Wer seinen Hund bis zum Ende begleiten kann und will, erlebt eine wertvolle Erfahrung von Höhen und Tiefen und erlebt sich selbst in einer neuen Weise. Sabine Mertz über ein zumeist unterschätztes, fast schon ein Tabu- Thema. Wenn die Fürsorge und Pflege unserer Hundesenioren die eigenen physischen und mentalen Grenzen überschreitet.
Im September 2008 berichtete ich in WUFF über das besondere Verhalten von grauen Fellgesichtern, von alten Hunden. Wie sich gewohnte Verhaltensweisen ändern, verringern oder ganz ausbleiben. Erlerntes wird vergessen oder stoisch ignoriert. Ansagen werden auf ihre Priorität überprüft und in den meisten Situationen entscheiden unsere „Alten“ selbst, ob eine Kommunikation zwischen Mensch und Tier stattfindet oder ob es ein Monolog wird. Die Körpersprache zeigt sich in der Intensität reduzierter, der Gesichtsausdruck erzählt von einem erfahrenen Hundeleben.
In diesem Bericht möchte ich ein unterschätztes, fast schon ein Tabu- Thema ansprechen. Wenn die Fürsorge und Pflege unserer Hundesenioren die eigenen physischen und mentalen Grenzen überschreitet. Bei meiner Arbeit mit den Tieren und ihren Menschen ist es immer wieder auffällig, wie das Thema der menschlichen Erschöpfung vernachlässigt wird.
Mentale Überforderung
In Gesprächen mit Menschen und ihren kranken Hunden verlaufen diese ausschließlich über den Hund. In einer Frage, wie es den Besitzern dabei geht, zeigt die Körpersprache deutlich die Grenze der eigenen Belastung. Der Kopf wird gesenkt, der Blick entzogen, ein Seufzer ist zu hören. Endlich findet das Biosystem Mensch ein Ventil, um die aufgestauten Emotionen und Gedanken teilweise loszuwerden. Je nach Situation fließen Tränen und manchmal werden die heimlichen Gedanken ausgesprochen. Ein Empfinden, dass eigentlich alles zu viel wird, zu wenig Zeit für die eigenen Bedürfnisse bleibt, die Anbindung ans Heim zur Ausgrenzung führt, die menschlichen Sozialkontakte auf ein Minimum reduziert werden müssen, das finanzielle Budget völlig ausgeschöpft ist, das Nervensystem zu kollabieren scheint. Die Gedankenschleifen in unserem Kopf von Funktionieren-müssen und bereitwilliger Fürsorge sind endlos. Unser Verstand hat uns in der Zange und spielt ein zehrendes Spiel mit uns.
Schlechtes Gewissen
Sobald die Worte der Erschöpfung den Weg über die Lippen gefunden haben, hält auch das schlechte Gewissen seinen Einzug. Wir wollen doch für unseren vierbeinigen Familienpartner alles geben, für ihn da sein, ihm unsere Dankbarkeit zeigen für all die schönen Jahre. Wir wollen, dass es ihm an nichts fehlt und dass seine Bedürfnisse zügig befriedigt werden. Er ist auf uns angewiesen und braucht unsere Hilfe. Wir laufen schnell zu unserem schrulligen Vierbeiner, kuscheln und sagen ihm, dass wir ihn sehr lieben.
Kleine Auszeiten
Um während der Begleitung mit einem alten und kranken Hund stark zu bleiben, ist es notwendig, auch für sich selbst zu sorgen. Die kleinsten Auszeiten bringen bereits Erleichterung.
– Öfter täglich kleinere Pausen einlegen
– Mentale Stille bei jeder Gelegenheit (rote Ampel, beim Aufzug-fahren, Kurzmeditationen )
– Kleiner Ausflug von Haus und Hund (ev. einen Bezugsmenschen besuchen)
– Gespräche mit Gleichgesinnten führen (erzeugt das Gefühl, nicht alleine damit zu sein)
– Prioritäten bei den täglichen Verpflichtungen setzen
– Nicht notwendige Arbeiten ausfallen lassen (ohne schlechtes Gewissen)
– Zu den eigenen Gefühlen ja sagen, sie zulassen
Zeitmanagement und physische Erschöpfung
Die wenigsten Hunde haben das Geschenk, bis zum Ableben einen funktionierenden Körper zu haben und an Altersschwäche einzuschlafen. Hat unsere Grauschnauze trotz möglicher körperlicher Defizite noch Lebenswillen und Appetit, können die Tages- und Nachtzeiten zur großen Herausforderung werden.
Familiäre Abläufe haben sich komplett auf die Fürsorge unseres Hundes ausgerichtet. Genaue Absprachen sind zu treffen, wer wann welche Medikamente verabreicht, oder wer mit dem Wuffi zur Heilbehandlung fährt. Wir haben zwischenzeitlich Durchschlafstörungen, da die Nachtruhe mehrmals gestört wird. Die Blasenkapazität unseres Hundes ist schwächer, der Schließmuskel arbeitet nicht mehr einwandfrei. Die Verdauung ist unregelmäßig. Durchfälle werden einkalkuliert. Wir wandern halb erfrierend und hundemüde mit ihm durch die Nacht, bis der letzte Tropfen die Blase verlassen hat.
Auch verdreht unser Senior die Tages- und Nachtzeiten. Er ist aktiv, steht fiepsend am Bett, will schmusen oder stupst zart seine Spielsachen an, fordert aber mindestens die Aufmerksamkeit von uns. Wir hängen den Arm heraus, tätscheln ihn und hoffen, dass es reicht. Die Nächte werden kurz und unruhig. Wir denken an den nächsten Morgen. Wie sollen wir das durchstehen?
