Kalle – Das Leben eines Deutschen Schäferhundes

Von dogodu-Redaktion

Diese Geschichte handelt von Kalle, einem Deutschen ­Schäferhund. So berührend das persönliche Schicksal dieses Hundes und ­seiner Menschen ist, so ist es leider kein Einzelfall. Geschichten wie ­diese gelangen immer häufiger an die Öffentlichkeit. Früher sei das Reden über Krankheiten auf vielen Hundeplätzen des ­Vereins für Deutsche Schäferhunde (SV) ein Tabu gewesen, ­erzählen ­Schäferhundliebhaber. Doch das Verschweigen der großen ­gesundheitlichen Probleme der Rasse Deutscher Schäferhund habe deren gesundheitlichen Niedergang nur umso mehr beschleunigt. Lesen Sie Kalles Geschichte.

"Es soll aufhören! Ich hab’ kein Bock mehr!" – es war eindeutig zu lesen in den Augen von Kalle, geboren als Fabian von der Ostfriesischen ­Thingstätte. Kalle hatte genug von den vielen ­Therapien und den immer neuen ­Versuchen seiner Menschen, ihm mit verschiedensten ­medizinischen Behandlungen zu helfen. Nichts ­nützte nachhaltig, um seine Leiden zu erleichtern. Er wollte sich ver­kriechen und nur mehr in Ruhe gelassen ­werden. Kalle wollte einfach nicht mehr, erzählt Marlies Kordes mit Tränen in den Augen. So rief sie den Tierarzt. Diesmal aber nicht, um wieder einmal eine neue Medizin auszuprobieren. Denn ihr Kalle hatte ihr diesmal eindeutig zu verstehen gegeben: „Es ist genug. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr!" Der Tierarzt kam …

Es tut ihr heute noch weh, wenn ­Marlies Kordes daran denkt, aber es ist ihr wichtig aufzustehen und ihre Stimme zu erheben. Denn „Kalle steht stellvertretend für alle ­Deutschen Schäferhunde, die leiden müssen", sagt sie.

Kalle wurde am 11. Oktober 2009 geboren. Marlies Kordes war gerade auf dem Hundeplatz, als ihr Handy läutete. Ein Sportsfreund war dran und erzählte ihr, dass er ­Mitbesitzer einer Hündin (Qually von der ­Ostfriesischen Thingstätte) sei, die seit dem Morgen bei ihm am ­Werfen wäre. Allerdings sei bis Mittag erst 1 Welpe geboren worden und es ­ginge nichts mehr weiter, sodass er nun die Telefonnummer einer ­Tierarztpraxis benötige.

Schwere Geburt
Wenig später war Marlies Kordes mit dem Mitbesitzer der werfenden ­Hündin auf dem Weg zum Tierarzt. Über den Tierarztbesuch erzählt sie: „Qually wurde untersucht, erhielt Wehenspritzen und andere Medikamente, und so wurde dann stündlich ein Welpe geboren. ­Spritzen … ­Welpe … Spritzen … Welpe … ­Spritzen … ­Welpe. Doch abends stockte es wieder. Qually hatte mich immer mit so großen Augen angesehen. Ihr Blick sagte, ‚Kannst du mir nicht helfen?‘ Schließlich wurde ein Röntgen gemacht, das zeigte noch immer 4 Welpen in Quallys Bauch. So  ­entschied sich der Tierarzt für einen Kaiserschnitt."

Letztlich waren es 8 lebende Welpen, ein Welpe war tot. So fuhren ­Marlies Kordes und ihr Hundefreund mit der Hündin und ihren Welpen nach Hause, legten sie in die Wurfkiste. Man war froh, dass alle Welpen gut drauf zu sein schienen. Nur einer, der ­kleinste Welpe, schrie schrecklich. Der Hunde­sportsfreund meinte, „ob der ­morgen wohl noch leben wird?" Da gab ­Marlies dem Kleinen den Namen Kalle und versprach ihm, ihn zu sich zu ­nehmen, wenn er die Nacht überlebe.

Marlies fuhr nach Hause und konnte die Nacht kaum schlafen. ­Dauernd dachte sie an „ihren" Kalle. Am ­nächsten ­Morgen dann sofort die Nachfrage, wie geht es Kalle? Und Kalle ging es gut. Gott sei Dank.

