Es gibt wohl kaum ein Thema, über welches häufig – meist emotional diktiert und fachlich unsachlich – so vehement diskutiert wird wie über das Thema „Gefährliche Hunde", kaum ein Thema, das derart die Gemüter mit wilden Spekulationen erhitzt. Spekulationen allerdings stiften nur Verwirrung und sorgen dafür, dass sich unsere Gesellschaft ihrer Verantwortung gegenüber Hunden weiterhin – und weitgehend – entzieht. Dr. Wardeck-Mohr über den Mythos von „gefährlichen Hunden" – und weshalb faktisch gefährliche Hunde die Ausnahmen sind.
Hunden wird leider allzu oft ein Normalverhalten nach verhaltensbiologischen Kriterien schlichtweg abgesprochen. Hinzu kommt, dass populistische Spekulationen und reißerische Medienberichte über die angebliche Gefährlichkeit bestimmter Hunderassen Grundlage für eine überwiegende Anzahl von Landeshundegesetzen in deutschen und österreichischen Bundesländern, wie auch in Schweizer Kantonen darstellen, obwohl dies wissenschaftlich längst – und zwar weltweit – völlig ad absurdum geführt wurde!
1. Prolog
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit uns die Psychoanalytik bei der Diskussion über sogenannte „gefährliche Hunde" mit einer gesellschaftlichen „a-priori-Stigmatisierung allein aufgrund von Rassezugehörigkeit" weiterhelfen kann.
Fakt ist: In der Humanpsychologie sind Schuldzuweisungen eines Täters gegenüber Opfern, etwa wie „Du hast mich provoziert oder zuerst angegriffen" oder sogar „Du hast es verdient" nichts Neues. Damit erfolgt eine Rechtfertigung für das eigene Fehlverhalten; dies ohne Einsicht oder gar Reue. Eine Überprüfung des eigenen Verhaltens scheidet ebenfalls aus. Verantwortung wird damit für die Tat auch nicht übernommen! Tritt nun auch noch eine „Vorverurteilung" gegenüber anderen Individuen oder Gruppen auf , so wird nach „Erfüllung des Vorurteils" im Sinne des „Andorra-Phänomens" von Max Frisch gesucht. Dies bedeutet abgewandelt auf unsere Hunde: Ein Verhalten, welches jemandem zugeschrieben wird, soll sich erfüllen. Dies bedeutet, dass Gesellschaft wie auch Medien die vermeintliche Gefährlichkeit von „stigmatisierten Rasselistenhunden" durch einseitige Diskussionen und reißerische Berichterstattung zu belegen versuchen: Dies obwohl faktisch „gelistete Hunderassen" statistisch eine völlig untergeordnete Rolle bei Beißvorfällen spielen. Gefasste Vorurteile werden dabei sachlich nicht überprüft oder gar nicht infrage gestellt. Nun stellt sich quasi gesellschaftlich überhaupt nicht mehr die Frage: „Wie qualifiziere ich mich als Sozialpartner für Hunde?"
Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen: Es beginnt bereits damit, dass Kinder mit dem Märchen wie „Rotkäppchen und der BÖSE WOLF" mit Stigmatisierungen in Angst und Schrecken versetzt werden. Was für ein wissenschaftlich unhaltbarer und unverantwortlicher Unsinn! Mit der Folge, dass Wölfe weltweit gnadenlos verfolgt und regional sogar ausgerottet wurden. Wölfe sind ausgesprochen freundliche und soziale Raubtiere, bei denen der Mensch nicht „auf der Speisekarte" steht. Leider werden nach wie vor Wölfen all diejenigen Eigenschaften angedichtet, die vielmehr menschliches Verhalten charakterisieren können, wie hinterhältig, verschlagen und gefährlich.
Anthropologen (d. h. Menschenkundler) weisen seit Cicero nachdrücklich auf die ungezügelte Gewaltbereitschaft der Spezies Mensch hin. Eine Spezies, die als Konfliktlöser unter den Säugetieren weit hinter den Caniden steht. Ja tatsächlich, Wölfe und Hunde sind Konfliktlöser, von denen wir lernen können! Dies bestätigt auch David Mech bei seinen 13 Jahren Wolfsbeobachtungen im kanadischen Ellesmere Island: In geschlossenen Wolfsrudeln beobachtete er in 13 Jahren keinen einzigen Beschädigungskampf. Das wäre bei Menschen hingegen wohl kaum vorstellbar!
