Genetische Vielfalt – Ein Jungbrunnen für Zuchtpopulationen

Genetische Vielfalt, Varianzverlust durch Inzucht, Popular-Sire-Syndrom, Decklimitierung – all das sind Schlagworte, die heute im Hundewesen immer häufiger Thema sind. Populationsgenetiker ­predigen die Bedeutung  genetischer Vielfalt,  Zuchtverbände und Züchter bemühen sich mehr oder weniger  um deren Erhalt, Tierärzte und Hundebesitzer sind in zunehmender Häufigkeit mit den Folgen des Varianzverlustes konfrontiert. Die wenigsten haben aber wohl konkrete Vorstellungen davon, was denn genau hinter dem Phänomen der genetischen Vielfalt steckt. Dr. Sommerfeld-Stur, Universitätsprofessorin für Tierzucht und Genetik, in folgendem Artikel darüber, was es ist, das eine vielfältige genetische Ausstattung so wichtig macht.

Um zu verstehen, worum es geht, müssen wir uns in die Tiefen der Genetik begeben und uns den Mechanismus, durch den Gene ihre Wirkung auf Hunde ent­falten, genauer betrachten.

Gene gelten heute als im ­Grunde etwas allgemein Bekanntes. Sie ­spuken durch unseren Alltag, immer wieder mal erklären uns die ­Medien, wie gefährlich z.B. „Genmais“ ist, und im Gegensatz dazu ist für ­viele Hunde­züchter der „Gentest“ ein Lichtstreif am Horizont, wenn es um die Bekämpfung von Erbfehlern geht.

Auch das Wissen um die Struktur von Genen gehört heutzutage schon fast zur Allgemeinbildung. Begriffe wie Chromosomen, DNA, genetischer Code etc. gehören zum Naturkundeunterricht in den Schulen und finden sich in Zeitungsartikeln, Fernseh­dokumentationen und auf zahlreichen Internetseiten.

Wenig Allgemeinverständliches ­findet sich allerdings zum Wirkungsmechanismus der Gene, sodass der Begriff Gen immer irgendwie abstrakt erscheint. Um die Vorteile der genetischen Vielfalt zu verstehen, müssen wir uns aber mit diesem Wirkungs­mechanismus etwas näher beschäf­tigen. Im Grunde ist es ganz einfach.

Was ist ein Gen?
Gene tragen Informationen. Sie sind vergleichbar mit Büchern, in denen die grundlegenden Anweisungen für den lebenden Organismus aufgeschrieben sind. Ein wichtiger Teil dieser Informationen betrifft den Aufbau von ­Proteinen. In Genen liegt daher im Wesentlichen die Aufbauanweisung für Proteine, eine Art Kochrezept, das angibt, mit welchen Zutaten und in welcher Struktur Proteine aufgebaut werden. Proteine wiederum sind Eiweißkörper, die in vielfältiger Funktion für die Lebensfunktionen eines Organismus verantwortlich sind.

Aufgaben genetisch ­kodierter ­Proteine

Ganz grob lassen sich die Proteine vier Funktionsgruppen zuordnen, und zwar sind dies Strukturproteine, Enzyme, Botenstoffe und Immunglobuline.

1) Strukturproteine – das ­„Mauerwerk des Körpers“
Strukturproteine sind für den Aufbau des Körpers verantwortlich. ­Proteine machen zu einem großen Teil das Grundgerüst von Zellen und damit von Geweben und Organen aus. Diese genkodierten Strukturproteine sind sozusagen das Mauerwerk, aus dem Organismen aufgebaut sind. Sie sind somit im Wesentlichen für die Körperformen eines Hundes zuständig.

2) Enzyme – Katalysatoren des Stoffwechsels
Enzyme sind für den Ablauf von Stoffwechselreaktionen verantwortlich, sie sorgen für die Energiebereit­stellung, sie sorgen für den Aufbau von lebenswichtigen Substanzen und für den Abbau von überflüssigen oder ­toxischen Substanzen. Ohne die Anwesenheit von genetisch kodierten Enzymen wären unsere Hunde hübsche Stofftiere, die man sich in die Sofaecke setzen könnte, die aber keinerlei Lebensäußerungen zeigen würden.