Die nächste Fürsorge beginnt bereits beim Aufstehen. Meist schmerzen die alten Hundegelenke, sie sind steif und instabil. Die Körperwahrnehmung ist reduziert. Das Aufstehen wird zu einem Balanceakt. Hier ist oft unsere Unterstützung gefragt, indem wir ihm auf die Beine helfen, Massieren, Ausstreichen, Anheben oder Geh-Hilfen anbringen. Hat man selbst körperliche Defizite, sind Kreativität und Durchhaltevermögen nötig, um diese Herausforderung zu meistern. Zum Gassigang ist vielleicht die Vollausrüstung erforderlich. Vom Hundebuggy über die Gehhilfe bis zum Zewa-Tuch, um den Anal-Genitalbereich zu reinigen. Das Bestätigungsleckerli ist Pflichtprogramm, auch wenn dieses dann letztlich verweigert wird.
Sehr wichtig ist das Mobiltelefon, es könnte ein Notfall eintreten. Unser Wuffi könnte sich hinlegen und nicht mehr aufstehen können. Man sollte Hilfe holen können. Hat unser Senior die Zeit vergessen, trottelt er vor sich hin, kommen wir in Zugzwang. Weitere Abläufe geraten aus den Fugen, Stress schleicht sich in unser Empfinden. Zuhause angekommen, wird der Senior zuerst versorgt. Die Fütterung wird zubereitet, die Medikamente und/oder Spritzen werden verabreicht. Hierzu ist öfter ein „Animationsprogramm“ erforderlich, damit die Tabletten auch aufgenommen werden. Je nach Geschmackswunsch in einer Leberwurstkugel, in Käsestückchen, gemörst übers Futter, oder in Spielsachen.
Die Spitze wird dann erreicht, wenn die Mahlzeit per Hand gefüttert werden muss, um den Appetit anzuregen. Wir geraten immer mehr in Zeitdruck, wir werden ungeduldig, die Schwingung einer Aggression schleicht sich ein. Sogleich ist unser innerer Richter zur Stelle und ermahnt uns, uns in Gelassenheit zu üben. Das Pendel der Emotionen schwingt ständig in beide Richtungen. Das Nervensystem ist anfällig und bricht bei einem kleinsten Reiz aus. Familiemitglieder, Arbeitskollegen, Bekannte und Freunde werden angeschnauzt, es können Auseinandersetzungen entstehen.
Die menschliche Psyche, zwischen Freigeben und Festhalten
Was treibt die Menschen an, sich dieser Verantwortung und Verpflichtung immer wieder zu stellen? Welche Beschwerlichkeiten und Defizite werden aufgenommen? Es gibt nur eine Antwort auf diese Fragen: Die bedingungslose Liebe.
Menschen zeigen in dieser Tier-Beziehung ein ausgeprägtes altruistisches Verhalten. In den letzten gemeinsamen Monaten nimmt die Intensität der gegenseitigen Beziehung nochmals zu. Wir werden durch Blicke oder Gesten so sehr in unserer Seele berührt, dass es uns für all die Anstrengungen und Entbehrungen entschädigt. Oft ist es so überwältigend, dass uns die Großartigkeit unseres Hundes die Tränen in die Augen treibt.
Der richtige Zeitpunkt?
Quälende Gedanken zwischen Sterben lassen und am Leben erhalten beschäftigen uns sehr. Wann ist der richtige Zeitpunkt, unsere Fellnase freizugeben? Können wir unseren Gefühlen vertrauen? Sind wir in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen? Wünschen wir uns, dass unser Hund uns die Entscheidung abnimmt? Wollen wir ihn von Schmerz und Leiden erlösen? Müssen wir die Entscheidung zur Euthanasie treffen? Wie würde unser Hund entscheiden? Ist er für einen natürlichen Sterbevorgang? Wir wollen uns mitteilen, suchen Hilfe und Rat. Und oft spalten sich Meinungen von Freunden und Tierärzten zu der eigenen Meinung und der eigenen Empfindung. Wir warten auf ein äußeres fiktives Zeichen, welches uns absolute Gewissheit gibt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, unseren Hund über die Regenbogenbrücke zu führen.
Nachher …
Nachdem unser bester Freund eine andere Dimension erreicht hat, entsteht nicht selten ein großer Schöpfungsakt im eigenen menschlichen Bewusstsein. Stellt sich das Gefühl ein, alles richtig gemacht zu haben, alles was uns möglich war probiert zu haben, erleben wir in diesem Prozess ein tiefes Empfinden von Frieden und manchmal auch Glückseligkeit. Die Zeit bleibt für einen Moment stehen. Alle Anspannung fällt ab, wir sind dankbar und lassen zur Verarbeitung die gemeinsame Zeit nochmals Revue passieren. Momente der Freude, der Lust, der Zusammengehörigkeit, das gegenseitige Vertrauen, alle kleinen und großen Machtkämpfe, alle Schwierigkeiten die zusammen gelöst wurden. Im Kopf entsteht ein Spielfilm mit dem Namen „Ein Geschenk auf vier Pfoten“.
Da wir mit unserem Hund so verbunden sind, hören wir ihn noch auf den Fliesen oder Holzboden laufen, sich mit dem Halsband schütteln oder wir können seinen Geruch noch wahrnehmen, obwohl sein Körper nicht mehr da ist. Es dauert eine Zeit, bis auch die Feinstofflichkeit, die Energieform unseres Hundes sich auflöst.
Wer seinen Hund bis zum Ende begleiten kann und will, erhält aus dem Buch der Lebensschule etwas ganz Besonderes. Es kann nirgends ER-lernt, sondern nur ER-lebt und ER-fahren werden.