2. Was aber sind „gefährliche Hunde" – wie erkennt man sie?
In der Beurteilung „gefährlicher Hunde" ist zwingend zu unterscheiden zwischen
2.1.
sogenannten „vermutet gefährlichen" Hunden, eine Vermutung, die durch nichts bewiesen wird und also eine Vorverurteilung darstellt.
2.2.
Hunden, die aufgrund von sinnvollem und überlebensnotwendigem verhaltensbiologischen Inventar in jenen Situationen zubeißen, in denen sie sich oder ihren Halter in äußerster Bedrängnis und zur Verteidigung veranlasst sehen oder dann, wenn ihre Ausdruckssignale wie z. B. „Halte Abstand!" ignoriert werden. Bereits Konrad Lorenz wies vor über 50 Jahren auf diese Zusammenhänge hin und hob hervor, dass Aggressivität als normales sinnvolles verhaltensbiologisches Inventar zu begreifen ist.
Wie kommen Menschen nur immer wieder auf die Idee, dass Hunde kein Interesse am eigenen Überleben haben, z.B. wenn sie in schwerster Form provoziert und genötigt werden? Dies z.B. sogar auch bei behördlich angeordneten Wesenstests bei Hunden, die häufig nur tierschutzrelevant und ein Fall für den Staatsanwalt sind, was bedeutet, dass von der Tatbestandszuordnung die Voraussetzungen für ein Ermittlungsverfahren gegeben sind. Zahlreiche Subtests bei Wesenstests verstoßen gegen geltendes Tierschutzrecht, indem sie Hunde schwerstens provozieren oder nötigen: So werden Hunde z.B. dabei angebunden und neben ihnen werden Stockschläge ausgeführt. Auch wenn diese Tests so gut wie nie zur Anzeige gebracht werden, sind und bleiben sie ein Fall für den Staatsanwalt. Hingegen versagen diese Tests aber häufig völlig darin zu klären und testen, was zu testen ist, nämlich ob ein Hund ein unkontrolliertes und inadäquates Aggressionsverhalten zeigt.
2.3.
temporärer Gefährlichkeit eines Hundes, z.B. aufgrund von schmerzbedingten Aggressionen, hormonellen Dysfunktionen (Schilddrüse) oder limbischer Epilepsie u.a. gesundheitlichen Problemen. Statistisch gesehen, stehen etwa 40 % der unvermittelt auftretenden Beißvorfälle mit gesundheitlichen Problemen im Zusammenhang (S. Schroll, J. Dehasse. Verhaltensmedizin beim Hund, Enke Verlag 2007).
2.4.
faktisch gefährlichen Hunden: Bei faktisch und erwiesenermaßen gefährlichen Hunden liegen meist sehr vielfältige und unterschiedliche Genesen (Entstehungszusammenhänge) zugrunde. Diese Zusammenhänge sind stets individuell und bezogen auf eine einzelne Hundepersönlichkeit.
3. Hauptursachen und Entstehungszusammenhänge (Ontogenesen) bei faktisch gefährlichen Hunden
Die Entstehungshintergründe von faktisch gefährlichen Hunden sind multifaktoriell, zeigen aber in ihren Entstehungszusammenhängen durchgängig folgende Hauptursachen:
1.
Dazu gehört, dass Hunde isoliert, ohne Ansprache oder nur in „Kommandosprache" in Zwingern oder sogar in Heizungskellern gehalten werden. Sogenante Deprivationserscheinungen (Reizarmut/ Reizentzug) entstehen insgesamt, wenn die soziale Beziehung zwischen Mensch und seinem Hund entfällt, ebenso, wenn Hunden Kommunikationserfahrungen mit anderen Hunden weitestgehend verwehrt werden. Wir sollten niemals vergessen, Hunde sind hochintelligente und hochsoziale Lebewesen.
2.
Weiterhin führen gewaltsame Erziehungs- und Ausbildungsmethoden zu einem erheblichen Gefährdungspotenzial bei Hunden. Auch emotial instabile menschliche Kommunikationsmuster können bei Hunden die Berechenbarkeit von deren Verhaltensweisen negativ beeinflussen. In diese Zusammenhänge sind auch für den Hund als schwerwiegend angstbesetzte Situationen oder permanenter Stress zu stellen.