Ein wichtiger Punkt bei Enzymen ist, dass sie zwar unverzichtbar für alle Stoffwechselreaktionen sind, selber aber bei diesen Reaktionen nicht verbraucht werden. Daher ­benötigt der Organismus auch nur recht geringe Mengen eines bestimmten Enzyms. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Enzyme ganz spezifisch für bestimmte Stoffwechselreaktionen sowie für die daran beteiligten Stoffe, die sogenannten Substrate, sind. Eine ganz bestimmte Stoffwechselreaktion kann also nur durch ein ganz bestimmtes Enzym gesteuert werden. Fehlt ein bestimmtes Enzym, kann die ent­sprechende Stoffwechselreaktion nicht ablaufen. Das kann dann zum Teil recht weitgehende Konsequenzen für den betroffenen Hund haben (siehe Kasten auf Seite 19).

Eine weitere wichtige Eigenschaft von Enzymen ist, dass sie sehr empfindlich sind in Bezug auf Änderungen des umgebenden Milieus. Hier sind es vor allem pH-Wert und Temperatur, die in einem recht engen Bereich liegen müssen, um die Funktion von Enzymen zu gewährleisten. So entspricht das Temperaturoptimum für die meisten Enzyme dem Bereich der normalen physiologischen Körpertemperatur. Fällt die Körpertemperatur unter eine kritische Grenze, z.B. im Rahmen einer Unterkühlung, oder steigt sie über diese Grenze, z.B. im Rahmen einer fieberhaften Erkrankung, können Enzyme ihre Funktion nur mehr eingeschränkt oder gar nicht mehr erfüllen oder werden sogar zerstört. Damit können auch die entsprechenden Stoffwechselreaktionen nur mehr eingeschränkt oder gar nicht mehr ablaufen, im schlimmsten Fall endet das mit dem Tod des Tieres.

Einzelne Enzyme können nun in leicht unterschiedlichen Varianten vorkommen. Die Ursache davon sind Muta­tionen in den Genen, die das jeweilige Enzym kodieren. Diese Enzymvarianten zeigen grundsätzlich die gleiche Funktion, können sich aber z.B. in ihrer Temperaturempfindlichkeit unterscheiden. D.h. dass die verschiedenen Varianten ihre beste Funktion in leicht unterschiedlichen Temperaturbereichen zeigen. Nehmen wir bspw. an, ein Enzym kommt in zwei Varianten vor, deren eine, wir wollen sie „low“ nennen, in einem Temperaturbereich zwischen 36,5° und 38,5° gut funktioniert, bei einer erhöhten Temperatur aber nur eingeschränkt aktiv ist. Die andere Variante dieses Enzyms, wir wollen sie „high“ nennen, zeigt ihre optimale Wirkung in einem Temperaturbereich zwischen 37° und 40°, d.h. sinkt die Körpertemperatur unter 37°, sinkt auch die Enzymaktivität. Bei einem Tier, das nur die „low“-Variante des Enzyms hat, das also den sog. homozygoten Genotyp „low“/„low“ trägt, wird bei einer fieberhaften Erkrankung die Enzymwirkung beeinträchtigt, die von dem Enzym gesteuerte Stoffwechselreaktion läuft langsamer oder gar nicht mehr ab, und je nach der Bedeutung des Enzyms wird es zu mehr oder weniger schwerwiegenden Symptomen kommen. Ähnliches gilt für ein Tier, das nur die „high“-Variante des Enzyms hat, das also den sog. homozygoten Genotyp „high“/„high“ hat. In diesem Fall wird es zu Problemen bei einer Unterkühlung des Körpers kommen. Einem Hund hingegen, der beide ­Varianten des Enzyms hat (heterozygoter Genotyp „high“/„low“), kann sowohl eine Unterkühlung als auch eine fieberhafte Erkrankung weniger anhaben, denn zumindest eine der beiden Enzymvarianten funktioniert in jedem Fall normal.

