Einen meiner ersten WUFF-Artikel widmete ich vor inzwischen gut vier Jahren meinem „Canis autisticus", wie ich meine türkische Mülltonnen-Lady immer liebevoll nannte (Der Canis autisticus hystericus: Von der Mülltonne auf die Couch. WUFF 09/2010). Der Canis autisticus lebt inzwischen leider nicht mehr und wider Erwarten ist sie auch nicht gestorben, weil ihr der Himmel doch noch auf den Kopf gefallen ist … Aber sie bleibt für immer ein ganz besonders liebenswerter Hund, mit ganz besonderen „Macken" und Eigenheiten, so ganz anders als alle anderen Hunde, die ich kenne.
Auf meinen Seminaren und Vorträgen begegnen sie mir immer wieder: die Frage, ob es Autismus bei Hunden gibt, und Hundehalter, die überzeugt davon sind, auch einen Canis autisticus ihr Eigen zu nennen. Und auch in der verhaltensmedizinischen Beratung werden immer wieder Hunde von ihren Haltern als autistisch beschrieben. Und vielleicht sind sie es auch.
Günes, mein Canis autisticus
Abgesehen von vielen „normalen Problemen", die Hunde aus dem Ausland öfter mit im Gepäck haben, die mit einem halben Jahr von der Straße eingesammelt und in eine Wohnung in die Großstadt verfrachtet werden, ohne sie zu fragen, ob sie hier als Hund mit Migrationshintergrund leben wollen, hatte mein eigener Canis autisticus von Beginn an etwas an sich, das mich an Autismus hat denken lassen. Ich hatte sehr oft das Gefühl, dass meine Günes überhaupt nicht anwesend war, sondern in einer anderen, ganz eigenen Welt lebte, zu der sonst niemand Zutritt hatte. Oft stand sie minutenlang da und schaute einfach in die Ferne und war durch nichts und niemand anzusprechen, weder durch mich, noch durch andere Hunde, Ereignisse oder Geräusche um uns herum. Oder sie beschnupperte eine Ewigkeit einen einzigen Grashalm und vergaß darüber alles andere. Dann wiederum spielte sie voller Elan Regenwürmer an und schaute furchtbar enttäuscht, wenn diese nicht auf Ihre Spielaufforderung reagierten. Mit anderen Hunden hingegen spielte sie nie. Erst im letzten Drittel ihres Lebens ging sie manchmal, aber wirklich selten, auf die Spielaufforderungen meiner anderen, ihr sehr gut bekannten, Hunde ein. Zu begeistern war sie immer nur für Objektspiele, alleine mit einem alten Plastikblumentopf konnte sie sich stundenlang beschäftigen. Eine echte Bindung zu ihr aufzubauen, gelang mir erst nach vielen Jahren.
Also machte ich mich auf die Suche nach Literatur zum Thema Autismus beim Hund, stellte aber schnell fest, dass es so gut wie nichts zu diesem Thema gibt. Bleibt vorerst nur der Blick in die Humanpsychologie. Vorweg muss gesagt werden, dass es sehr viele verschiedene Formen und Ausprägungen des Autismus beim Menschen gibt, darum beschränke ich mich in diesem Artikel auf Punkte, die sich auch auf den Hund übertragen lassen.
Was ist Autismus?
Wikipedia schreibt „ …eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns … die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht". Andere Forscher beschreiben Autismus als „angeborenen abweichenden Informationsverarbeitungsmodus, der sich durch Schwächen in sozialer Interaktion und Kommunikation sowie durch stereotype Verhaltensweisen bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz zeigt".
Es gibt diagnostische Kriterien für autistische Störungen im „Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen" (Diagnostische Kriterien nach dem DSM IV). Hier wird der frühkindliche Autismus den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet und unter anderem durch folgende diagnostische Kriterien beschrieben:
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion. Dazu gehört eine ausgeprägte Beeinträchtigung im Gebrauch nonverbaler Verhaltensweisen wie beispielsweise Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik zur Steuerung sozialer Interaktionen. Das äußert sich in der Unfähigkeit, entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, einem Mangel, Freude, Interessen oder Erfolge mit anderen zu teilen (z. B. durch einen Mangel, Objekte des Interesses herzuzeigen, herzubringen oder darauf hinzuweisen), und einen Mangel an sozialer oder emotionaler Gegenseitigkeit.
