Gefährliche Hunde – Wo liegt die Wahrheit? (Teil 2 von 2)

Von Dr. Barbara Wardeck-Mohr

Im 2. Teil des Beitrags geht es nunmehr darum, was hundliches Normalverhalten ist und welche Funktionen es erfüllt, Agggressionsverhalten richtig deuten zu können, häufigste ­menschliche Fehler im Umgang mit Hunden, weshalb die ­Hundegesetz­gebung weitgehend gescheitert ist sowie um Wege zum ­verantwortungsvollen und damit sichereren Umgang mit unseren Hunden.

Wenn es nun um unsere Hunde geht, so wird von ihnen erstaunlicherweise oft sogar erwartet, dass sie sich verhaltens­biologisch völlig atypisch verhalten. Das würde unter Umständen bedeuten, dass sie „kein Interesse am eigenen Überleben zeigen", z. B. bei Bedrängnis, Misshandlung oder im Ernstfall keine Selbstverteidigung betreiben. Hunden wird leider allzu oft ein Normalverhalten nach verhaltensbiologischen Kriterien schlichtweg abgesprochen! Doch ist eine Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex schon auch deshalb besonders wichtig, da gezeigte Stress- und Angstsignale oder Formen des Drohverhaltens, der Agonistik (Kampf, Flucht-, Drohverhalten) – über das Ausdrucksverhalten von Hunden – gesellschaftlich nur selten richtig erkannt respektive diesem keine besondere Beachtung geschenkt wird!

5. Normalverhalten von Hunden
Ein Normalverhalten von Hunden ist nur unter ihren verhaltensbiologisch verschiedenen Funktionskreisen zu verstehen und zu beurteilen.

5.1. Ernährungsverhalten
Nahrungserwerb, wie z. B. der ­Milchtritt, das Pföteln, Lecken, Futter­suche oder Futterbetteln, das Suchpendeln, Schnauzenstoßen, aber auch das Anschleichen, Ver­folgen, ­Angreifen oder Töten gehören hierzu. Das Ernährungsverhalten wird weiterhin unterschieden in Nahrungsaufnahme mit Beschnuppern, Betasten, Lecken, Trinken, Schlucken, dem Transport von Nahrung mit ­Futteraufnahme, dem Schleppen von Futter, (vor­läufigem) Runterschlucken, späterem Hervorwürgen oder der Futterauf­bewahrung, z. B. in einem Versteck.

5.2. Ausscheidungsverhalten
Dies zeigt sich u.a. über das Auf­suchen geeigneter Lokalität, ­Urinieren, Riechen, Kreisgehen, Koten oder ­Verscharren.

5.3. Sozialverhalten
a) Verhalten bei Geburt und Aufzucht: Graben, respektive Herrichten eines Wurflagers, ­Kontaktliegen, Austausch von Schnauzen­zärt­lichkeiten;

b) Infantilverhalten mit Nahrungs­aufnahme und Exploration, wie Mundwinkellecken, Saugen, ­Milchtritt,

c) Spielverhalten, z.B. Spielgesicht aufsetzen, Pföteln, Hopsen, Anspringen

d) Freundliche Stimmung kommunizieren, z. B. Umeinanderlaufen, Drängeln.

e) Neutrale Stimmung kommunizieren, wie z. B. sich belecken, Schnauzenkontakt, Laufen bzw. hintereinander gehen oder nebeneinander her.

f) Imponieren, wie z. B. über ­„hölzerne" Gangart, Haltung und Rute aufrecht, meist Blick am Gegenüber vorbei,

g) Verhalten von Unterwürfigkeit und Demut über angelegte Ohren, welpisch glattgezogenes Gesicht und mit Sich-kleiner-machen, Blickvermeidung, Schwanzhaltung eher niedrig, aber mit oft heftigem (beschwichtigendem) Rutenschlag.

h) Aggressionsverhalten ist auch Teil des Sozialverhaltens, wie Zähneblecken, Nackenhaare-aufstellen, Starrblick-aufsetzen, Knurren, Anrempeln, In-die-Luft-beißen – im Enstfall bis zum Beschädigungskampf!

5.4. Sexualverhalten
Dies zeigt sich über (penetrantes) Folgelaufen, Urin- und Genital­bereichberiechen, Genitallecken, Herandrängeln und Sich-präsentieren, Aufreitversuche.

