Eine Metaanalyse der Risikofaktoren

Von Dr. Hans Mosser

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Einführung
Die mediale Landschaft des deutschsprachigen Raumes ist derzeit in hohem Maße von der Thematik der Hundebeißunfälle geprägt. Was dabei erschreckt, ist einerseits die Unseriosität der Berichterstattung und andererseits die Vermittlung des Eindrucks, dass diese Art von Unfällen an Anzahl und Ausmaß zunimmt, insbesondere auch in Relation zu anderen Gefahren im Kindes- und Jugendalter. Unter Berücksichtigung anerkannter Unfallstatistiken (Lit.1) ist dies aber nicht der Fall. Neue Hundeverordnungen in Österreich und Deutschland postulieren eine Gefährlichkeit von Hunden und schüren Angst in der Bevölkerung (Lit.2,3). In Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung resultiert daraus nicht selten ein pathologisches Verhalten der Öffentlichkeit gegenüber Hunden. Darin liegt eine große Gefahr, weil dadurch Hunden zunehmend soziale Begegnungen mit anderen Menschen erschwert werden, die aber für eine gute soziale hundliche Entwicklung wichtig und Voraussetzung für Normalverhalten und Ungefährlichkeit sind. Andererseits wird dadurch vielen Menschen, vor allem Kindern besorgter Eltern, die Gelegenheit genommen, die beglückenden und die kindliche Entwicklung fördernden Auswirkungen des Zusammenseins mit Hunden zu erleben (Lit.4-7). Es ist Ziel dieser Arbeit, publizierte Untersuchungen zum Thema Hundebeißunfälle bei Kindern und Jugendlichen nach den wissenschaftlichen Kriterien einer Metaanalyse in Bezug auf Charakteristika der involvierten Parameter (Hund, situative Bedingungen, Unfallopfer) auszuwerten. Die Ergebnisse dieser Auswertung können als Bestandteil einer Unfallanalyse in der Prävention Anwendung finden.

Material und Methodik
Die Durchführung einer Metaanalyse mit der Fragestellung nach Risikofaktoren von Unfällen im Kindes- und Jugendalter mit Hunden stellt die Grundlage dieser Arbeit dar. Sie beinhaltet eine Recherche der wissenschaftlichen Literatur zu Hundebeißunfällen, vor allem in den Bereichen Medizin (insbesondere Pädiatrie und Epidemiologie), Psychologie, Veterinärmedizin und Ethologie (Lit.8-32). Relevante Primärananalysen wurden nach den in Tabelle 1 angeführten Kriterien für die Metaanalyse ausgewählt. Besonderes Augenmerk wurde auf die Validität der Population sowie der Variablen gelegt, um trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen, der mangelhaften Standardisierung und der Heterogenität der Datenaufnahme der Primärstudien verlässliche und relevante Ergebnisse zu erhalten.

Tabelle 1: Einschlusskriterien primäranalytischer Studien für die Metaanalyse
– Definition des Hundebeißunfalls als Hundebiss, dessen Opfer ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt.
– Längsschnittstudie mit wissenschaftlicher Analyse von Hundebissverletzungen im Kindes- und Jugendalter.
– Analyse aus einer Institution, die sich überwiegend mit pädiatrischen Patienten befasst (Kinderambulanz, Kinderkrankenhaus).
– Analyse aus dem europäischen und angloamerikanischen Sprachraum (ähnliche „westliche Kultur“).
– Objektivierbares Beobachtungsverfahren (Fragebogen, Checklisten, Ratings, schriftliche Interviews etc.) relevanter Parameter.

Von den in allen Primärstudien untersuchten zahlreichen Parametern wurden nur die in Tabelle 2 angegebenen in vergleichbarer Weise analysiert, da sie eine ausreichend hohe Validität besitzen, um in die Metaanalyse einbezogen werden zu können.