Der heterozygote Genotyp (also der mit beiden Varianten) ist auch in einem anderen Fall von Vorteil. Dann nämlich, wenn ein ­enzymkodierendes Gen durch eine Mutation als Defektvariante vorliegt. Mutationen, also Veränderungen der genetischen Information, können die Aufbau­anweisung für Proteine so verändern, dass das fertige Protein nicht funk­tioniert. Die Konsequenzen eines nicht funktionierenden Enzyms haben wir bereits im Zusammenhang mit dem Enzym PDP1 kennengelernt ­(siehe Kasten auf Seite 19). Es kommt, ­wieder entsprechend der Funktion, die das jeweilige Enzym im Stoffwechsel spielt, zu mehr oder weniger ausgeprägten klinischen Symptomen, die im Einzelfall bis zum Tod des betroffenen Tieres gehen können.

Da Enzyme üblicherweise aber bereits wirksam sind, wenn sie in geringer Menge vorkommen, macht es in den meisten Fällen nichts aus, wenn nur eine Kopie des defekten Genes vorliegt. Solange zumindest eine Genkopie vorhanden ist, die eine voll funktionsfähige Variante des Enzyms kodiert, kann die entsprechende Stoffwechselreaktion ungestört ablaufen. Nur wenn die defekte Genvariante in doppelter Dosis vorliegt, fehlt die funktionierende Enzymvariante vollständig, und damit kann die Stoffwechselreaktion nicht ablaufen. Das heterozygote Tier, das zumindest eine korrekte Genkopie trägt, ist somit auch hier einem homozygoten, das keine korrekte Genkopie hat, überlegen.

3) Botenstoffe – die „messenger“ des Körpers
Botenstoffe sind Proteine, deren wesentliche Aufgabe die Über­tragung von Informationen ist. Es gibt im ­tierischen Organismus zwei wichtige Gruppen von Botenstoffen, das sind einerseits die Neurotransmitter und andererseits die Hormone. Neurotransmitter sind für die Reizübertragung zwischen Nervenzellen verantwortlich. Sie werden kurzfristig bei Bedarf gebildet, jedoch, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben, gleich wieder abgebaut oder zurückresorbiert.

Hormone sind für zahlreiche Funktionen des Organismus unverzichtbar. Sie regeln die Entwicklung, das Wachstum, die Fortpflanzung, das Verhalten und vieles mehr. Sie werden von spezifischen Hormondrüsen gebildet, über das Blut zu ihren Zielorganen und Geweben transportiert und greifen dann dort in verschiedenste Stoffwechselprozesse ein. Sie benötigen zum Teil spezifische Transportproteine, um überhaupt an ihr Ziel zu kommen. Zum Teil benötigen sie auch spezifische Rezeptoren, die an der Oberfläche von Zellen sitzen, um in ihre Zielzellen hineinzukommen. Sowohl die Transportproteine als auch die Rezeptoren sind wiederum genetisch kodierte Proteine.

Für Botenstoffe sowie für deren Transportproteine und Rezeptoren gilt grundsätzlich das Gleiche wie für Enzyme. Sie können in leicht unterschiedlichen Varianten mit unterschiedlichen Funktionsbedingungen auftreten, bzw. können sie durch eine Defektmutation des verantwortlichen Gens ihre Funktionalität verlieren. Und auch hier sind jene Tiere besser dran, die in ihrem Genotyp jeweils unterschiedliche Varianten der kodierenden Gene tragen.

4) Immunglobuline – die Armee des Körpers
Die Immunglobuline gehören zur Verteidigungsstreitmacht des ­Körpers. Sie sind für die Erkennung und Unschädlichmachung von Eindring­lingen verantwortlich, die in Form von Bakterien, Viren oder Parasiten den tierischen Organismus bedrohen. Für die ordnungsgemäße Produktion von Immunglobulinen ist eine Gengruppe verantwortlich, die als MHC (Major Histocompatibility Complex) bezeichnet wird. Es gibt drei MHC-Klassen, von denen beim Hund insbesondere die Klasse II sehr gut untersucht ist. Eine Untergruppe des MHC II ist das DLA-System, wobei DLA für Dog Leucocyte Antigen steht.

