Ein Todesfall, ein Unfall, der viele Fragen aufwirft. Ein Soldat und Diensthundeführer wird von einem ihm gut bekannten Diensthund mehrfach gebissen und tödlich verletzt. Wie kann es zu einem solchen Vorfall kommen? Was ist passiert? WUFF war vor Ort und hat sich ein Bild von der Situation gemacht. Wir wagen einen Versuch, das Geschehene aufzuarbeiten und mit Experten zu analysieren.
Die Zeit schien stillgestanden zu sein, als mich die Presseagentur APA für ein Interview anrief und mir mitteilte, dass zwei Militär-Diensthunde einen Hundeführer getötet haben sollen. Ich war zunächst einmal schockiert und dann betroffen. Dennoch gab ich ein erstes Telefoninterview. Kurz danach läutete mein Telefon im Minutentakt. Obwohl nahezu ununterbrochen Menschen durch Unfälle sterben, scheint dieser tragische Fall bei den Medien ein enormes Interesse hervorgerufen zu haben.
Es war später Nachmittag am 13. November 2019, als die Tragödie ihren Lauf nahm. Die Hunde-Einsatzgruppe des Militär-Jagdkommandos der Flugfeldkaserne in Wiener Neustadt war gerade bei einer externen Übung in einem anderen Bundesland. Der Soldat Dominik R. war an diesem Tag für die Betreuung, den Auslauf und die Fütterung der Hunde zuständig. Beim Jagdkommando hat zwar jeder Hundeführer einen eigenen Hund, allerdings arbeitet jeder Militärhundeführer grundsätzlich auch mit jedem anderen Hund aus dem Team. Der eigene Diensthund des 31-Jährigen blieb in seinem Fahrzeug zurück, während er zu den Zwingeranlagen ging.
Die Diensthunde werden im Übrigen in der Regel von den Hundeführern abends mit nach Hause genommen, wo sie in einem gesicherten Zwinger beim Privathaus untergebracht sind. Die Zwingeranlagen auf dem Kasernengelände dienen in erster Linie der Verwahrung tagsüber, wenn mit den Hunden gerade nicht trainiert wird bzw. wenn die Hundeführer – wie im gegenständlichen Fall – bei einer externen Übung sind, bei der die Hunde nicht dabei sind.
Wie konnte es zu so einem tragischen Unfall kommen?
Der 31-jährige Dominik R. war ein erfahrener Hundeführer und kannte die beiden Malinois Hati und Ragna gut. Am 13. November geht er gegen 17 Uhr zu den Zwingeranlagen, um die Hunde zu versorgen. Was dann genau passierte, kann niemand sagen, man kann es nur aufgrund der Faktenlage rekonstruieren bzw. Vermutungen anstellen. Zuerst dürfte er vermutlich den sieben Monate alten Malinois Ragna aus dem Besucherhunde-Zwinger gelassen haben. Dieser Hund befand sich noch in der Beobachtungsphase, in der erst einmal beurteilt wird, ob er sich überhaupt als Zugriffshund eignet. Dies war bei Ragna übrigens nicht der Fall. Der junge Hund zeigte laut seinem Ausbilder kein adäquates Griffverhalten und sollte daher aus dem Militärdienst ausgeschieden werden. Er spielt in diesem Fall daher auch nur eine Nebenrolle.
Vermutlich erst danach ging Dominik R. weiter zum Zwinger des zum Zugriffshund ausgebildeten bald 2,5-jährigen Malinois Hati und ließ diesen auf das eingezäunte Areal vor den Zwingeranlagen, wo die beiden Hunde dann miteinander herumliefen. Neben den Zwingeranlagen befindet sich eine Wiese, die als Auslauf für die Hunde und zu Trainingszwecken genutzt wird. Am Weg zu dieser Wiese muss ein rund zehn Meter hoher Erdwall umgangen werden. Hier werden die Hunde vermutlich bereits vorausgelaufen sein und Dominik R. wird ihnen gefolgt sein. Die hellen Scheinwerfer des nebenan gelegenen ehemaligen Munitionsdepots leuchteten teilweise hinter den Erdwall.