Tabelle 2: Paramter der Primärstudien mit hoher Validität
– Alter des Kindes (Unfallopfer)
– Geschlechtsverhältnis
– Bekanntheitsverhältnis zum Hund
– Fehlen oder Vorhandensein einer Provokation (das Unfallereignis erkennbar auslösende Ursache)

Ergebnisse
Die Ergebnisse der Metaanalyse sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Die Auswertung der 25 Primärstudien ergab ein Gesamtkollektiv von 7.261 untersuchten Unfällen mit Hundebissen bei Kindern. In Bezug auf die in Tabelle 2 angeführten Parameter ergab die Analyse folgende Daten:
– Alter und Geschlecht des kindlichen Unfallopfers
Das durchschnittliche Alter des kindlichen und jugendlichen Unfallopfers beträgt 7 Jahre und 1 Monat (0,8 – 17 Jahre). Das Verhältnis von Buben zu Mädchen ist 1,5 : 1.
– Bekanntheitsverhältnis zum Hund
In 79,5% (75 – 91%) war der Hund dem kindlichen Unfallopfer bekannt. In 64% (46 – 75%) der Fälle erfolgte die Beißverletzung durch den eigenen Familienhund im eigenen Haushalt.
– Unfallauslösende Provokation
In 62,4% (40 – 88%) war der Unfall provoziert, d.h. es wurde ein den Unfall vermutlich auslösender Parameter angegeben, wie Spielen, Störung beim Fressen, Streicheln, plötzliches Aufwecken aus dem Schlaf, sowie Necken oder Quälen des Hundes. Eine tiefer gehende Analyse der einzelnen Auslösungsparameter bzw. deren Prozentangaben lässt sich aufgrund der Heterogenität der Primärstudien in Bezug auf diese Merkmale nicht verlässlich angeben, am häufigsten werden jedoch Spielen und Störung beim Fressen als Ursachen genannt.

Tabelle 3: Ergebnisse der Metaanalyse
1. Unfallopfer – Alter und Geschlecht:
Alter 7 Jahre, 1 Monat (0,8 – 17 Jahre), m : f = 1,5 : 1
2. Bekanntschaftsverhältnis zum Hund:
In 64% (46 – 75%) erfolgte die Bissverletzung durch den eigenen Familienhund im eigenen Haushalt, in 79,5% (75 – 91%) war der Hund dem Kind bekannt
3. Situative Bedingung:
Unfallauslösende Provokation in 62,4% (40 – 88%)

Diskussion
Hundebeißunfälle sind ein vermeidbares Gesundheitsproblem (Lit.15). Rechtsmediziner fordern eine Beurteilung der situativen Bedingungen eines Beißunfalles (Lit.33). Übereinstimmend damit fordert eine amerikanische Arbeitsgruppe aus Tierärzten, Psychologen, Kinderärzten, Hundeexperten u.a. Fachleuten (Lit.34) für die Analyse von Beißunfällen durch Hunde eine Beurteilung der in Tabelle 4 angeführten Parameter.

Tabelle 4: Analyseparameter von Beißunfällen durch Hunde
– Charakteristika von Hund und Halter
– Merkmale des Unfallopfers
– Situation und genaue Umstände des Unfalles
AVMA 2001 (Zit.34)

Die Ergebnisse der Metaanalyse können auf einige grundsätzliche, wenngleich mangels verwertbarer Daten der Primärstudien nicht alle, Parameter dieser Forderungen Anwendung finden. Folgende Punkte sind unter Berücksichtigung der in Tabelle 3 angegebenen Ergebnisse wissenschaftlich abgesichert:

1. Alter des Unfallopfers: Primärer Ansatzpunkt der Unfallprävention mittels Informationsvermittlung müssen daher Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter sein. Ist Einsicht in eine diesbezügliche Belehrung noch nicht verlässlich möglich (Kleinkinder), dürfen Kinder und Hunde nicht unbeaufsichtigt zusammen gelassen werden.

2. Bekanntheitsverhältnis des Unfallopfers zum Hund: Da die meisten Beißunfälle zu Hause oder im Haus des Nachbarn stattfinden, müssen Präventionsmaßnahmen derart gestaltet sein, dass sie zu Hause angewendet werden können. Leinen- und Maulkorbpflicht als häufig geforderte Mittel sind also keine effizienten Maßnahmen und täuschen eine Scheinsicherheit vor.