Besonders interessant an den DLA-Genen des MHC-II ist, dass sie ­innerhalb der Art einen sehr ausgeprägten Polymorphismus – das heißt also eine Vielzahl unterschiedlicher Genvarianten – zeigen. Das gilt nicht nur für Hunde, sondern ganz allgemein. Dieser ausgeprägte Polymorphismus ist eine der Grundlagen für die Anpassungsfähigkeit einer Art an wechselnde Umweltbedingungen. So sind z.B. bei der Spezies Hund zurzeit an die 200 Genvarianten an den drei am besten untersuchten DLA-Genen der MHC-II-Klasse bekannt. Betrachtet man allerdings einzelne Rassen, so zeigt sich eine erschreckende Reduktion dieser genetischen Vielfalt. So wurden bei einzelnen Rassen nur mehr zwischen 13 und 27 unterschiedliche Genvarianten gefunden, wobei noch dazu ein Großteil dieser verbliebenen Genvarianten nur mehr in sehr geringer Häufigkeit zu finden waren.

Besonders problematisch wird es dann, wenn einzelne, häufig auftretende verbliebene Varianten mit Erkrankungen des Immunsystems assoziiert sind. So gibt es inzwischen zahlreiche Studien, die zeigen, dass bestimmte Varianten der DLA-Gene Risikofaktoren für verschiedene Autoimmunerkrankungen darstellen.
Autoimmunerkrankungen entstehen durch eine Fehlfunktion des Immunsystems, das sich in diesem Fall gegen körpereigenes Gewebe richtet und dieses zerstört. Je nach dem Zielorgan dieser fehlgeleiteten Immunreaktion kommt es dann zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Schilddrüsenunterfunktion, Morbus Addison, Diabetes, Rheumatoider Arteritis, Lupus ­Erythematodes etc.

Es liegt auf der Hand, dass eine größtmögliche Vielfalt im Bereich der DLA-Gene in einer Rassepopulation das Risiko für jeden einzelnen Hund senkt, Risikogene für Autoimmunerkrankungen zu tragen. Zudem hat der Hund, der in den Genen des MHC hetero­zygot ist, also jeweils unterschiedliche Genvarianten trägt, eine bessere Chance, mit unterschiedlichen Infek­tionen fertig zu werden.

Genetische Vielfalt im Vergleich
Eine Studie von PEDERSEN (2013) (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/­pubmed/23679949) zeigt in diesem Zusammenhang hochinteressante Ergebnisse. Die Autoren verglichen die genetische Vielfalt von Rassehunden mit derjenigen von Asiatischen „Village Dogs“, also mehr oder weniger wild lebenden Straßenhunden. Die Village Dogs zeigten nicht nur in den Genen des MHC, sondern im gesamten Genom, eine wesentlich höhere Vielfalt als die untersuchten Rassehunde. Die Erklärung dafür ist einfach.

Village Dogs pflanzen sich nach dem Zufallsprinzip fort, es gelten im Wesentlichen die Bedingungen einer natürlichen Selektion. Selektion auf reine Äußerlichkeiten oder gar ­Linienzucht findet nicht statt, so dass vor allem Vitalitätskriterien bei der Selektion eine Rolle spielen. Und hier haben diejenigen Hunde Vor­teile, die in ihrem Genotyp eine höhere Vielfalt, also einen höheren Anteil an Genen mit unterschiedlichen ­Genvarianten haben. Dadurch wird auch an die Nachkommengeneration eine größere Vielfalt an unterschiedlichen Genen weitergegeben. Und da in jeder Generation die Tiere mit mehr unterschiedlichen Genvarianten bessere Chancen haben, zur Fortpflanzung zu kommen, bleibt die genetische Vielfalt in der Population erhalten. Bei freier Partnerwahl werden zudem – so ist es von verschiedenen Tierarten wie z.B. Mäusen oder Spatzen bekannt – Partner bevorzugt, die für die ­Nachkommen eine größtmögliche Vielfalt in den MHC-Genen gewährleisten.