Diese Punkte lassen sich problemlos auf den Hund übertragen, einige davon fand ich auch bei meinem Canis autisticus wieder. Ausgenommen werden muss beim Hund der eingeschränkte Blickkontakt, weil viele Hunde sowieso einen längeren Blickkontakt vermeiden. Der Mangel an sozialer und emotionaler Gegenseitigkeit hingegen ist oft das, was die Halter solcher Hunde an Autismus denken lässt.
Symptome von Autismus
Weiterhin wird die qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation beschrieben. Da es sich hier aber um verbale Kommunikation handelt, ist eine Übertragung auf den Hund schwierig. Zusätzlich wird ein beschränktes repetitives und stereotypes Verhaltens-, Interessens- und Aktivitätsmuster in mindestens einem der folgenden Bereiche beschrieben: umfassende eingehende Beschäftigung innerhalb eines oder mehrerer stereotyper und begrenzter Interessenmuster, wobei entweder Schwerpunkt oder Intensität der Beschäftigung abnorm sind. Wenn sich ein Hund eine halbe Stunde mit einem einzigen Grashalm, einer Wolke am Himmel oder einem Astloch auf dem Holzfußboden beschäftigt, ist meines Erachtens nach sowohl der Schwerpunkt als auch die Intensität nicht normal. Auch bei menschlichen Autisten findet man häufig eine starke Objektbezogenheit, die oft auf eine bestimmte Art von Gegenständen beschränkt ist. Alles andere ist dann sekundär und wird nicht oder kaum beachtet. Multitasking war keine der stärken meines Dönertieres …
Rituale sind das halbe Leben
Auch das „auffällig unflexible Festhalten an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen" wird beschrieben. Das können Bewegungsstereotypien wie zum Bespiel das Kreiseln um die eigene Körperachse sein, die von vielen Hunden gezeigt werden. Bei meinem Canis autisticus fiel auf, dass sie eigentlich funktionale Verhaltensweisen in nicht funktionalem Kontext in sehr ausgeprägter Form zeigte und an diesen Ritualen festhielt. So war ihr ein Hinlegen ohne vorheriges exzessives Kreiseln nicht möglich. Einmal habe ich 27 Umdrehungen um die eigene Körperachse gezählt, bevor sie endlich die richtige Liegeposition gefunden hat. Weder in normalen, noch in Stresssituationen zeigte sie dieses Kreiseln, es passierte nur vor dem Hinlegen, aber wesentlich ausgeprägter als bei „normalen" Hunden.
Ein weiteres stereotypes Ritual, das hier im Hause zu regelmäßigem Schmunzeln führte, war der Stoffwechsel dieses Hundes: sobald sie auch nur ein Bröckelchen Futter, ein kleines Leckerchen oder einen einzigen Schluck Wasser zu sich genommen hatte, musste sie raus – und das jedesmal! Sie musste natürlich nicht wirklich, denn so schnell verdaut auch kein Dönertier, aber für sie gehörte das dazu, war ein von Beginn an bestehendes Ritual und nicht aus ihrem hübschen Köpfchen rauszubringen. Das fällt für mich unter den Punkt des auffällig unflexiblen Festhaltens an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen.
Ein weiterer Punkt beim Menschen, bei dem ich sofort an vermeintlich autistische Hunde denken musste, ist die Reaktion auf Veränderungen in ihrer Umwelt, wie zum Beispiel auf umgestellte Möbel, auf einen anderen Spazierweg oder einen Umzug. Auf solche Situationen wurde vom Canis autisticus mit Unsicherheit bis Panik reagiert. Auch Gegenstände, die sich an einem anderen als dem gewöhnlichen Platz befinden, wie zum Beispiel Mülltonnen, die auf einmal rechts und nicht links von der Haustüre stehen, können diese Hunde völlig aus der Fassung bringen, weil fast alle Handlungen streng ritualisiert ablaufen und für Abweichungen von diesen Ritualen keine alternative Strategie, kein „Plan B" zur Verfügung steht.