3. Unfallauslösende Provokation: Da Hundebeißunfälle sehr häufig – absichtlich oder unabsichtlich – provoziert werden, ist eine Beratung und Schulung des potenziellen Unfallopfers von entscheidender Bedeutung. Anzustreben ist das Wissen, dass Lebewesen keine Spielzeuge sind und gewisse Regeln im Zusammenleben mit Hunden respektiert werden müssen. Aber auch bei Eltern zeigt sich ein oft erschreckendes Ausmaß an Unwissen über hundliches Verhalten, sodass sowohl Kinder wie auch ihre Eltern als Primärzielgruppe für Informationsvermittlung zu gelten haben.

Diese Metaanalyse konnte – um im wissenschaftlich gesicherten Raum zu bleiben – nur die für eine derartige Auswertung geeigneten Parameter erfassen. Weitere relevante Angaben zur situativen Bedingung, unter welchen ein Beißunfall auftreten kann, darunter beispielsweise die Frage, ob ein Kleinkind während des Beißunfalls allein mit dem Hund gewesen ist, waren praktisch nicht verlässlich zu erhalten und daher auch nicht auswertbar. So wichtig das Wissen um den genauen Unfallhergang auch ist um Prävention zu betreiben, so ungenau und teilweise bewusst unrichtig werden Angaben gemacht, da sich beispielsweise Eltern nicht dem Vorwurf versäumter Aufsichtspflicht mit den entsprechenden rechtlichen Konsequenzen aussetzen wollen. Wissenschaftlich gesicherte Daten zu diesen Fragen sind daher nicht zu erhalten.

Eine ausführliche Darlegung von Möglichkeiten der Unfallprävention auf Seiten des Hundes und des Hundehalters (in vielen Fällen die Eltern des Unfallopfers), sowie konkrete Informationen zu den in der Metaanalyse angesprochenen Punkten werden andernorts abgehandelt (Lit.35).

Schlussfolgerung
Von den in der Metaanalyse untersuchten Parametern konnten wissenschaftlich gesicherte Daten erhalten werden, die sich auf das Alter des Unfallopfers, das Bekanntschaftsverhältnis zum Hund und die situative Bedingung des Unfalls beziehen. Unter Einbeziehung der Quellen der Verhaltensforschung (Tierpsychologie) sowie der Humanpsychologie lassen sich diese Ergebnisse konkret interpretieren und als weiterführende Ansatzpunkte für die Unfallprävention von Beißunfällen im Kindes- und Jugendalter verwenden.

>>> ZUSAMMENFASSUNG

Zusammenfassung

In einer Metaanalyse wurden 25 Primärstudien zum Thema Hunde-Beißunfälle im Kindes- und Jugendalter in Bezug auf Charakteristika der involvierten Parameter (Hund, situative Bedingungen, Unfallopfer) ausgewertet. Ziel der Arbeit war die Identifikation von Risikofaktoren als Basis für eine suffiziente Unfallprävention. Aufgrund der großen Heterogenität und fehlenden Standardisierung der untersuchten Variablen der Primäranalysen besaßen nur die folgenden Daten ausreichend hohe Validität, um in die Metaanalyse inkludiert werden zu können: Das Alter und das Geschlecht des kindlichen Unfallopfers, das Bekanntheitsverhältnis des Kindes zum Hund und die Frage nach einer unfallauslösenden Provokation. Die Metaanalyse der 25 Primärstudien in Bezug auf diese Parameter führte zu folgenden Ergebnissen:

1. Das durchschnittliche Alter des Unfallopfers betrug 7 Jahre und 1 Monat (0,8 – 17 Jahre), und das Geschlechtsverhältnis Buben zu Mädchen betrug 1,5 : 1.
2. In 64% (46 – 75%) erfolgte die Beißverletzung durch den eigenen Familienhund im eigenen Haushalt, in 79,5% (75 – 91%) war der Hund dem Kind bekannt.
3. In 62,4 % (40 – 88%) ließ sich eine unfallauslösende Provokation nachweisen.

Unter Einbeziehung der Quellen der Verhaltensforschung (Tierpsychologie) und der Humanpsychologie lassen sich diese Ergebnisse interpretieren, und können als Ansatzpunkte für die Prävention von Hunde-Beißunfällen im Kindes- und Jugendalter dienen.

Schlüsselwörter: Unfallprävention, Kinder, Hunde, Beißunfall, Metaanalyse

>>> LITERATUR

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