Ganz anders in den Rassezucht­populationen. Einseitige Selektion auf „Schönheit“, kleine, geschlossene Zuchtpopulationen, Linienzucht, übermäßiger Einsatz einzelner Championrüden führen zu einem raschen Inzuchtanstieg, verbunden mit Genverlusten und einer massiven Reduzierung der genetischen Vielfalt.

Interessanterweise zeigte die genannte Studie aber auch Unterschiede in der genetischen Vielfalt zwischen den untersuchten Rassen. Rassen, bei denen neben den Ausstellungsergebnissen auch Leistungskriterien bei der Selektion berücksichtigt werden, zeigten eine höhere gene­tische Vielfalt als solche, bei denen nur Ausstellungsergebnisse Grundlage der Zuchtentscheidung waren. Auch dieses Ergebnis überrascht nicht, denn körperliche Leistungsfähigkeit setzt einen gesunden, anpassungsfähigen Organismus voraus, und der wiederum basiert auf einem Genom mit einer möglichst vielfältigen genetischen Ausstattung. Diese Studie zeigt damit aber auch die Bedeutung, die einer Selektion auf der Basis von Vitalitäts- und Fitnesseigenschaften zukommt.

Ein Jungbrunnen?
Im Titel dieses Textes habe ich den Begriff „Jungbrunnen“ gewählt. ­Darunter versteht man landläufig eine Wasserquelle, die denjenigen, die ­daraus trinken, ewiges Leben ver­mittelt. Genetische Vielfalt mag zwar für den einzelnen Hund nicht das ­ewige Leben bedeuten – immerhin wohl aber ein längeres Leben bei längerer Gesundheit.

Für Populationen trifft die Bedeutung des Jungbrunnens allerdings vollinhaltlich zu. Populationen mit geringer genetischer Vielfalt sterben irgendwann einmal aus, spätestens dann, wenn sich die Umweltbedingungen so ändern, dass der Genpool der Population keine zu den geänderten Umweltbedingungen passende genetische Ausstattung mehr enthält. Das ist zahlreichen Populationen bereits passiert und passiert ständig und überall auf der Welt. Ob es die Dinosaurier weltweit, oder irgendeine seltene lokale Vogelart betrifft, das Aussterben einer Population ist immer ein irreversibler Vorgang und macht die Welt, wie sie ist, ein Stückchen ärmer.

Viele Hunderassen sind bereits heute in einer genetischen Situation, in der ihr Überleben nur mehr durch mehr oder weniger intensive und entsprechend kostspielige veterinärmedizinische Interventionen gesichert erscheint.

Zum Glück für die Spezies Hund besteht auf der Basis der großen Vielfalt an unterschiedlichen Rassen für die Art keine unmittelbare Gefahr. Denn auch wenn das für eingefleischte Reinrassigkeitsfanatiker eine Horrorvorstellung ist, der Genpool der Tierart Hund ist aller Wahrscheinlichkeit nach groß genug, um auch für einzelne Rassen ein Erweiterungspotenzial für genetische Vielfalt zu bieten und diese damit vor dem Aussterben zu bewahren. Was könnte man nun also tun, um diesen Jungbrunnen der genetischen Vielfalt für Rassepopulationen zu ­nützen?

Vorbeugen ist besser als heilen
Am einfachsten ist die Situation, wenn in einer Population noch aus­reichend genetische Varianz vorhanden ist. Moderne molekulargenetische Methoden ermöglichen es, das zu untersuchen. In diesem Fall stehen den Züchtern alle Methoden der klassischen Tierzucht zur Limitierung des Inzuchtanstiegs zur Verfügung. Die einfachste und effizienteste Maßnahme ist eine Deckzahlbeschränkung für Rüden. Damit wird einerseits ein rascher Anstieg des Inzuchtniveaus verhindert und gleichzeitig das Risiko der Verbreitung von möglicherweise vorhandenen Defektgenen reduziert.

