Hundlicher Perspektivenwechsel

Von Dr. Hans Mosser

Wie Hunde uns interpretieren

Sind Hunde in der Lage, sich in ihren ­Halter hineinzuversetzen? Haben Hunde ein ­kognitives Konzept, um ­Befindlich­keiten, Absichten oder Erwartungen ­eines ­Menschen interpretieren zu können? ­Können Hunde einen Wissensvorsprung des Menschen für sich nützen? Antworten auf diese und andere Fragen könnten sich in einer kürzlich publizierten Studie Wiener ­Wissenschaftler finden. WUFF-Heraus­geber Dr. Hans Mosser hat diese ­Publikation des Messerli ­Forschungsinstituts der ­Veterinär­medizinischen Universität ­Wien für Sie studiert, zusammengefasst und ­erklärt ihre Bedeutung.

Dass Hunde menschliches Zeigeverhalten richtig interpretieren und auch der Blickrichtung eines Menschen folgen können, hat in den späten 1990ern Adam Miklosi von der Universität Budapest erstmals nachgewiesen (vgl. auch ­Miklosi, WUFF 10/2003, 11/2003). Doch ­Wissenschaftler sind sich nicht einig ­darüber, ob ­diese Fähigkeit der Hunde bloß erlernt ist oder ob sie tatsächlich in der Lage sind, die Perspektive des Menschen ­einzunehmen. Ist dies der Fall, würden Hunde über eine Theory of Mind (siehe unten) verfügen, also fähig dazu sein, von ihrer eigenen ­Annahme abzusehen und die Perspektive des Menschen einzunehmen. Dies würde im weitesten Sinn bedeuten, dass Hunde fähig sind, sich in den Menschen hineinzuversetzen, was als wichtiger Aspekt sozialer Intelligenz gilt.

Etwas Licht in das Dunkel dieses Themas haben zwei frühere Experimente gebracht, die zum Ergebnis kamen, dass Hunde ihre Entscheidung, Futter zu stehlen, vom Zustand des in der Nähe sitzenden, also quasi das Futter bewachenden Menschen abhängig machten. Hielt der Mensch sich etwa die Augen zu, stahlen die Hunde deutlich häufiger das Futter, als wenn der Mensch auf das Futter blickte (Call 2003, Schwab 2006). Waren Mensch und verbotenes Futter beleuchtet, dann wurden die Hunde seltener zu Dieben, als wenn nur der Mensch, nicht aber das Futter beleuchtet war, wie eine Studie mit dem bezeichnenden Titel „Dogs steal in the dark“ nachwies (Kaminski 2013). Aus diesen Studien ließe sich schließen, dass Hunde ihr Verhalten also sehr wohl auf den Zustand des Menschen abzustimmen in der Lage sind.

Perspektivenwechsel:
Wie nachweisen?
Um jedoch einen wirklichen Perspektivenwechsel des Hundes nachweisen zu können, genügen solche Experimente nicht, bei denen ein Mensch in die Richtung eines Leckerlis oder eines Spielzeugs schaut, der Hund dann einfach der Blickrichtung des Menschen in gerader Linie folgt und dann auch das Zielobjekt erblicken kann. Vielmehr müsste ein Versuchsaufbau so gestaltet sein, dass nur der Mensch das Ziel­objekt sehen kann, nicht aber der Hund. Um es zu finden, wäre der Hund nun darauf angewiesen, dieses Wissen des Menschen für sich zu nutzen, indem er dessen Perspektive einnimmt. Das heißt, der Hund müsste schlussfolgern, dass, weil der Mensch in dieser Position das Zielobjekt zu sehen scheint, er dieselbe Position wie der Mensch einnehmen müsste, um es ebenfalls sehen zu können. Vorauszusetzen wäre hierfür aber auch die Erkenntnis des Hundes, dass der Mensch über ein Wissen verfügt, das der Hund selbst zwar nicht hat, dessen er sich aber durch einen Perspektivenwechsel bedienen kann. Und dazu aber müsste der Hund über verschiedene kognitive Leistungen verfügen, so etwa über die Gesichts- und Blickerkennung sowie die Fähigkeit, Kausalzusammenhänge zu begreifen. Der Hund müsste erkennen können, ob ein Mensch eine für ihn interessante Information besitzt oder nicht. Wie lässt sich nun diese ­Fragestellung in eine Versuchsanordnung umsetzen?