Es ist zwar nur Spekulation, aber so könnte es sich laut den Ausführungen von Experten des Bundesheeres abgespielt haben: Der Hundeführer Dominik R. hatte sich möglicherweise außerhalb des Lichtkegels im Dunkeln befunden. Die Hunde hingegen waren bereits im hellen Lichtkegel und dürften auf den noch im Dunkel befindlichen Hundeführer zugelaufen sein. Um den 45 Kilogramm schweren Hund Hati abzuwehren, könnte Dominik R. sein Knie angehoben haben. Das ist üblich, um ein Hochspringen des Hundes bzw. eine Kollision mit dem gestreckten Knie zu verhindern. Bei diesem für den Hund möglicherweise schmerzhaften Zusammenstoß könnte es zu einer Eskalation gekommen sein. Hati hat in dieser Situation vielleicht Dominik R. nicht mehr als Hundeführer, sondern als Gegner (der ihm Schmerz zufügt) angesehen und ihn in den Arm gebissen. Wer allerdings weiß, was eine Hundenase zu leisten vermag, kann eine solche Version des Geschehens nicht ganz nachvollziehen. Dass der Hund den ihm bekannten Hundeführer nicht erkannt haben sollte? Aber man versucht eben, eine plausible Erklärung zu finden.
Unfall erst spät bemerkt
Erst in der Nacht gegen 00:55 bemerkte der diensthabende Offizier vom Tag die zwei freilaufenden Belgischen Schäferhunde. Sie sollen schnell auf ihn zugelaufen sein und ihn gestellt haben. Der Offizier konnte sich dennoch in ein Wachlokal retten und erreichte nach mehreren Telefonaten um 01:22 einen Hundeführer, der die beiden Hunde wieder einsperrte und den toten Kollegen schließlich vor den Zwingeranlagen in einer Blutlache liegend auffand.
Er hatte sichtlich massive Bisswunden erlitten. Kleidungsteile seien über 20 Meter verstreut und überall sei Blut gewesen. Der Soldat und Hundeführer gab bei der ersten Aussage zu Protokoll: »Ich habe gesehen, dass sein Körper richtig zerfetzt und teilweise auch abgenagt war. Er hatte lediglich noch seine Hose, die bis unter den Knien heruntergezogen war, an«.
Was sind Zugriffshunde?
Zugriffshunde unterscheiden sich im Wesentlichen von anderen Diensthunden, insofern sie für Spezialeinsätze ausgebildet werden und Menschen (Angreifer, Terroristen etc.) beißen – oder wie es heißt, unschädlich machen – sollen. Diensthunde, die etwa für die Bewachung militärischer Sperrgebiete oder bei Demonstrationen etc. eingesetzt werden, tragen im Einsatz in der Regel einen Maulkorb und dienen der Abschreckung. Manche dürfen Verdächtige auch stellen und verbellen und im Ernstfall sog. Maulkorbattacken setzen. Der medial bekannte US-Militärhund Conan, der beim Einsatz gegen den Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat, Abu Bakr Al Baghdadi, Ende Oktober des Vorjahres im Einsatz war, ist ebenfalls ein Zugriffshund, wie Hati einer ist.
Diese Zugriffshunde werden darauf trainiert, den Gegner zu »binden« (festzuhalten), indem sie ihn an der ersten für den Hund erreichbaren Stelle beißen. Meist sind das die Extremitäten. Sobald der Hund »den Griff gesetzt«, also den Gegner fixiert hat, verharrt er und wartet, bis einer der Diensthundeführer bzw. die Einsatztruppe kommt und den Gegner festnehmen kann. Im Zuge dessen wird der Hund durch einen Diensthundeführer vom Gegner weggenommen. Das muss nicht immer der eigene Hundeführer sein. Der Hund muss also mit allen Hundeführern seines Teams vertraut sein.
