patienten, die sich bei ihr über Kastration informieren, sei dies der Fall. Doch oft sei es auch offensichtlich, dass die Gründe für Fehlverhalten anderswo verwurzelt sind: »Manchmal schicke ich Kunden auch zum Hundetrainer«, sagt Rebscher.

Nur bei sexuell orientiertem Fehlverhalten
Annett Winkelmann ist seit zwölf Jahren Hundetrainerin, hat auch viel Erfahrung mit kastrierten Rüden. Sie gibt zu bedenken, Kastration sei nicht die Lösung für alle Hunde, sondern in erster Linie zur Bekämpfung von sexuell orientiertem Fehlverhalten. Dieses stresse auch den Hund selbst im Alltag. »Es ist nicht so, dass der Hund nicht hören will, er kann einfach nicht, er denkt nur an Fortpflanzung. Der Halter hat dann wenig Chance, die Aufmerksamkeit des Hundes zu erlangen.« Das Implantat unterbinde die Sexualhormone, der Hund sei weniger abgelenkt und könne sich auf den Menschen konzentrieren. »Gerade hatte ich einen Fall, wo das Frauchen sogar von ihrem Hund gebissen wurde. Auch das kann mit den Hormonen zusammenhängen, mit der Stresssituation. Er wurde jetzt chemisch kastriert und ist definitiv ruhiger geworden, ist nicht mehr so angespannt. Die Akzeptanz gegenüber den Haltern ist extrem gestiegen.« Auch andere Hunde seien erst mit dem Chip trainierbar geworden. »Es kann ein Segen sein«, sagt Winkelmann. Diese Fälle seien dann ihrer Erfahrung nach großteils dauerhaft kastriert worden. »Manche haben auch immer wieder auf den Hormonchip zurückgegriffen, das finde ich aber nicht gut. Wenn es sich nicht um Hunde handelt, mit denen später gezüchtet werden soll, sollte man permanent kastrieren, wenn es offensichtlich ist, dass ihm das hilft.« Natürlich könnten auch kastrierte Rüden noch markieren, auch mal an unerwünschten Orten.

Es sei außerdem wichtig, auf den Charakter des Hundes zu schauen: Ist er ängstlich und schüchtern? Denn das Implantat könne bei solchen Hunden auch negativ wirken. »Bei ängstlichen Hunden kann der Entzug des Tapferkeitshormones Testosteron zu Angstaggression führen.« In zwei Fällen habe sie erlebt, dass der Hund nach dem Test mit dem Chip deshalb nicht kastriert wurde. Man könne durch chemische Kastration gut sehen, ob der Hund sich im Wesen verändere.

»Ich glaube nicht, dass ich durch den Chip den sichersten Hund auf Erden bekomme«, lacht Frank. Aber vielleicht, dass sie ihn öfter entspannt auf einen Ausflug mitnehmen oder hin und wieder über Nacht bei Verwandten lassen kann. »Ich hoffe, dass wir irgendwann dahin kommen, dass er so sozialisiert ist, dass er nicht mehr jeden Hund anpöbelt, vielleicht auch mal einen Tag in einer Pension verbringen kann.«

Drei Monate später muss Frank nicht mehr zum Hundetraining: »Manchmal gibt es zwar kleine Rückschläge, aber Käpp bellt jetzt nicht mehr jeden Hund an.« Als einzige Nebenwirkung hat sie festgestellt, dass er hungriger ist. »Wenn ich in die Küche gehe, höre ich schon: dippel, dippel, dippel. Oft lasse ich mich da breitschlagen. Er kann so schrecklich arm dreinschauen.« Weil Käpp doch schon ziemlich zugelegt hat, möchte sie auch noch abwarten, wie die Situation sich weiter entwickelt, nachdem die Wirkung des Implantats nachgelassen haben wird. »Da gerade so viele Situationen gut verlaufen, bin ich auch sicherer in der Führung geworden. Dadurch merkt Käpp auch, dass ich das alleine regeln kann.« Wenn er nach Ablauf der Wirkung des Implantats doch wieder in alte Muster verfallen sollte, wird sie den Golden Retriever permanent ­kastrieren lassen – diesmal, ohne auf andere zu hören. »Das ist mein Leben. Ich bereue, dass ich mich da so lange habe ­einlullen lassen.«

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