Wut, Phobien, Stereotypien
Sehr oft findet man bei menschlichen Autisten auch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).
Auch das Dönertier war ein Hund, der von Beginn an in der ständigen Angst lebte, der Himmel könnte ihr doch eines Tages auf den Kopf fallen (dass das der Himmel 13,5 Jahre nicht einmal ansatzweise getan hatte, beruhigte sie keineswegs – Himmel sind wohl unberechenbar!). Sie hatte eine massive Geräuschangst und fand auch andere Dinge, die „normale Hunde" überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, furchtbar furchteinflößend – ein Kaugummi, in den sie einmal getreten war, und der sich erdreistete, zwischen ihren Ballen zu kleben, führte zu der größten Panikattacke, die ich mit diesem Hund jemals erleben musste. Fressen fand sie ihr Leben lang völlig überflüssig, wog bei einem Stockmaß von 64 cm zwischenzeitlich gerade mal 12 Kilogramm. Wienerle? Pansen? Igitt! Nur Döner geht immer, aber das hat mit der Futterprägung zu tun.
Auch Wutausbrüche (bei diesem eigentlich sehr sanftmütigen Hund), gelegentliche Aggressionen ohne erkennbaren Auslöser und selbstverletzendes Verhalten (Leckstereotypien) traten immer wieder sporadisch auf.
Die Ursachen
Die Ursachen des Autismus sind beim Menschen immer noch nicht geklärt, es gibt verschiedene Forschungsansätze. In Familienstudien wurde festgestellt, dass es eine familiäre Häufung von Autismus gibt, weshalb genetische Faktoren als Ursache für Autismus sehr wahrscheinlich sind. Bei einer türkischen Straßenhündin ließ sich das auch schlecht überprüfen …
Festgestellt wurden beim Menschen auch Funktionsstörungen der linken Gehirnhälfte, abnorme Veränderungen des Stammhirns in Kombination mit Aufmerksamkeitsdefizit sowie Störungen in der sensorischen Reizverarbeitung.
Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Spiegelneuronen bei Menschen mit Autismus nicht hinreichend funktionstüchtig sind. Spiegelneuronen werden unter anderem benötigt, um Emotionen von Gesichtern deuten zu können, und sie befähigen zur Empathie.
Bei Untersuchungen von Menschen mit Autismus wurden auch Besonderheiten im biochemischen Bereich festgestellt. Teilweise weisen Autisten einen erhöhten Spiegel an den Botenstoffen Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin und Serotonin auf. Allerdings sind die Befunde bisher uneinheitlich und lassen keine allgemeingültigen Rückschlüsse zu. Für den Hund gibt es dazu bisher keinerlei Forschungen.
Ein britischer Autismusforscher vermutet, dass Autisten, verursacht durch einen hohen Spiegel des männlichen Sexualhormones im Mutterleib, ein extrem ausgeprägtes männliches Gehirn haben. Hohe Testosteronspiegel im Mutterleib findet man entweder bei Welpen von sehr Testosteron-gesteuerten Müttern oder bei weiblichen Föten, die zwischen vielen männlichen Geschwistern liegen. Durch den Nabelschnurkreislauf wird das Testosteron so intrauterin übertragen. Die Folge sind sehr maskulinisierte weibliche Tiere, sozusagen „Rüdinnen", die das Bein so hoch heben, dass sogar männliche Artgenossen neidisch werden, und die oft sehr stark bemuskelt sind und sich auch im Verhalten eher rustikal zeigen.