Erste Zeichen …
Kalle stammte aus einer ­angesehenen Zucht, hatte „tolle" Eltern, einen renommierten SV-Züchter. So dachte Marlies, nun einen SV-Sporthund zu haben, dessen Leistungen man auch auf Ausstellungen zeigen könne. Doch Kalle hatte nur einen Hoden, von SV-Sporthund daher keine Rede mehr. „Egal, dann wird er eben Schutzhund", meinte Marlies und freute sich auf sportliche Beschäftigung mit ihrem Kalle. Doch damit wurde es leider auch nichts.

Marlies erzählt: „Mit etwa 6 bis 7 Mo­naten knickte Kalle beim Spazier­gang einmal ein. Ich dachte nur ‚Bitte nicht!’. Vielleicht war es nur eine kleine Kuhle, in der er sich vertreten hat." Doch es wurde nicht besser, und so wurde Kalle mit 10 Monaten geröntgt. Das Ergebnis war niederschmetternd. Kalle hatte an beiden Vorderläufen ED (Ellbogendysplasie). Auf der einen Seite war sogar schon der Knochen abgerieben.

Es war eine schwere Operation, doch es gab keine andere Wahl. „Nun musste ich wieder umdenken", erzählt Marlies. „Egal, dann wird Kalle eben Fährtenhund." Es war ihr wichtig, ihrem Hund eine Aufgabe geben zu können, die ihn auslastet und ihm Freude macht.

Nun wurde Kalle manchmal ziemlich aggressiv, man riet zur Kastration. Der andere, im Bauchraum steckengebliebene Hoden musste ohnehin herausoperiert werden, da konnte man auch gleich den zweiten ­ent­fernen. So wurde Kalle mit einem Jahr kastriert. In Narkose hat man auch gleich die Hüften angeschaut. Die sahen leider auch nicht gut aus …

Kalles Zeit ist begrenzt
Kalle überstand die Operation gut und es schien ihm wieder gut zu gehen. Doch dann fiel auf, dass er immer seine Hinterläufe nachzog. Zu diesem Zeitpunkt war Kalle etwa 20 ­Monate alt. Zunächst dachte man an das ­Cauda Equina-Syndrom, eine bei Schäferhunden sehr ­häufige Er­krankung, doch dann kam die ­Diagnose: Kalle hatte Myasthenia gravis, eine unheilbare Autoimmun­erkrankung, die das eigene Muskel­gewebe zerstört. Man kann mit ­Tabletten behandeln und das Fortschreiten verlangsamen, aber alle wussten nun, Kalles Zeit ist begrenzt.

Auf der SV-Siegerschau in Nürnberg saß Marlies auf der Tribüne und sah die Nachkommen-Gruppe von ­Kalles Vater im Ring laufen. Das machte sie sehr traurig. „Wie gern wäre ich da mit meinem Kalle mitgelaufen", ­erinnert sie sich. „Das waren damals unsere Träume, die nie in Erfüllung gehen sollten. Mein Kalle hat beide ­Ellbogen und beide Hüften kaputt, und es macht mich traurig und wütend, dass man mit ‚noch zu­ge­lassenen‘ ­Hündinnen überhaupt ­züchten darf."

Kalle war nun 25 Monate alt. An einem Sonntagmorgen plötzlich ein epileptischer Anfall. „Es war schrecklich", erinnert sich Marlies. Der zweite Anfall ließ nicht lange auf sich ­warten. Schon nach 4 Wochen war er da, und dann kamen sie immer ­häufiger. Für Marlies wurde es nun ein 24-­Stunden-Job, wie sie selbst sagt. „Kalle schlief seit seinem ­ersten Anfall immer bei mir vor ­meinem Bett. Die Anfälle kamen meist nachts. Bevor sie anfingen, stand er auf und begann zu wandern. Sobald ich dadurch ­aufwachte, nahm ich Kalle in den Arm, da wurde er wieder ruhig. Und als dann der Anfall kam, konnte er sich nicht verletzen, weil ich ihn hielt." Doch seine Anfälle wurden immer häufiger, und Kalle musste noch mehr Tabletten schlucken.

Die vielen Medikamente führten zu Nebenwirkungen, es kam zu Organschäden. Die Leberwerte waren angestiegen, und Marlies konnte auch keinen Besuch mehr empfangen, weil Kalle auf jeden losging. Durch seine Krankheiten war der Hund ziemlich aggressiv geworden, doch Marlies gegenüber ordnete er sich problemlos unter. Marlies ­konnte alles mit ihm machen: „Doch sein Zustand wurde immer schlechter. Ich habe oft zu Kalle gesagt, dass er mir sagen muss, wenn er nicht mehr will."