Im Training fungieren manche Hundeführer im Rahmen der Ausbildung als »Feinddarsteller«, im Schutzhundesport auch »Figuranten« genannt. Die Hunde können jedoch die Situation unterscheiden, ob es sich um ein Training oder einen Ernstfall handelt. Wichtig zu erwähnen ist im Zusammenhang mit diesem Vorfall, dass der getötete Soldat Dominik R. nicht als Feinddarsteller agiert hat. Außerdem war der Malinois Hati der sog. Reservehund des Opfers und hat mit ihm regelmäßig trainiert.
Widersprüchliche Aussagen
In den Medien wurde die Tatsache hervorgehoben, dass Hati bereits in der Vergangenheit schon einmal »gezwickt« haben soll. Ein Diensthundeführer erklärte jedoch gegenüber WUFF beim Lokalaugenschein am 29.11.2019, dass dies im Zuge der Ausbildung zum Zugriffshund im jugendlichen Alter des Hundes normal sei, wobei mit »zwicken« ein spielerisches Zwicken in die Jacke gemeint sei, wobei es zu keinerlei Verletzungen komme. Laut Ermittlungsakt beschreibt es der Hundeführer bei seiner ersten Aussage am 14.11.2019 so: »Dieser Hund (Anm. Hati) hat mich im Februar dieses Jahres beim Auslauf schon einmal ohne Grund in den Oberarm und in beide Beine gezwickt.« Bei der zweiten Einvernahme am 21.11.2019 revidiert bzw. erklärt der Hundeführer seine Aussagen von der ersten Befragung. Hund Hati hätte ihn nur deshalb gezwickt, weil er für Hati in der Vergangenheit als Feinddarsteller agiert habe. Auch sollen die Hunde beim Auffinden ganz ruhig mit normalem Verhalten gewesen sein.
Auch bei den Aussagen des Hundeführers von Hati gibt es Diskrepanzen zwischen der ersten und zweiten Einvernahme. Bei der ersten gab er an, dass die Hunde grundsätzlich einzeln und mit Halsband plus Leine ausgelaufen werden. Bei der zweiten Einvernahme fünf Tage später sagt er, dass er seine Aussagen korrigieren möchte. Richtig sei, »dass im eingezäunten Auslaufbereich keine Leinenpflicht besteht«. In diesem Fall hatten beide Hunde weder Halsband noch Leine angelegt.
Der Rechtsanwalt der Familie des Opfers, Dr. Erich Gemeiner, fasst in seiner Presseaussendung vom 25.11.2019 zusammen: »Wenn man jeweils die erste Einvernahme am 14.11.2019 mit der zweiten Einvernahme am 21.11.2019, jeweils die gleiche Person betreffend, vergleicht, dann entsteht unweigerlich der Eindruck, dass die Zeugen für die zweite Einvernahme entsprechend präpariert wurden. Die erste Einvernahme klingt authentisch und wurde durchgeführt, noch bevor die Soldaten die Möglichkeit hatten sich mit Vorgesetzten, Heeresjuristen etc. zu besprechen. Die zweite Aussage hingegen wirkt gekünstelt strategisch, zumal jene Passagen, die eine Verantwortlichkeit des Bundesheeres für den Tod des Opfers begründen würden bzw. die für das Bundesheer wohl kaum genehm sind, entsprechend abgeschwächt und widerrufen werden.«
Beim Lokalaugenschein, an dem WUFF teilgenommen hat, schilderte ein Diensthundeführer den üblichen Ablauf eines Zugriffs. Der Hund beißt den Gegner meist in den Arm und hält ihn fest, bis ein Hundeführer kommt und den Gegner festnimmt. Bei diesem Unfall könnte es so gewesen sein, dass der Hund Hati zuerst in die Hand oder den Arm gebissen hat, woraufhin der Hundeführer ihm ein Kommando zum Loslassen gegeben hat. Obwohl der Hund natürlich durch ein Kommando eines Gegners niemals auslassen würde, hat er es in diesem Fall getan, weil er als vermeintlichen »Gegner« eine ihm eigentlich vertraute Person gegenüber hatte. Der Hund könnte also von der Hand abgelassen haben und befand sich danach möglicherweise in einem Konflikt zwischen Gegner und vertrauter Person. Er wusste nicht, was zu tun ist, weil er sich in so einer Situation noch nie befunden hat. Anschließend soll Hund Hati Dominik R. in den Oberschenkel gebissen und dabei die Hauptschlagader des Beines verletzt haben, was schlussendlich zum Tod durch Verbluten führte.