Die Wiener Studie
Der Versuchsaufbau der Studie des Messerli Forschungsinstituts der Veterinärmedizinischen Universität Wien zielt nun genau darauf ab, in diese Zusammenhänge Licht zu bringen (Catala 2017). Zunächst wurden nacheinander 16 Hunde in einer standardisierten Testsituation der sog. „Guesser-Knower-Aufgabe“ ausgesetzt (von to guess = raten und to know = wissen). Dabei versteckt eine Person, der Knower, ein Leckerli in einem von mehreren Behältnissen, während eine zweite Person in dieser Zeit entweder nicht im Raum ist oder sich die Augen zuhält. Zwischen dem Hund und den Leckerli-Behältnissen befindet sich eine undurchsichtige Wand, sodass der Hund den Vorgang nicht beobachten kann. Dann wird die Wand umgelegt und die beiden Personen zeigen auf zwei unterschiedliche Behältnisse. Dabei zeigt der Knower natürlich immer auf das befüllte, der Guesser auf ein anderes, jedenfalls immer leeres Behältnis. Damit der Hund nicht durch den Geruch beeinflusst wird, riechen alle Gefäße gleichermaßen nach Futter. Da der Hund natürlich interessiert ist, das richtige Behältnis zu finden, stellen für ihn beide Personen potenzielle ­Informationsträger dar. In 70% der Fälle wählten die Hunde bei dieser Versuchsanordung das ­korrekte Behältnis.

Testerschwernis:
Eine Person schaut hin, eine weg
Nun erschwerten die Wissenschaftler für die Hunde die Versuchsanordnung, indem eine dritte Person ins Spiel gebracht wurde, der sog. Futter­verstecker, der das Leckerli in einem der 4 Behältnisse versteckt. Im Folgenden wird daher diese Person zu deutsch als „Futterverstecker“ bezeichnet. ­Während er dies – für den Hund unsichtbar hinter der Wand – tut, kann der Hund zuschauen, wie die rechts und links des Futterversteckers knienden ­Personen völlig parallel in dieselbe Richtung blicken, entweder schräg nach links oder nach rechts, jedenfalls immer so, dass der Futterverstecker sich jeweils nur in der Blicklinie einer der beiden Personen befinden kann (das ist dann ­natürlich der ­Knower, also der ­Wissende), ­während die andere von ihm wegblickt (= dann der Ratende/Unwissende). Danach nimmt der Futter­verstecker eine ­neutrale Position ein, während – nach Umlegen der Wand – die beiden Personen neben ihm wieder auf jeweils ­unterschiedliche Futterbehältnisse zeigen. Natürlich weist die Person, in deren Blicklinie sich vorher der Futter­verstecker befunden hat, auf die richtige Stelle. Auch bei dieser Versuchs­anordnung waren die Hunde wieder in fast 70% erfolgreich. D.h. die Hunde verließen sich häufiger auf diejenige Person, in deren Blickrichtung sich der Futterverstecker befunden hat, also auf den Wissenden, obwohl auch die andere Person ein identes Verhalten gezeigt hat, jedoch ihre Position zum Futter­verstecker verschieden war.

Hunde verlassen sich auf andere
Es ist wichtig, sich der Mühe zu unterziehen, sich dieses Experiment ­wirklich durchzudenken, um die kognitive ­Leistung der Hunde zu verstehen. Sie mussten die unterschiedliche Relation der beiden Personen zum Futterver­stecker „beurteilen“ und danach – durch sog. „geometrisches Blickfolgen“ – entscheiden, welche Person etwas sehen kann und welche nicht.

Das Ergebnis der Studie lässt sich so interpretieren, dass die Hunde begreifen können, dass man sich auf die vom Futterverstecker wegschauende Person weniger verlassen kann als auf die, in deren Blickrichtung sich der Futter­verstecker befunden hat. Das bedeutet, dass die Hunde in der Lage sind, die ­Perspektiven beider Personen einzunehmen und dann abzuwägen, welcher sie mehr Vertrauen schenken. Hunde ­können ihr Verhalten also danach einrichten, was andere sehen können oder eben nicht sehen können. Diese kognitive Leistung geht darüber hinaus, was man bislang Hunden zugeschrieben hat.

Natürlich lässt sich darüber diskutieren – und die Wissenschaftler tun dies auch – ob es nicht einfachere Erklärungsmodelle dafür gibt. Hunde sind geübt darin, Menschen zu „lesen“, wer wüsste das besser als wir Hundehalter selbst? Vielleicht handelt es sich daher gar nicht um einen Perspektivenwechsel, sondern einfach um einen Lerneffekt. Um einen solchen anzunehmen, bedürfte es allerdings aufwändiger Lernprozesse, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Wenn in der Wissenschaft sich eine Theorie einfacher erklären lässt als eine andere, gilt sie oft plausibler als eine, für die mehr Hypothesen herangezogen werden müssen.