5.5. Explorationsverhalten
a) Auch mit Feindvermeidung oder Nahorientierungsverhalten zur Exploration der Lage; Boden­witterung-aufnehmen, Betasten, etwas Anstoßen.

b) Fernorientierungsverhalten, z. B. Beobachten, Ohren spitzen, Vorstehen, differenzierte Lautäußerungen abgeben, den Kopf schräg halten

c) Feindvermeidung über Flucht- und Meideverhalten.

5.6. Komfortverhalten
Dies zeigt sich über ein Sich-Schütteln, Sich-beknabbern, Lecken und Wälzen, eine ausgedehnte Fellpflege.

5.7. Ausruhverhalten
Dazu gehören das Gähnen, Stehen, Sich-setzen oder Niederlegen, oft zuvor auch mit Kreistreten oder ­Schlafen.

5.8. Agonistisches Verhalten
Droh- Kampf- und Fluchtverhalten
Drohverhalten mit Offensiv- und Defensivdrohen sowie Distanz­drohen, Drohfixieren, Anstarren des Gegenübers, Zähneblecken mit und ohne Maulaufreißen, Nackenhaare-aufstellen.

6. Aggressionsverhalten von ­Hunden richtig verstehen
Über verschiedene Aggressionsformen werden eigene Interessen gewahrt oder gegen den Widerstand anderer durchgesetzt. Aggressionen in ihren verschiedenen Ausprägungen sind sowohl vom einzelnen Individuum, dessen Veranlagung, Individualentwicklung wie auch der damit einhergehenden individuellen Erregung abhängig. Auch die Gesamtverfassung sowie der situative Kontext spielen eine wesentliche Rolle.
Aggressionsformen sind funktionellen, phänomenologischen wie auch verhaltensbiologischen Gesichtspunkten zuzuordnen, wie z. B.:

  1. Zur Selbstverteidigung
  2. Jungtierverteidigung/ mütterliche Aggression
  3. Gruppenverteidigung
  4. Aggressionen aufgrund mangelhafter Sozialisierung
  5. Aggression bei sozialer ­Exploration /Rangordnungskampf
  6. Spielaggressionen
  7. Futterverteidigung
  8. Territoriale Aggression
  9. Schmerzbedingte Aggression
10. Angstbedingte Aggression
11. Bei Angst- und Ausweglosigkeit, z. B. keine Fluchtmöglichkeiten
12. Aggression bei sexueller Rivalität
13. Aggression unbekannter Ursache/ Idiopathische Aggression ( z. B. obsessiv – compulsive Störungen (OCD), also zwanghaftes selbstzerstörerisches Verhalten)

Wie bereits ausgeführt, ist Aggressionsverhalten von Hunden auch Teil des Sozialverhaltens und kann sich über Zähneblecken, Nackenhaare-aufstellen, Starrblick-aufsetzen, Knurren, Anrempeln, in die Luft Beißen ausdrücken oder reicht bis hin zum Beschädigungskampf im Ernstfall!

7. Fehler im Umgang mit Hunden
Lang und oft lückenlos ist die Liste von Fehlern in unserer Gesellschaft im Umgang mit Hunden. Dies entweder aufgrund fehlender Kenntnisse oder aus Ignoranz oder aus Selbstüberschätzung! Eine Liste der häufigsten Fehler von Menschen im Umgang mit Hunden ist im Kasten auf Seite 22 angegeben.

8. Weshalb Hunderasselisten „Gefahrenabwehr" verhindern und eine Scheinsicherheit nur ­vor­gaukeln
Die ethologischen Zusammenhänge für hundliches Verhalten sind, wie ausgeführt, äußerst komplex und unterliegen vielfältigen Zusammenhängen in verschiedenen ­Situations- und stimmungsabhängigen Kontexten. Damit sind sie ebenso abhängig von Umwelteinflüssen, Sozialpartnern, gesundheitlichen Zusammenhängen oder nicht zuletzt dem aktuellen Stresslevel. Rasse­listen hingegen übergehen vollständig diese Zu­sammenhänge. Stattdessen kriminalisieren sie Hunde bestimmter Rassen a-priori – bereits von Geburt an – und ­stellen sie unter den General­verdacht der Gefährlichkeit! Dies nicht nur in Deutschland oder Österreich, sondern auch in Schweizer Kantonen oder französischen Departements und bis zum Jahre 2008 auch in den ­Niederlanden!