In einer Studie mit schwangeren Frauen zeichneten sich Kinder, die im Mutterleib einem erhöhten Testosteronspiegel ausgesetzt waren, später gegenüber normalen Kindern durch einen kleineren, aber qualitativ höheren Wortschatz und selteneren Blickkontakt aus. Im Alter von vier Jahren waren diese Kinder sozial weniger entwickelt. Die These des Briten besagt, dass diese Kinder verbesserte Fähigkeiten besitzen, Muster zu sehen und Systeme zu analysieren, dafür jedoch Defizite aufweisen, wenn es um die Empathie-Fähigkeit gehe. Das sind Fähigkeiten und Defizite, die normalerweise eher männlichen Gehirnen zugeschrieben werden. Das Dönertier entsprach übrigens der klassischen „Rüdin" …
Immer wieder findet man in Internetforen Hinweise darauf, dass das in manchen Impfstoffen enthaltene Quecksilber Autismus verursacht. Die zugrunde liegende Untersuchung ist allerdings bezüglich der Objektivität mit Vorsicht zu genießen, weil der Wissenschaftler, der die Untersuchung dazu leitete, große Summen an Drittmitteln für die Forschung von Eltern Autismus-betroffener Kinder und deren Anwälten kassiert hatte. Zehn der dreizehn an dem veröffentlichten Fachartikel beteiligten Autoren traten danach von dem Artikel zurück, gegen den Hauptautor wurde aufgrund unethischer Methoden ein Berufsverbot ausgesprochen. Auch andere Arbeiten haben inzwischen den Zusammenhang zwischen Autismus und Impfungen widerlegt.
Therapie?
Die wissenschaftlich am besten abgesicherte Therapieform, die sich auch auf Hunde mit Autismus-ähnlichen Symptomen übertragen lässt, ist die Verhaltenstherapie. Auch beim Hund geht es darum, störende und unangemessene Verhaltensweisen wie übermäßige Stereotypien oder (auto-)aggressives Verhalten abzubauen und andererseits soziale Fähigkeiten zu stärken. Hier spielt die positive Verstärkung von erwünschten Verhaltensweisen eine große Rolle.
Sehr interessant, auch in Bezug auf den Hund, sind neue Hinweise darauf, dass Oxytocin in der Autismus-Therapie eine Rolle spielen könnte. Oxytocin ist das Bindungs- und Beziehungshormon, das ich auch gerne als den hormonellen Sozialkleber bezeichne. In ersten Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass Autisten, die mit einem Oxytocin-Nasenspray behandelt wurden, besser in der Lage waren, auf Fotos von Augenpartien die gezeigten Emotionen zu deuten. Oxytocin wird auch bei Berührungen, wie etwa Massagen, gebildet, und ich stellte immer wieder fest, dass diese Entspannungsmassagen meinen Canis autisticus ansprechbarer machten und ein bisschen in unsere Welt zurückholten. Aber das macht natürlich nur Sinn, wenn der entsprechende Hund Berührungen auch toll findet und sich gerne anfassen lässt.
Medikamente
Nachdem die Ursache für Autismus noch nicht gefunden wurde, gibt es auch keine Medikamente dagegen. Es bleibt – auch beim Hund – lediglich die medikamentöse Behandlung der Begleitsymptome wie etwa Angst, Depression, Zwangsstörungen oder Aggressivität, wenn man mit einer reinen Verhaltenstherapie nicht weiterkommt und die Lebensqualität des Hundes eingeschränkt ist. In diesem Fall sollte man sich an einen auf Verhalten spezialisierten Tierarzt wenden.
Bei der Recherche zu diesem Artikel bin ich darüber gestolpert, dass man „ökologische Nischen" für Autisten suchen müsse. Gemeint ist z.B. eine Autismus-gerechte Umwelt, ein passender Arbeitsplatz, eine entsprechende Schule. So gibt es zum Beispiel Firmen, die sich auf die Vermittlung arbeitssuchender Autisten unter Berücksichtigung oft vorhandener Inselbegabungen spezialisiert haben, und das mit großem Erfolg. Ich denke, dass es darum auch beim betroffenen Hund gehen sollte. Mein Canis autisticus hatte hier seine ökologische Nische gefunden: sie wurde gemäß ihren Talenten und Begabungen gefordert und gefördert, ich versuchte, ihre Umwelt, soweit möglich, ihren Bedürfnissen anzupassen, hielt mich an die für sie wichtigen Rituale und Routinen, ließ ihr Freiräume und – das Allerwichtigste! – nahm und wollte sie ganz genau so, wie sie war! Als einen besonderen Hund mit besonderen Ansprüchen an seine Umwelt und an seinen Menschen. Es blieb mir sowieso nichts anderes übrig, denn jeder Versuch, sie zu ändern, hätte nur mich und sie unglücklich gemacht. Und wer hat schon so einen besonderen Hund?!