So können wir eigentlich mit gutem Gewissen annehmen, dass unsere Hunde tatsächlich bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit besitzen, sich in uns hineinzuversetzen. Vielleicht bedenken Sie diesen Aspekt in nächster Zeit und versuchen, ihn mit Ihrer Alltagserfahrung zu korrelieren. Und vielleicht finden Sie ja eine noch plausiblere Erklärungs­hypothese. Wenn ja, dann ist Ihre ­Reaktion bzw. Ihr Diskussionsbeitrag sehr willkommen (mosser@wuff.eu).

WUFF-Information

Theory of Mind

Die Theory of Mind (wofür es keine anerkannte deutsche Bezeichnung gibt) spielt in der Entwicklungspsychologie des Menschen eine große Rolle. Aber auch bei Tieren, seit längerem schon bei Schimpansen, aber in den letzten zehn Jahren auch bei Hunden, wird die Theory of Mind zunehmend untersucht.
Als Theory of Mind wird in der Psychologie und Kognitionswissenschaft die Fähigkeit bezeichnet, Befindlichkeiten bzw. Bewusstseinsvorgänge (Meinungen, Gefühle, Absichten usw.) nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen Personen wahrzunehmen. Anders gesagt, die Theory of Mind ist die Fähigkeit, fremde psychische Zustände im eigenen kognitiven System zu repräsentieren, d.h. also mich in den psychischen Zustand eines anderen, in seine Gedanken und Gefühle, hineinversetzen zu können.
Kinder können erst ab etwa dem vierten Lebensjahr ihre eigene Meinung von der anderer Personen unterscheiden. Erst von da an sind sie in der Lage zu verstehen, genauer, zu vermuten, was andere Menschen meinen, denken, beabsichtigen oder man erwarten könnte. Diese Fähigkeit gilt als ein Meilenstein in der kognitiven Entwicklung eines Kindes. So soll diese Fähigkeit der Theory of Mind, also die Perspektive eines anderen einzunehmen, bei autistischen Per­sonen eingeschränkt sein. Sie sind nicht in der Lage, sich in Gedanken und Gefühle anderer Menschen hinein­zuversetzen. Auch bei besonders aggressiven Kindern vermuten Psychologen ein Defizit der Theory of Mind, weil sie nicht in der Lage seien, Absichten anderer richtig einzuschätzen.
Bei Schimpansen haben ­Studien ­(darunter v.a. aus dem Max-Planck-­Institut für evolutionäre ­Anthropologie, Leipzig) schon seit längerer Zeit das Vorliegen einer Theory of Mind vermutet. Demnach sind sie bspw. in der Lage zu versuchen, das Ziel der Wahrnehmungsaktivität eines Betrachters herauszufinden (Call 1998, Tomasello 1999).
Inwieweit auch Hunde über diese Fähigkeit verfügen, die Perspektive eines anderen, im Besonderen auch eines Menschen einzunehmen, ist Gegenstand dieses Artikels, der sich vorwiegend auf die vom Messerli Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien publizierten Studie stützt.

WUFF-Information

Literaturquellen
Die im Artikel verwendete und die zitierte Literatur in alphabetischer Anordnung.
• Call J, Bräuer J, Kaminski J, ­Tomasello M. Domestic dogs (Canis familiaris) are sensitive to the attentional state of humans. J Comp Psychol 2003;117:257-263
• Call J, Hare BA, Tomasello M. Chimpanzee gaze following in an object choice task. Animal Cognition 1998;1:89-100
• Catala A, Mang B, Wallis L, Huber L. Dogs demonstrate perspective taking based on geometrical gaze following in a Guesser-Knower task. Animal Cognition 2017 (DOI 10.1007/s10071-017-1082x open access)
• Kaminski J, Pitsch A, Tomasello M. Dogs steal in the dark. Animal Cognition 2013;16:385-394
• Miklosi A. Hunde verstehen uns wie dreijährige Kinder. WUFF 10/2003
• Schwab C, Huber L. Obey or not obey? Dogs (Canis familiaris) behave differently in response to attentional states of their owners. J Comp Psychol 2006;120:169–175
• Tomasello M, Hare B, Agnetta B. Chimpanzees follow gaze direction geometrically. Animal Behaviour 1999;58:769–777

Pdf zu diesem Artikel: perspektivenwechsel

 

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