Dies, obwohl weltweit wissenschaftlich als anerkannter Standard gilt:
Es gibt keine gefährlichen Hunde­rassen! Jeder Hund kann theoretisch und rasseunabhängig zubeißen!

„Rasselisten-Hunde" werden lebenslänglich mit Maulkorb- und Leinenzwang traktiert. Nicht nur aus tierschutzrechtlichen Erwägungen ist dies eine unzumutbare Härte für Hunde, die bisher überhaupt nicht auffällig geworden sind. Vor allem verkennen Gesetzgeber zudem, dass Hunde, die über Maulkorb- und Leinenzwang nur äußerst eingeschränkt ihr Kommunikationsrepertoire mit anderen Hunden einsetzen und trainieren können, hierdurch erst über Kommunikationsmissverständnisse gefährlich werden können und in vielen Fällen dadurch gefährliche Situationen erst entstehen und geradezu heraufbeschwören!

9. Lösungswege zu einem ver­antwortungsvollen und damit sichereren Umgang mit unseren ­Hunden
Wie ausgeführt, fördern Rasselisten insofern sogar Beißvorfälle, da sie verhindern, dass Hundehalter sich für den Sozialpartner Hund – per Gesetz verordnet – qualifizieren müssen, was seit etwa drei Jahren in der Schweiz bereits obligatorisch ist! Selbstverständlich müssen wir lernen, Hunde in ihrem Ausdrucksverhalten, in ihrer Vokalisation, kurzum in ihrer gesamten Verhaltensbiologie durch profundes Fachwissen zu verstehen!

Zum einen ist das Ausdrucksverhalten von Hunden in den ­Grundstrukturen genetisch fixiert. Es muss aber lebenslänglich in fein-nuancierten und differenzierten Abstufungen – nennen wir es „Fine- Tuning" –, nicht nur im Prägungslernen, weiterentwickelt und verfeinert werden. Einmal im Umgang mit anderen Hunden, aber auch mit uns Menschen! Es sind also lebenslängliche Kommunikationsübungen bzw. Erfahrungen auch in der „artübergreifenden Kommunikation" zwischen Hund und Mensch dringend notwendig! Und obwohl dies gesellschaftlich längst bekannt ist, werden vom Gesetzgeber immer noch keine Qualifikationen für Hundehalter oder ein Schulfach „Heimtierkunde" verlangt!

Ebenso wird völlig unverständlicherweise nach wie vor auf ein Heimtierzuchtgesetz verzichtet. Dies, obwohl auch die Zusammenhänge von Zucht, Gesundheit und Verhalten bei Hunden längst bewiesen sind. Dies betrifft nicht nur Formen der Qualzucht, sondern ist auch bei Fellfarben oder Tüpfelungen relevant (z. B. beim ­Dalmatiner). Damit geht der Aufruf an Bürger, Hundehalter und Gesetzgeber: Nehmt Hunde ernst – lernt Hunde zu verstehen und schützt Hunde vor menschlicher Willkür!

Ergreifen wir als Menschen die ­Chance für einen wunderbaren Dialog im Hund- Mensch-Team, geprägt von gemeinsamem Lernen mit Achtsamkeit, Liebe und Respekt! Dann kann die Mensch- Hund-Beziehung zu einer einzigartigen Super-Symbiose werden!

ÜBERSICHT
In zwei Teilen behandelt der Artikel von Dr. Wardeck-Mohr folgende Fragestellungen. Hier die Themenübersicht.

Ausgabe WUFF 9/2012:
1. Prolog: Betrachtungen aus der Psychoanalytik zu Stigmatisierung und Kriminalisierung bestimmter Hunderassen

2. Was ist unter „faktisch gefähr­lichen Hunden" zu verstehen – und worin unterscheiden sich davon unhaltbare Spekulationen über eine mutmaßende Gefährlichkeit einer Hundepersönlichkeit? Welche Kategorien von „gefährlichen Hunden" gibt es?

