Hundezucht & Rassenwandel

Von Dr. Hans Räber

Nackthunde werden von vielen als „Qualzucht" bezeichnet. Ob mir ein nackter Hund gefällt oder nicht, ist wohl in erster Linie eine ästhetische Frage. Ist der Hund dunkel gefärbt, so leidet er kaum unter Sonnenbrand, fehlt ihm aber das Pigment, wie vielen Peruanischen Nackthunden, so kann Sonnenbrand ein Problem sein. Die Hunde hießen nicht umsonst ursprünglich „Moonflower Dogs" (siehe Foto). Angekreidet wird ihnen vor allem der große Zahnverlust, der mit dem Haarverlust gekoppelt ist. Dazu ist wohl zu sagen, dass mich fehlende Zähne zumindest nicht schmerzen, und wenn ich sehe, wie unsere vollzahnigen Schnauzer und Zwergschnauzer in weniger als einer Minute ihre Futterschüssel leeren, dann frage ich mich oft, wozu sie noch 42 Zähne haben. Ob eine Extremzucht zu verantworten ist oder nicht, hängt m. E. in erster Linie davon ab, ob sie in der „ökologischen Nische", die wir ihr bieten, ein artgerechtes Leben führen kann oder nicht, und da kann ein Nackthund eher seinen Platz haben als ein Neufundländer in der zentralgeheizten Wohnung im 7. Stock eines Hochhauses.

Sieger ohne Schädeldecke
Der Chihuahua-Standard duldet eine kleine offene Fontanelle. Man kann aber auch Chihuahuas mit intakter Schädeldecke züchten. Im Extremfall kann jedoch praktisch die gesamte knöcherne Schädeldecke fehlen, und der Hund wird trotzdem ein Ausstellungssieger! Beim Chihuahua gilt für viele Züchter ein Gewicht unter 1 kg als erstrebenswertes Zuchtziel. Bei einem Körpergewicht von mindestens 2 kg ist ein Chihuahua ein durchaus ernst zu nehmender Hund, bei einem Gewicht unter 1,5 kg wird er zur Karikatur! Chihuahuas werfen kleine Würfe, der Durchschnitt liegt unter 2 Welpen pro Wurf. Weil bei ihnen das gesamte Trächtigkeitsprodukt bei 13% des mütterlichen Gewichts liegt, sind die Welpen relativ groß. Ihr Gewicht beträgt im Durchschnitt 6,4% des mütterlichen Gewichts. Die zu großen Welpen müssen deshalb zu oft durch Kaiserschnitt entbunden werden. Mit Chihuahua-Hündinnen unter 2,5 kg Körpergewicht sollte man daher nicht züchten!

Extremes Kindchenschema
Beim Pekingesen entspricht der Kopfausdruck im hohen Maße dem Lorenz’schen Kindchenschema. Wenn aber die Nasenkuppe, von der Seite gesehen, hinter der Stirnwölbung liegen muss und die Augen möglichst groß sein sollen, dann sieht der Schädel des Hundes so aus wie auf dem Foto. Für den Hund hat das schwerwiegende Folgen, weil die Augen nicht mehr in knöchernen Höhlen verankert sind. Ein leichter Druck genügt, und sie fallen aus den Augenhöhlen. Ein weiteres Problem der heutigen Pekingesen ist die Verkrüppelung der Vorderläufe. Die direkt aus China stammende Hündin Ah Cum, geboren 1875, heute als Präparat im Rothschild-Museum in Windsor ausgestellt, konnte noch normal gehen. In einem Richterbericht werden ihre geraden Vorderläufe speziell lobend hervorgehoben. Heute müssen die Vorderläufe gebogen sein, was laut Standard einen vornehmen Gang ergibt. Gerade Vorderläufe sind jedenfalls fehlerhaft!

Extreme des Haarkleides
Zu Extremzuchten ist auch eine übertriebene Haarfülle zu rechnen. Die Ausgangsform der ungarischen Hirten- und Treibhunde sah einst so aus wie die Pumis. Daraus entstand dann das bekannte Pusztahaar des Pulis und des Komondors. Nun hat der Hund sicher Augen, damit er sehen kann. Pulibesitzer sagen mir zwar, dass ihr Hund sehr wohl sehr gut sehe, ich halte es hier aber mit Goethes Faust: „Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube".