Erklären lässt sich eine solche Situation nur schwer. Man kann mutmaßen, dass der Hund sich durch den erneuten Biss von einer für ihn unsicheren in eine sichere Situation hat »retten« wollen. Denn wenn er sich festgebissen hat, ist er erst einmal in einer »sicheren Position« und wartet, bis er von (s)einem Hundeführer aus der Situation herausgenommen wird, wodurch sein Auftrag erledigt ist. So wie das Opfer und der Fundort ausgesehen haben, scheint es einen regelrechten Kampf zwischen Hati und Dominik R. gegeben zu haben. Es hat vermutlich mit dem Abstellen »eines nicht adäquaten Verhaltens« des Hundes begonnen und endete mit dem Tod des Hundeführers. Man muss sich vor Augen halten, dass eine solche Situation weder für den Hund noch für den Hundeführer vorhersehbar war und alles sehr stressbeladen und unkontrolliert abgelaufen sein muss. Auch hat es sicher eine Rolle gespielt, dass es nicht im Repertoire des Hundes ist, von seinem (feindlichen) Gegenüber Befehle zu erhalten. Üblicher Weise kommt der Befehl zum Ablassen von hinten und nicht vom Gegner. Es müssen viele Faktoren zusammengespielt und so zu einer Verkettung von Fehlverknüpfungen geführt haben.
Warum Dominik R. erst nach vielen Stunden gefunden wurde, ist ebenfalls Teil der Ermittlungen. Da sowohl die Zwingeranlagen als auch der Fundort hinter einem hohen Erdwall liegen, war dieser Bereich für den Offizier vom Tag nicht einsehbar. Der auf einer externen Übung befindliche eigentliche Hundeführer von Hati hatte um 17.59 Uhr und um 22.40 Uhr – jeweils erfolglos – versucht, Dominik R. telefonisch auf seinem Handy zu erreichen. Dass der Kollege zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen sein dürfte, konnte natürlich nicht vermutet werden.
Vom Freund zum Gegner?
Laut Obduktionsbericht hatte das Opfer mehrere Bissverletzungen an Armen, Beinen und am Hals. Warum der Hund das vermutlich bereits am Boden liegende Opfer auch in den Hals gebissen hat, ist den Kameraden des Hundeführers ein Rätsel. Nach der Faktenlage dürfte Dominik R. zu diesem Zeitpunkt aber bereits durch die schon erwähnte Verletzung der Hauptschlagader des Beines verblutet gewesen sein. Oberst MMag. Philipp Ségur-Cabanac, der Kommandant des Jagdkommandos, versichert gegenüber WUFF, dass die Hunde definitiv nicht auf einen Angriff auf den Hals trainiert werden. So etwas wäre auch schwer trainierbar.
Der Unfallhergang wird von Staatsanwaltschaft und Polizei untersucht, auch die Arbeit der vom Bundesheer eingesetzten Untersuchungskommission war bzw. ist im Laufen. Die Hunde wurden überprüft und es wurden keine Verhaltensauffälligkeiten festgestellt. Auch die Tollwut-Untersuchung fiel negativ aus. Die Untersuchungen würden andauern, sagte der Kommandant des Jagdkommandos. Er will neben anderen Fachleuten unter anderem auch einen US-amerikanischen Experten nach Wiener Neustadt einladen, der Spezialhunde kenne, um zu weiteren Erkenntnissen in dem Fall zu kommen. Oberst MMag. Philipp Ségur-Cabanac kündigte an, die Situation unter besonderen Sicherheitsmaßnahmen mit den beiden Hunden und Experten nachstellen zu wollen.