3. Häufigste Ontogenesen (Entwicklungen) bei gefährlichen Hunden

4. Wie agieren faktisch gefährliche Hunde?

Ausgabe WUFF 10/2012:
5. Hundliches Normalverhalten in seinen Funktionskreisen unter besonderer Berücksichtigung von Agonistik, also Kampf-, Droh- und Fluchtverhalten

6. Aggressionsverhalten von Hunden in den Eskalationsstufen richtig verstehen und Abgrenzung zu „inadäquater Aggression"

7. Häufigste menschliche Fehler im Umgang mit Hunden und „Was tun Menschen nicht alles, um gebissen zu werden?"

8. Weshalb Hunderasselisten „Ge-fahrenabwehr" verhindern und Scheinsicherheit vorgaukeln

9. Wege zum verantwortungsvollen und damit sichereren Umgang mit Hunden

HINTERGRUND

Aggression und Aggressivität
Der Irrtum beginnt damit, dass Aggression und Aggressivität von vornherein negativ besetzt sind, obwohl – wie bereits angesprochen- Konrad Lorenz bereits in den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem Werk :„ Das sogenannte Böse" ein Plädoyer für die unabdingbare verhaltensbiologische Notwendigkeit der Aggression als Bestandteil zum Überleben hielt!

Aggressives Verhalten bei Hunden wird sogleich mit „ihrer Gefährlichkeit" gleichgesetzt. Dies aber ist keinesfalls zutreffend, da Hunde ausgezeichnete „Konfliktlöser" sind, die ihre Aggressivität statistisch gesehen weitaus besser unter Kontrolle haben als wir als Menschen. Dies, soweit wir als Menschen Hunden nicht durch Zucht, Haltungs- und Ausbildungsfehler massiv Fehler induziert haben und nicht in das Sozialverhalten eingegriffen bzw. dies zerstört haben.

In der Wissenschaft gibt es eine Vielzahl an Definitionen von Aggression, wobei insbesondere zwischen adäquater und kontrollierter Aggression – also verhaltensbiologisch sinnvoller und normaler Aggression – und inadäquater unterschieden werden muss! Bei einer inadäquaten Aggression erfolgt z. B. keine Aggressionskontrolle mehr, wenn Hunde unvermittelt und ohne jede Vorwarnung zubeißen.

Häufigste Fehler im Umgang mit Hunden
Wir sollten uns stets vor Augen ­halten: Hunde und Wölfe erziehen ihren Nachwuchs konsequent, spielerisch, liebevoll und gewaltfrei. Im Folgenden ein ­Auszug der häufigsten Fehler von Menschen im Umgang mit Hunden.

  1. Das Ausdrucksverhalten von ­Hunden nicht einmal in Grundzügen erlernen und/ oder zudem nicht beobachten oder gar ignorieren.

  2. Hunde bedrohen, indem sich oft noch Fremde über sie beugen und streicheln wollen.

  3. Distanzunterschreitungen, obwohl der Hund signalisiert „komm nicht näher!" oder „Du bist schon zu nahe!"

  4. Wenn Kinder sich schreiend ­Hunden nähern oder sich vor ihnen auf den Boden werfen.

 5. Hunde als „Erfüllungsgehilfen" ohne Respekt und Einfühlungsvermögen betrachten.

 6. Hunde nach dem Exterieur und nicht nach der Fragestellung auswählen: "Welcher Hund passt zu mir und welche Grundbedürfnisse hat er?"

 7. Keine Vorinformation über den Hund und seine Biografie ein­holen.

 8. Die Funktionskreise von hundl­ichem Normalverhalten nicht verstehen und/ oder missachten.

 9. Ausdruckssignale der Agonistik bei einem Hund von vornherein gleichsetzen mit „Gefährlichkeit eines Hundes" und darauf noch mit Panik, Hysterie oder Maß­regelung des Hundes reagieren.

10. Gewalttätige Haltungs-, Aus­bildungsmethoden, wie z. B. über Teletakt ( Stromfolter), Würger, Stachelhalsbänder etc. Dies alles sind tierschutzrelevante ­Methoden- auch mit strafrecht­licher Konsequenz!

11. Hunden Deprivation, d. h. Reiz­entzug zumuten, über isolierte Haltung, ohne Sozialkontakte, ohne Ansprache, auch über ­restriktive Zwingerhaltung.

12. Hund überfordern, mit Lärm, Menschen, Stressoren, ihm keine Rückzugsmöglichkeiten ge­währen. Gezeigte Stress-­Signale „über­fahren".

13. Auf das Verhalten des Hundes zu spät und falsch reagieren. ­Hunde können nur innerhalb von 2-3 Sekunden zu ihrem Ver­halten Lob oder Tadel verknüpfen. Oft werden Hunde auch noch für ­„richtiges Verhalten" bestraft.

14. Übertragung von ­eigener ­schlechter Laune, übler ­Stimmung, Angst, Stress auf den Hund.

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