Was haben Hunde und Physik gemeinsam? Gibt es »Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie«, denen das hundliche Verhalten unterliegt? Ja, es gibt einen Zusammenhang zwischen Hunden und Physik …
Unser Hund Newton ist ein Couch-Potato. Streng genommen ist er ein Boden-Potato, weil er sich nicht auf die Couch legen darf, aber wir wollen ja nicht kleinlich sein. Als Couch-Potato kennt sich Newton prima mit Entspannung, Entschleunigung und – böse Zungen würden behaupten – mit Trägheit aus. Er hat ein paar bevorzugte Plätze zum Herumlümmeln. Am liebsten liegt er in der Wohnung vor der Balkontüre, draußen im Garten oder im Büro hinter dem Stuhl meines Mannes. Newton macht sich dann gaaanz lang und fläzt sich gemütlich an die Wand. Dort hält unser zum Glück sehr entspannter Hund seine mehrstündige Siesta. Morgens steht er als Letzter von uns allen auf und erscheint, wenn überhaupt, erst am Frühstückstisch, nachdem er die Kaffeemaschine gehört hat. Dann weiß Newton, dass das Frühstück fertig ist und es sich dann erst lohnt, um etwas Käse zu betteln, sich niedlich anzustellen und diesen unglaublichen Hundeblick aufzusetzen, mit dem er mich und den Rest der Familie jedes Mal um seine Pfote wickelt.
Meistens liegt Newton aber den Tag über an die Wand gelehnt. Ab und zu hört man ihn im Traum fiepen oder laut Luft durch seine Lippen pusten. Seine schwarzen Lippen schlabbern dann geräuschvoll hin und her. Leider ist es aber so, dass bei aller intendierten Gemütlichkeit sein Zustand nur kurz anhält. Denn der Physiker Sir Isaac Newton, der Namensvetter unseres Hundes, hat herausgefunden, dass Körper sich nur so lange im Zustand der Trägheit befinden, bis eine Kraft auf sie einwirkt. Wenn ich den Raum betrete, ihn streichle und »Sitz« sage, wirkt beispielsweise die Kraft meiner Bitte sich zu setzen auf Newton. Meistens jedenfalls. Das soll jetzt natürlich nicht bedeuten, dass ich unserem armen Müßiggänger ständig mit Sitz, Platz und sonstigen Aufforderungen zu Leibe rücke.
Mit Trägheit meinte der Physiker allerdings etwas anderes als herum zu lümmeln. Sir Isaac Newton drückte damit aus, dass Körper sich in einem gleichförmigen Bewegungszustand befinden. Und dies gilt nur innerhalb eines sogenannten Inertialsystems. Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem keine Kräfte wirken oder sich die Kräfte gegenseitig wieder aufheben und somit wieder null und nichtig sind. Wenn zum Beispiel Newton und ich mit der gleichen Kraft an einem Stück Schinken ziehen, befindet sich das Stück Schinken, bis es reißt, in einem Inertialsystem. Meistens, wenn ich ehrlich bin, ziehen wir aber mit ähnlicher Kraft an einer Socke oder erschaffen gemeinsam ein Inertialsystem für die kleinen Hausschuhe unserer Tochter.
Wenn Newton hinten in seiner Hundebox im Auto sitzt und mitfährt, liegt er da und entspannt sich. Sein Bezugssystem – unser Auto – bewegt sich gleichförmig und für ihn ist alles ruhig. Aus der Sicht der Fußgänger, die wir passieren, bewegen wir uns im Auto aber alle flott fahrend daran vorbei. Das liegt daran, dass sie sich in einem anderen Bezugssystem befinden.
In der Physik ist es möglich, verschiedene Bezugssysteme miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn unser ehemaliger Hundetrainer mit seinen Hunden zu Fuß auf dem Weg zum Metzger ist und wir an ihnen vorbeifahren, können wir ausrechnen, wer wie viel schneller oder langsamer an der Wursttheke ankommen wird. Schade nur, dass Hunden der Zutritt zu Metzgereien und Wursttheken verboten ist.
Für unseren Hund Newton also, der sich gemütlich träge an die Wand anlehnt, sein Hinterbein lässig nach oben geklappt, um zu zeigen, dass er nichts gegen Streicheleinheiten hat, gilt, dass er sich genau so lange in einer Näherung an ein Inertialsystem befindet, bis seine Anziehungskraft wirkt und einer oder eine von uns ihm entgegen läuft, sich über ihn beugt, ihm durch sein weiches langes Fell wuschelt und ihn strubbelt. Dann ist er raus aus seiner Näherung. Und raus aus seiner Trägheit. Dann wird er ganz lange durchgestrubbelt, geknuddelt und geküsst – und wedelt freudig.
Während das Trägheitsgesetz in der Physik darlegt, wie Körper in gleichförmiger Bewegung verharren, beschreibt das Gesetz der Trägheit, wie ein ruhiger Hundekörper so lange im Zustand des Müßiggangs lässig an die Wand oder die Balkontüre gelehnt verweilt, bis entweder eine Schmusekraft von außen, eine Bitte oder eine olfaktorische Anziehung, wie zum Beispiel ein Leckerli, ihn aus seinem Trägheitszustand zu neuem Leben erweckt. Andererseits bedeutet Trägheit, wie sie unser Hund Newton praktiziert, das Leben von seiner angenehmen Seite zu genießen, die Dinge einfach mal zu nehmen, wie sie kommen, und sich von nichts und niemandem bis zu einem gewissen Grad aus der Ruhe bringen zu lassen. Diese Art des Müßiggangs möchte ich unbedingt von Newton lernen. Da hat er mir sehr viel voraus.