Was passiert mit den Hunden?
Die Frage, was mit den beiden Hunden nun passiert, ist noch offen. Der mit größter Wahrscheinlichkeit am Fall unbeteiligte Junghund Ragna wird – wie dies ohnehin geplant war – aus dem Militär ausscheiden und vermutlich an den Züchter zurückgegeben werden. Die beiden Malinois Ragna und Hati befanden sich zu Redaktionsschluss noch in Quarantäne in der Kaserne. Oberst MMag. Philipp Ségur-Cabanac teilte WUFF mit, dass Hati auf keinen Fall weiter als Diensthund in dieser Einsatztruppe eingesetzt werden wird. Auch wenn den Hund keine Schuld trifft, wäre das schon allein aus emotionalen Gründen nicht möglich. Es gibt spezielle Heime für dienstuntauglich gewordene Einsatzhunde, was eine Option für Hati wäre. Theoretisch könnte er aber auch in einer Einsatztruppe im Ausland weiter seinen Dienst versehen. Dass Hati eingeschläfert wird, hält der Oberst für sehr unwahrscheinlich, aber es liege nicht in seiner Entscheidungskompetenz.
Der Fall wird vermutlich nie restlos aufgeklärt werden können, weil es keine Zeugen gibt und auch keine Videoüberwachung. Zugriffshunde gelten im Einsatz jedenfalls als Waffe und dass eine Waffe auch einmal nach hinten losgehen oder eine »Fehlfunktion« haben kann, damit muss man rechnen. Und wenn die Waffe ein Lebewesen ist, ist das Restrisiko noch weniger abschätzbar. Glücklicherweise passieren solche Zwischenfälle jedoch nur sehr selten.
Das Jagdkommando
Neben den Land- und Luftstreitkräften verfügt das Österreichische Bundesheer auch über Spezialeinsatzkräfte. Kern dieser Teilstreitkraft sind die Soldaten des Jagdkommandos. Sie trainieren für Einsätze unter schwierigsten Gelände- und Witterungsbedingungen sowie bei extremen Gefahrensituationen. Jagdkommandokräfte halten sich ständig für Einsätze im In- und Ausland bereit. Im Regelfall erledigen sie ihre Aufträge mit kleinen, unerkannt eingesetzten Einheiten. Dabei nehmen die Soldaten unter anderem Aufgaben wie die Befreiung von als Geiseln festgehaltenen Militärpersonen, Festnahme von gesuchten Personen wie Kriegsverbrechern oder Vernichtung von gefährlichen Waffen-Stellungen wahr. Die Diensthundeeinheit ist ein Teilbereich des Jagdkommandos.
Expertenmeinung
Vorfall kaum rekonstruierbar!
WUFF hat den Hundeexperten Thomas Baumann gefragt, wie er diesen Unfall beurteilt. Baumann war zehn Jahre Ausbildungsleiter einer Polizeihundeschule und vier Jahre Deutscher Polizeivertreter einer INTERPOL-Arbeitsgruppe für das Diensthundewesen der Polizei auf europäischer Ebene.
Ein für mich ganz wichtiger Aspekt im Vorfeld: Wir alle sollten uns an der Beteiligung von Spekulationen zurückhalten, weil die tragischen Geschehnisse nach meinem Dafürhalten auch im Rahmen möglicher Rekonstruktions-Versuche weiterhin spekulativ bleiben werden.
Welches der konkrete Auslöser für das Verhalten des attackierenden Hundes sein könnte, wird somit im Dunkeln bleiben. Hierzu gibt es ganz einfach viel zu viele unterschiedliche denkbare Varianten. Allerdings ist erklärbar, welche Umstände zu dem weiteren Vorgehen des angreifenden Hundes geführt haben dürften.