Der letzte Weg
Am 4. April 2012 war es soweit. Kalle verweigerte das Futter, sogar die Leckerlis, schluckte auch die notwendigen Tabletten nicht mehr und sagte seinem geliebten Frauchen mit seinem Blick: „Es ist genug. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr!" Der Tierarzt kam zu uns ins Haus, ­meinte traurig, dass Kalle nun wohl auch Nieren­versagen habe. Dass Kalle, der sonst auf jeden losging, nun den Doc zu sich ließ, schien ein ­weiteres ­Zeichen zu sein. Mit einem Ball versuchte der Tierarzt, Kalle etwas abzulenken, dann gab er ihm die Spritzen. „Um 13:45 Uhr hat Kalle in meinen Armen aufgehört zu atmen", sagt Marlies mit nassen Augen. „Wir haben alles für ihn getan, wir hatten viele Pläne, aber unser gemeinsamer Weg endete viel zu früh."

„So schnell kann ein Schäferhunde­leben zu Ende sein", sagt Marlies, „Kalle wird ewig in meinem Herzen bleiben." Doch Kalle habe in ihrem Herzen auch etwas Platz für einen neuen Hund gemacht. Maylo sei kein „Ersatzhund", aber er helfe ihr. Marlies und Maylo verstehen sich wunderbar, auch ihn würde sie nicht mehr her­geben, egal, was mit ihm passiere. „Ich hätte mal so gerne einen gesunden Deutschen Schäferhund. Bisher hatte ich nur Pech. Aber vielleicht haben wir nun mehr Glück und können die Wege gehen, die ich schon mit Kalle gehen wollte …"

HINTERGRUND

Maylo – der dänische Deutsche Schäferhund

Maylo ist der vierbeinige ­Nachfolger von Kalle in Marlies’ Leben. Auch wenn es ihr noch immer das Herz zusammen­zieht und die Tränen in die Augen schießen, wenn sie an Kalle denkt, so hat sich Maylo längst seinen eigenen Platz in Marlies’ Herz erobert. Ein kurzes Gespräch mit WUFF:

WUFF: Marlies, woher stammt der Neue?

Marlies Kordes: Maylo ist ein ­Deutscher Schäferhund aus ­Dänemark, am 3. 2. 2012 geboren.

WUFF: Wie kommen Sie bei der Suche nach einem Deutschen Schäferhund auf Dänemark?

Marlies: Ich hab’ ihn durch Zufall übers Internet gefunden. Sein Zwingername ist Apollon Zwinger vom Meer.

WUFF: „Vom Meer" – das ist ein ­interessanter Zwingername für einen Schäferhund.

Marlies: Ja, und er hat seinen Sinn. Denn Maylo ist ganz oben in ­Dänemark, sozusagen fast am ­Meeresstrand, geboren. Dorthin fahren wir im nächsten Sommer dann auch in den Urlaub. Auch zu den Züchtern besteht noch ein ganz toller Kontakt.

WUFF: Wie denken Sie über die Zucht Deutscher Schäferhunde im SV?

Marlies: Wenn man nur wirklich mit „astreinen" Hunden züchten ­würde, glaube ich, hätten wir nicht so ­viele kranke Hunde. Aber wie soll das gehen, wenn die Richter auf der Siegerschau die ersten 2 Hunde mit einem ED-Befund von „fast normal" an die Spitze stellen? Als Auslese­hunde bezeichne ich nur Hunde mit HD/ED „normal", denn diese ­Hunde sind eine „Zuchtempfehlung"! Was anderes gehört da nicht hin.

WUFF: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Marlies: Meine großen Träume waren es, einmal mit meinem Deutschen Schäferhund im Stadion zu laufen und mal einen Wurf zu machen. Aber wie mit kranken Hunden? Sollte Maylo demnächst keine guten Röntgen­ergebnisse haben, ist es bei mir damit wieder vorbei.

WUFF: Danke für das Gespräch.

Stellungnahme des Züchters

Wir haben den Züchter von Kalle, Hinrich M., um eine Stellungnahme gebeten und ihn gefragt, warum er sowohl mit Rüden als auch mit Hündinnen züchtet, die nicht „HD normal" sind, wenn dadurch nach Aussagen von Tierzuchtexperten bei der Nachzucht mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko zu rechnen ist. Außerdem, warum er mit Kalles Mutter noch immer züchtet (die Hündin ist als eine von 7 Zucht­hündinnen auf seiner Website aufgelistet), obwohl diese einen Kaiserschnitt benötigte, also offensichtlich nicht normal gebären kann. Und schließlich, wie die gesundheitlichen Ergebnisse der Nachkommenschaft seiner Zucht aussehen, bzw. ob Kalle lediglich ein unglücklicher Einzelfall ist. Hier die Antwort von Kalles Züchter.