Eine weitere wirksame Strategie ist die Berücksichtigung der Verwandtschaft bei der Auswahl von Paarungspartnern. Durch Berechnung des zu erwartenden ­Inzuchtkoeffizienten der Nachkommen bestimmter Paarungen kann man für eine Hündin denjenigen Rüden auswählen, der für seine Nachkommen in Kombination mit der Hündin die größtmögliche genetische Vielfalt erwarten lässt.

Eine der Ursachen für Genverluste in Populationen ist die Durchführung von Selektionsmaßnahmen, wobei ­insbesondere die hohe Gewichtung von Ausstellungserfolgen und Formwertkriterien oft dazu führt, dass Hunde auf Grund von Bagatellfehlern nicht zur Fortpflanzung kommen. Damit gehen aber der Population alle Gene dieser Hunde verloren, was nicht nur die genetische Vielfalt ganz allgemein einschränkt, sondern auch zum Verlust von speziellen Genen, die für die Rasse von Bedeutung sind, führen kann.

So könnte der Zuchtausschluss eines Hundes wegen eines fehlenden Prämolaren (ein Backenzahn) dazu führen, dass auch die Gene, die für die gesunden Hüften oder das ausgeglichene Wesen dieses Hundes verantwortlich sind, verloren gehen. Eine weniger scharfe Selektion, bei der ein Zuchtausschluss nur bei schwerwiegenden Fehlern verhängt wird, wäre also auch im Sinne der Erhaltung genetischer Vielfalt von Bedeutung.

Und wenn man die Ergebnisse der Studie von PEDERSEN bedenkt, dann wäre in jedem Fall eine Berücksichtigung von Leistungskriterien bei der Zuchtwahl eine weitere Möglichkeit, vorhandene Varianz zu erhalten.

Und wenn es zu spät ist
Das Schlimme an Genverlusten in geschlossenen Populationen ist, dass sie irreversibel sind. Gene, die einer Population verloren gegangen sind, kommen nicht von selber wieder. Sie sind für immer fort. Genetische Varianz in geschlossenen Populationen kann daher immer nur noch geringer werden. Die einzige Möglichkeit, die genetische Vielfalt einer geschlossenen Population wieder zu erweitern, ist die Immigration, also die Einführung neuen ­Genmaterials. Im allgemeinen züchterischen Sprachgebrauch bezeichnet man diese Maßnahme als Einkreuzung. Fatalerweise ist die Einkreuzung unter Rassehundezüchtern jedoch absolut negativ besetzt. Das Dogma der Reinrassigkeit ist in der Hundezucht sakrosankt, und wer es in Frage stellt oder gar dagegen verstößt, wird von der Züchtergemeinschaft verstoßen. Dieser Dogmatismus ist bedauerlich, verwehrt er doch Rassepopulationen, die in die Sackgasse der Genverluste geraten sind, die einzig wirksame ­therapeutische Maßnahme.

Und bei aller Anerkennung der Gefahren, die Einkreuzungen auch mit sich bringen können – insbesondere der Gefahr der Immigration von fremden Defektgenen – die Öffnung von geschlossenen Zuchtpopulationen durch Immigration ist die einzige Möglichkeit, die genetische Vielfalt einer Rasse wieder zu vergrößern und damit auch die genetische Fitness und Anpassungsfähigkeit der Rasse zu verbessern.

Es kann doch nicht sein, dass Rassezüchter lieber das Aussterben einer Rasse in Kauf nehmen, als alle Möglichkeiten zum Erhalt der Rasse zu nützen. Dabei kann Aussterben einer Rasse auch bedeuten, dass die Nachfrage so stark sinkt, dass Züchter für Ihre Welpen keine Abnehmer mehr finden.

Züchter und Zuchtverbände sind somit in jedem Fall gut beraten, sich mit dem Thema der genetischen Vielfalt gründlich auseinanderzusetzen und für die jeweilige Rassepopulation ­Strategien zu erarbeiten, die eine effiziente Er­haltung oder Erweiterung der genetischen Vielfalt zum Ziel haben.

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