Zunächst muss jedem klar sein oder klar werden, dass an »Zugriffshunde«, ganz gleich ob Polizei oder Militär, derart hohe Ansprüche gestellt werden, dass nur sehr wenige vierbeinige »Persönlichkeiten« diesen Ansprüchen gewachsen sein können. Bereits im Selektionsverfahren erfüllen die wenigsten Hunde diese sehr speziellen Anforderungen. Nur besonders »starke« und hoch motivierte Hunde können für die Ausbildung zugelassen werden.
Am Ende einer solchen Ausbildung steht ein außergewöhnlich energiegeladener Vierbeiner, der durch gezieltes Training enorme Leistungen vollbringen wird. Der Vergleich zu »brisantem Explosivstoff« wird richtigerweise immer wieder herbeigezogen. Bei einem optimalen Umgang und unter normalen Bedingungen mit »brisantem Explosivstoff« ist grundsätzlich keine Gefahr zu erwarten. Kritisch kann es immer dann werden, wenn Situationen auftreten, die erheblich von der »Norm« abweichen.
Für mich ist unbestreitbar, dass sich unmittelbar vor dem Unglück eine erhebliche Abweichung von der »Norm« ergeben haben muss. Der auslösende Faktor kann sich sowohl durch das Verhalten des Menschen, aber auch durch das Verhalten des angreifenden Hundes – und sogar durch das Verhalten des Junghundes ergeben haben.
Theorien hierzu gibt es jede Menge; sie alle aber führen wieder in Spekulationen.
Das »Explodieren« der Energieladung des Hundes trat ganz offensichtlich ein und nun kommen wir in einen Bereich, der von Fachleuten richtigerweise als »Kontrollverlust« bezeichnet wird. Das Kontrollsystem im Gehirn wird emotional derart außer Kraft gesetzt, dass sich der Hund aufgrund der hohen Erregungsprozesse in keiner Weise mehr operant (bewusst) verhalten kann. Mit einem derartigen Kontrollverlust kommt es dann unglücklicherweise zu länger anhaltenden, aggressiven Entgleisungen, die letztlich auch die Vielzahl der körperlichen Verletzungen des Menschen erklärbar machen. Klingen die Erregungsprozesse nach wenigen Minuten ab, zeigen diese Hunde in der Regel wieder völliges Normalverhalten.
Als ehemaliger Ausbildungsleiter einer Polizeihundeschule wurde ich über einen Zeitraum von 10 Jahren wiederholt mit Diensthunden, die situativ einem Kontrollverlust unterlagen, konfrontiert. Auch heute noch werden mir als Hundetrainer regelmäßig Hunde, vor allem Malinois, vorgestellt, die mit dem Problem von stressbedingten Kontrollverlusten behaftet sind. Die Arbeit bzw. das Training mit solchen Hunden erweist sich alles andere als einfach. Zumal bestimmte und kompliziere Ausnahmesituationen, die im Alltag auftreten können, ganz einfach im Vorfeld nicht trainiert werden können.
Eine Verzichtbarkeit auf die Ausbildung und den Einsatz solcher besonders spezialisierten Hunde halte ich nach eigener Erfahrung für nicht gegeben. Zugriffshunde retten durch ihren Einsatz normalerweise Menschenleben und zerstören es nicht. An diesem besonderen und tragischen Fall jedoch ist erkennbar, dass wir es nicht mit dem funktionalen Aspekt einer technischen Waffe, sondern mit einem lebenden Organismus zu tun haben, der im seltenen Einzelfall auch ein Unglück herbeiführen kann.
Letztlich bleibt nur eines kritisch anzumerken: Ein im Schutzdienst ausgebildeter Diensthund sollte nicht von mehreren bzw. verschiedenen Diensthundeführern geführt werden. Dieses Vorgehen erinnert mich an das Diensthundewesen der damaligen DDR und ist gleich aus mehreren Gründen abzulehnen. Jeder Mensch pflegt einen anderen Umgang mit einem ihm zugeteilten Hund und auch daraus können sich soziale Irritationen für den Vierbeiner im Alltag und auch im Einsatz ergeben.
Thomas Baumann
Pdf zu diesem Artikel: militaerhundevorfall