„Das Schicksal des Fabian von der ostfriesischen Thingstätte (genannt Kalle, Anm. d. Red.) hat mich auch sehr betroffen gemacht. Nachdem ich davon erfahren habe, habe ich die Mutterhündin aus der Zucht genommen. Leider kann es in der Tierzucht immer wieder zu krankheitsbedingten unschönen Abweichungen kommen. In meiner Zucht erfüllen alle Tiere die Erfordernisse des Vereins für Deutsche Schäferhunde. Es ist niemals vorherzusehen, wie sich die Welpen der verschiedensten Paarungen entwickeln. In meiner 40-jährigen züchterischen Tätigkeit ist mir ein derartig schlimmer Fall nicht bekannt. Selbst bei Paarungen mit beiden Elterntieren HD-Normal kann es auch zu gesundheitlichen Einschränkungen kommen. Leider kann ich das Geschehene nicht rückgängig machen. Auf meinen Vorschlag, einen Ersatz zu geben, wurde von der Eigentümerin nicht geantwortet."
Hinrich M.

Kollateralschaden der Hochzucht des Deutschen Schäferhundes?

von Jan Demeyere

Wir haben den Experten für Deutsche Schäferhunde-Zucht, den Belgier Jan Demeyere, um einen Kommentar zum Fall Kalle gebeten.

„Die großen Probleme in der aktuellen Zucht des Deutschen ­Schäferhundes sind weithin bekannt: massivste Inzucht seit Jahrzehnten, unzu­reichende Zuchthygiene bei vererbbaren Krankheiten wie HD/ED (Hüftgelenksdysplasie und Ellenbogendysplasie) und EPI (Exokrine Pankreas-Insuffizienz), Cauda Equina Syndrom, etc. Dadurch haben schon die größten Züchter heutzutage große Schwierigkeiten, sich einen gesunden Bestand für die Zukunft anzulegen. Sie dürfen schon froh sein, wenn sich in ihren Würfen genügend wertvolle, d.h. vielversprechende Tiere befinden, um zur nächsten Zuchtschau gehen zu können.

Naturgemäß behalten sich diese Züchter die besten Hunde oder geben sie in die Hände von Kollegen-Züchtern. Alle anderen Welpen müssen aber auch verkauft werden, nach Möglichkeit ins Ausland, damit z.B. schlechte HD/ED-Befunde nicht beim Verein für Deutsche Schäferhunde (SV) eingereicht werden müssen und somit den „Zuchtwert" der Eltern belasten könnten.

Weil diese Probleme sich aber auch schon im Ausland herumgesprochen haben, ist man auch dort sehr vorsichtig geworden und will Garantien sehen (die kein Züchter abgeben will) oder will nur künftige Champions aus den Siegerlinien oder von sog. Auslese-Eltern.

Somit landen Hunde, die nicht so „vielversprechend" sind (d.h., die ein zuchtausschließendes Problem haben, z.B. Gebäudefehler, Ohrenfehler, Rutenfehler, Zahnfehler, HD/ED oder EPI), meistens in Laienhänden. Das sind oft Menschen, die den Deutschen Schäferhund als Rasse über alles ­lieben, aber nie im Voraus auch nur daran gedacht haben, dass ihr zu­künftiger Hausfreund (Haustier) ein Dauerpatient sein könnte. Diese Leute sind es, die es ausbaden (und die Kosten für Operationen und Behandlungen tragen) müssen, dass die Zuchtvorschriften im SV, wie seit Jahren von Wissenschaftlern sowie von uns (in vielen kritischen Berichten) vehement gefordert, nicht strenger gemacht werden.

Kalle wurde meines Erachtens nicht etwa als gesunder Welpe aus einer kleinen gesunden Liebhaber-Zucht verkauft, sondern als Kollateral­schaden einer absoluten und intensiven Auslese-Zucht (Sieger-Zucht, Champions-Zucht) „abgestoßen". Kalle war, wie Tausende von Schäferhundwelpen jährlich, ein Abfallprodukt der sog. Hochzucht."

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