3.
Kommunikation und Sozialspiel unter Hunden ist für Hunde deshalb so notwendig, damit ihr differenziertes Kommunikationsrepertoire immer wieder eingeübt werden kann. Dies auch, um adäquat in Konfliktsituationen anderen Hunden „antworten" zu können. Also eine Art Lebensschule und „Lebensversicherung".
4.
Bei der Hundehaltung ist auch darauf zu achten, dass unkontrolliert geführte Rivalitäten oder Konflikte mit anderen Artgenossen von menschlicher Seite her unterbunden werden. Auch in diesem Kontext geschehen häufig schwerwiegende Beißvorfälle.
5.
Es gilt grundsätzlich seinen Hund gut zu beobachten, um ihn in seiner „Agonistik" (Kampf-, Droh- und Fluchtverhalten, wie auch den Eskalationsstufen bei Konflikten) einschätzen zu können. Dies gehört zu einer „vorausschauenden" und verantwortungsvollen Hundehaltung zwingend dazu. Statistisch ist längst bewiesen, dass auch das individuelle Mensch-Hund-Team eine hervorragende Stellung einnimmt, hinsichtlich der Frage, ob ein besonderes Gefährdungspotenzial besteht.
6.
Weiterhin sind (für den Hund unberechenbare und/oder unkontrollierte) menschliche Stimmungsschwankungen und deren Übertragung auf den Hund nicht zu unterschätzen: Insbesondere, wenn der Hund diese überhaupt nicht mehr ein- bzw. kontextbezogen zuordnen kann und ihm damit auch die Sicherheit im Sozialgefüge mit seinen Menschen geraubt wird!
Somit betonen Hunde-Experten und Wissenschaftler immer wieder die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten hinsichtlich des Gefahrenmoments bestimmter „ Mensch- Hund- Konstellationen", welches einen bestimmten Hund gefährlich werden lassen kann. Hier ist auch keinesfalls nur an Mensch-Hund-Teams aus dem „Milieu" zu denken oder an Hunde, die einem „Hyperaggressionsdrill" unterworfen wurden.
4. Wie agieren faktisch gefährliche Hunde?
Faktisch gefährliche Hunde können sich insbesondere durch unvermittelte Angriffe bzw. Beißattacken äußern, die nicht durch das Ausdrucks-
verhalten in Etappen kommuniziert werden. In diesem Fall werden normale Eskalationsstufen (siehe Kasten auf Seite 20) nicht eingehalten. Eskalationsstufen sind sozusagen das „Frühwarnsystem" bei Hunden und dienen dazu, Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen. Unberechenbare Verhaltensmuster hingegen liegen außerhalb der verhaltensbiologisch normalen Eskalationsstufen.
Hundliches Normalverhalten ist äußerst komplex und unterliegt vielfältigen Zusammenhängen, wie z.B. ethologischen Funktionskreisen für hundliches Verhalten, Umwelteinflüssen, Gesundheitszustand, Sozialpartnern oder dem aktuellen Stresslevel.
Aggressivität ist nicht Gefährlichkeit
Bereits Konrad Lorenz wies vor etwa 60 Jahren in seiner Veröffentlichung „Das Sogennante Böse" darauf hin, dass Aggression überlebensnotwendige Funktionen erfüllt, wie z. B. zur Selbstverteidigung eines Tieres, Territorialverteidigung oder maternale Verteidigung (Verteidigung der Welpen).
Insbesondere um „hundliches Normalverhalten" in seinen Funktionen und Funktionskreisen geht es im 2. Teil des Beitrags im nächsten WUFF.
Hintergrund
Eskalationsstufen
Eskalationsstufen bei Hunden haben die Bedeutung, Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen. Nach Dorit Feddersen-Petersen gibt es folgende sechs Stufen.
1. Distanzdrohen, Zähneblecken
2. Distanzunterschreitung, Abwehrschnappen
3. Drohen mit Körperkontakt, über die Schnauze beißen
4. Queraufreiten, Runterdrücken
5. Anrempeln, gehemmte Beschädigung
6. Beißen, Beißschütteln, Töten