Wie rasch sich die Meinungen der Züchter und Richter über das anzustrebende Haarkleid ändern können, sehen wir am Beispiel des Bergamaskers. Die ersten, von Frau Schreiber in der Schweiz gezüchteten Bergamasker sahen so aus, wie der Siegerhund aus den dreißiger Jahren. In den sechziger Jahren fanden die Richter Gefallen an Hunden, die mit verfilztem Haar in den Ring kamen. Die Züchter machten mit, und heute sieht ein Champion so aus wie in nebenstehender Abbildung. Ob er noch Schafe treiben kann? Und ob langhaarige Zwerghunde wie z.B. Shi Tzu oder der Yorkshire Terrier glücklich sind, wenn sie bis zum Abschluss ihrer Ausstellungskarriere zu Hause nur mit aufgewickeltem Haar herumlaufen dürfen – wenn sie überhaupt herumlaufen dürfen, können wir leider die Hunde nicht fragen.

Übertriebenes Geschlechtsgepräge
Ein heute wenig beachtetes Problem ist der Trend nach einem übertriebenen Geschlechtsgepräge. Es ist für Caniden durchaus atypisch. Das heute vielfach betonte Geschlechtsgepräge in den Richterberichten kann mit der Zeit zu einem unerwünscht betonten Geschlechtsunterschied führen.

Wenn ich hier nun einige Rassen erwähnt habe, so möchte ich nicht den Eindruck erweckt haben, das seien nun die einzigen, bei denen die Standards revisionsbedürftig sind. Ich erwähne da etwa die doppelten Afterkrallen bei den französischen Schäferhunden und die atypische Hinterhandstellung, in der sich ein Deutscher Schäferhund vor dem Richter präsentieren muss. Tröstlich ist dabei, dass der gleiche Hund außerhalb des Richterrings völlig normal steht und sich völlig normal bewegt. Die Gefahr, dass nun Hunde mit überlangen Unterschenkeln als besonders rassetypisch bevorzugt werden, besteht aber durchaus.

Verheizt im Profisport
Zu den falsch gesetzten Zuchtzielen gehört auch ein übertriebenes Leistungsdenken. Ich denke da an die Zehntausende der unter vier Jahre alten Greyhounds, die jedes Jahr im angloamerikanischen Raum getötet werden, weil sie ihren Besitzern auf der Rennbahn keinen Profit mehr einbringen. Und die Zahl der unter einem Jahr alten Junghunde, die bei den harten Leistungstests durch die Maschen fallen und ebenfalls getötet werden, dürfte sogar noch größer sein.

Züchterfleiß und Züchterkunst
Ich habe bis jetzt nur von den negativen Seiten der Rassehundezucht gesprochen. Wir wollen aber doch nicht vergessen, dass Züchterfleiß und Züchterkunst uns viele Hunderassen beschert haben, die sowohl in Bezug auf Körperform wie Haarfarbe höchste ästhetische Ansprüche befriedigen. Am Beispiel des Pudels soll dies belegt werden. Sehen wir einmal von den Verrücktheiten einiger Pudelschuren ab, so zeigen die Abbildungen doch eine höchst positive Entwicklung. Rassehunde sind Kulturgüter. Sie zu erhalten und zu fördern ist ebenso sinnvoll wie die Erhaltung anderer Kulturgüter. Es liegt an den Richtern auf den Hundeausstellungen und an den Züchtern darum besorgt zu sein, dass sie nicht verloren gehen. Die Freude an skurrilen Formen hört in der Tierzucht da auf, wo wir das Tier in seiner Lebensweise erheblich beeinträchtigen. Unser Ziel ist und bleibt die Erhaltung der Vielfalt der Rassen, aber auch der gesunde, langlebige und stets neugierige Hund.

Die neue Tierethik

Die gesamte Haustierzucht steht heute an einem Scheideweg. Einerseits werden vom so genannten Nutztier immer höhere Leistungen abverlangt – wobei der Begriff „Qualzucht" hier ein absolutes Fremdwort ist, andererseits werden wirkliche, aber oft auch nur vermeintliche Auswüchse in der Heimtierzucht heftig kritisiert. Es wird heute viel von der Würde des Tieres geredet und geschrieben. Die neue Tierethik achtet das Tier mehr und mehr um seiner eigenen Würde willen. Diese Entwicklung klammert auch die Hundezucht nicht aus. Wir Hundezüchter müssen uns wieder vermehrt darüber Rechenschaft geben, dass Gesundheit vor Schönheit und Aussehen kommt.

Das könnte Sie auch interessieren: