Im Hier und Jetzt

Von Martina Stricker

Wie oft hört oder liest man, dass Hunde einzig im Hier und Jetzt leben würden. Doch muss man diese Aussage differenziert betrachten, denn wir wissen alle nur zu gut, dass auch Hunde aus vergangenen Erlebnissen ihre Schlüsse ziehen und diese immer wieder miteinbringen, was gut aber leider oft auch allzu schlecht sein kann. Wie bei uns Menschen auch, ist Vergangenes noch lange nicht vergessen.

Erfahrungen fließen immer mit ein. Reagiert Ihr Hund, wenn Sie die Kühlschranktür öffnen? Ganz sicher, denn er hat die Erfahrung gemacht, dass die Chance, dabei etwas abzubekommen, zumindest gelegentlich besteht. Kommt Ihr Vierbeiner, sofern er zu den sensibleren Exemplaren zählt, vielleicht zwei bis drei Tage etwas zögerlich zu Ihnen, nachdem Sie ihm ungewollt durch eine elektrische Aufladung einen kleinen Schlag verpassten? Verständlicherweise ja! Auch wissen beispielsweise unsere tierischen Gefährten schon beim sich von Weitem nähernden Artgenossen ganz gut, ob es sich um den bekannten Hundekumpel handelt, mit dem sie schon vielfach toben konnten und deshalb auch frontal auf ihn zusprinten können, während ein fremder Hund ein vorsichtiges Herantasten erfordert.
Wir können das endlos weiterführen. Natürlich verarbeitet der Hund seine Erfahrungen. Gerade Halter eines Tierschutzhundes können oft ein Lied davon singen; wenngleich es sich manchmal eher um ein Klagelied handelt. Jede Art von Erlerntem ist in gewisser Hinsicht auch ein Blick in die Vergangenheit. Gerade schlechte Erfahrungen setzen manchem Vierbeiner sogar lebenslang zu. Insofern lässt sich ganz sicher nicht im wahrsten Sinne des Wortes feststellen, unsere tierischen Gefährten lebten generell »im Hier und Jetzt« und man könne immer wieder ganz neu mit ihnen beginnen.

Vorgaben der Natur
Wer in der freien Wildbahn überleben will, kann es sich einfach nicht leisten, Vergangenem lange hinterherzutrauern oder Zukunftspläne zu schmieden. Durch dieses genetische Erbe sind unsere Hunde auch heute noch ganz fest in der Gegenwart verwurzelt. Ursächlich für die unterschiedliche Grundeinstellung im Vergleich zu uns Menschen ist jedoch nicht ein Mangel an geistigen Fähigkeiten, Vergangenheit und Zukunft einschätzen zu können, sondern in erster Linie die Tatsache, dass unsere Hunde die Zukunft nicht wirklich beeinflussen und sich in unserer Menschenwelt auch nicht wie wir Informationen über etwaig künftige Möglichkeiten beschaffen können.

Analysen und Zukunftsprojekte
Um über zurückliegende Situationen zu sinnieren, braucht man Kenntnisse, wie sie anders hätten ausfallen können. Und um wiederum Pläne für die Zukunft zu schmieden, bedarf es Informationen, welche Alternativen einem zur Verfügung stehen, welche Hilfsmittel gegebenenfalls in Anspruch zu nehmen wären, welche Vor- beziehungsweise Nachteile sich daraus ergeben würden und vieles mehr. Zur Informationsgewinnung haben wir Menschen Zugang. Unsere Hunde könnten dies in ihrem ursprünglich natürlichen Umfeld, ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechend, möglicherweise ebenso, nicht aber in unserer Menschenwelt.

Andere Lebensverhältnisse
Gedankenspiele in der Art »Was wäre, wenn« sind ein Luxus, den sich der Mensch erst leisten kann, seit er nicht ums nackte Überleben kämpfen muss, aber auch, seitdem er selbst Einfluss auf sein Leben nehmen kann. Hinzu kommt, dass wir Menschen uns über Zurückliegendes oder Zukünftiges auch austauschen können. Die menschliche Sprache kann sehr vielschichtige Informationen und deren Zusammenhänge liefern. Insbesondere erleichtert sie die zeitliche Zuordnung von Vorgängen. Die Erläuterung, dass etwas bereits passierte beziehungsweise für die Zukunft in Aussicht gestellt wird, kann nonverbal kaum erreicht werden.

Die Gegenwart fordert oft schnelles Handeln
Um über etwas nachzugrübeln, braucht man Zeit; Zeit, die die Natur oft nicht zugesteht. Das Leben des Fressens und Gefressenwerdens setzt auf schnelles, instinktives oder schon gefestigt erlerntes Handeln. Das geht uns Menschen, ganz besonders in brenzligen Situationen, auch nicht anders. Wenn an einer grünen Ampel plötzlich ein Fahrzeug unsere Route kreuzt, wägen wir nicht sorgfältig ab, ob eine Vollbremsung sinnvoll wäre, welchen Fuß man dafür auf das Bremspedal setzen sollte oder gar, ob sich dabei unsere Reifen abnutzen würden. Werden wir von Situationen überrascht, handeln wir, wie man so schön sagt, instinktiv, was routiniert bedeutet; ein verinnerlichtes Verhalten aufgrund erlernter Einschätzungen.

Leben braucht Routine
Dies betrifft übrigens nicht nur unerwartete Gegebenheiten, sondern die meisten Dinge des Lebens. Wir müssen uns nicht täglich neu überlegen, wie und in welcher Hand wir Messer oder Gabel halten, wie man trinkt, ohne dass die Flüssigkeit überschwappt oder wie man eine Banane »öffnet«. Als Kind erlernt, entwickelt sich eine Routine, die später ohne besonderes geistiges Zutun einfach abgespult werden kann. Ansonsten würde uns der Alltag völlig überfordern.

Bereitschaft zum Neuanfang
Wenn also behauptet wird, der Hund lebe im Hier und Jetzt, betrifft das nur dessen starken Fokus auf die Gegenwart, da es ihm nichts bringt, Kräfte für Vergangenes oder Zukünftiges zu verschwenden. Wer an seiner Lage kaum etwas ändern kann, opfert keine Energie, um diese zu analysieren. Damit entwickeln Tiere aber auch eine extrem hohe Bereitschaft, Gegebenheiten anzunehmen. Genau hierin liegt für uns als Hundebesitzer eine Chance, die wir nutzen können. Bei Fehlverhalten kann durch unser eigenes, gezielt verändertes Verhalten ein Neustart in Angriff genommen werden, worauf sich ein Hund mehr oder weniger schnell einlassen wird.

Ist beispielsweise der neu eingezogene Tierschutzhund äußerst skeptisch, wenn Sie sich mit der Hand nähern, da er, wie leider gewohnt, Schläge erwartet, lässt er sich in neuer Umgebung mit neuen Menschen in kleinen Schritten an die geänderten Verhältnisse heranführen. Nicht immer gelingt das restlos, aber mit viel Einfühlungsvermögen und Geduld ganz sicher ein großes Stück. Aber es geht auch weniger dramatisch. Wenn der Vierbeiner ab und an am Tisch etwas erbetteln konnte, nun aber konsequent ignoriert wird, stellt er das Schmachten bald ein.

Es ist an uns, eine wünschenswerte Veränderung in die Wege zu leiten, klare, eindeutige Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem Hund vermitteln, dass man uns vertrauen kann, die ihm Schritt für Schritt Sicherheit bieten. Ein Hund muss sich den Gegebenheiten anpassen, denn er hat keine Wahl, kann ihnen nicht entkommen. Er ist uns anvertraut aber eben auch ausgeliefert. Deshalb erleben wir immer wieder, dass Hunde ihren Menschen gegenüber loyal sind, selbst wenn sie denkbar schlecht behandelt werden. Das ist ihr Platz, den sie akzeptieren mussten und dann eben auch ausfüllen.

Fazit
Die Natur zwingt ein Tier, jede Situation anzunehmen, wie sie auch sei, denn es gibt keine Alternativen. Nur das allein ist mit dem Hier und Jetzt gemeint.

 

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