Die Wende in der Hundezucht?

Von Christoph Jung

Vom Championat der Arbeit zu Beginn der Hundezucht bis zum Championat der Äußerlichkeiten, wie sie die derzeitige Hundezucht dominieren, spannt Christoph Jung einen Bogen und ­kritisiert Auswüchse wie Inzucht und Zucht mit erbkranken Hunden. Dass Jung im November des Vorjahres zu einem Vortrag über dieses „Tabuthema" vor zahlreichen Zuchtverantwortlichen im Verband des deutschen Hundewesens (VDH) eingeladen wurde, grenzt an eine Sensation. Schien es bisher doch so, dass offensichtliche ­Probleme in der Rassehundezucht lieber dementiert als zugegeben wurden. Hat sich das nun geändert?

Im August 2009 berichtete WUFF als erstes Hundemagazin über den gerade ausgerufenen ­„Dortmunder Appell für eine Wende in der Hundezucht" (www.dortmunder-appell.de). Gut zwei Jahre später war ich vom Verband für das deutsche Hundewesen (VDH), dem mit Abstand größten Dachverband der deutschsprachigen Zuchtszene, just nach Dortmund eingeladen. Ich sollte auf der Tagung der Zuchtverantwortlichen der VDH-Mitgliedsvereine sprechen. Das Schwerpunktthema der Tagung war „Öffentliche Diskussionen um die Rassehundezucht". In meinem Vortrag ging es um „Kritische ­Aspekte und positive Perspektiven in der ­Hundezucht".

Ich muss zugeben, ich war schon etwas überrascht, als ich die E-Mail von Bernhard Meyer, dem Hauptgeschäftsführer des VDH, mit der Anfrage erhielt. Wenn man eine Wende in der Zucht von Rassehunden fordert, so geht das ja in erster Linie an die Adresse der Züchter. Und auf dieser Tagung am 5.11.2011 waren die Zuchtverantwortlichen des VDH versammelt, mehr als 250, wie sich zeigen sollte. Also sagte ich umgehend zu. Es gab einiges, was ich dort mit­zuteilen hätte.

Beginn der Rassehundezucht: Championat der Arbeit

Zunächst eine Begriffsklärung. Der Begriff „Rasse" hat im Bereich der Heimtiere ganz unterschiedliche Hintergründe. So sind Rassekatzen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, künstliche Erfindungen geschäftstüchtiger Züchter der letzten Jahrzehnte. Bei Hunden ist das hingegen anders. Nur die wenigsten Hunde­rassen wurden in jüngerer Zeit künstlich kreiert. Die allermeisten haben uralte Wurzeln, und diese meist in der Welt der Arbeit. Die ­unterschiedlichen Hunderassen entstanden über mehr als 10.000 Jahre hinweg in der Optimierung für bestimmte Arbeitsaufgaben im Dienste des Menschen. So brachten Hunde großartige Leistungen hervor, die diejenigen des Stamm­vaters Wolf in all ihren Spezial­disziplinen übertreffen. Kein Wolf ist so schnell wie ein Windhund, keiner so ausdauernd wie ein Husky, keiner kann so gut riechen wie der Bloodhound und kein Wolf ist so gelenkig wie der Lundehund. Kein Wolf, ja kein anderes Tier versteht den Menschen so gut wie der Hund.

Die Anforderungen durch die Arbeit für den Menschen setzten in der Hunde­zucht Maßstäbe ohne Wenn und Aber. Nur Hunde, die ihre Leistungen besonders gut erbrachten, wurden vermehrt. Ich nenne es das Championat der Arbeit, das hier die besten Hunde kürte, und zwar un­bestechlich und objektiv. Dieses Championat der Arbeit ist heute weitgehend weggefallen.

Kernproblem Inzucht

Hinzu kommt ein zweites Kernproblem der Rassehundezucht: Die Inzucht. Meinem Appell, den Weg der Inzucht zu verlassen, widmete ich einen Schwerpunkt meines Vortrags. Wenn man eine Hunderasse haben will mit all ihren Alleinstellungsmerkmalen und speziellen Charakteren, so muss man diese Hunde notwendigerweise ein Stück vom allgemeinen Genpool der Hunde trennen.

Das tat auch die klassische Rasse­hundezucht über Jahrtausende hinweg – jedoch nie absolut. Die genetischen Grenzen waren offen und somit ein gewisser Austausch an Genen und eine gewisse Vielfältigkeit in der Gen-Ausstattung ­gewährleistet. Zudem wirkte die Selektion durch das erwähnte Championat der Arbeit. Nicht leistungsfähige oder gar kranke Tiere hatten keine Chance auf Fortpflanzung. Beide Faktoren sind heute weitgehend weggefallen. Der Genpool der allermeisten Hunderassen ist seit zig Generationen geschlossen. An die Stelle des Championats der Arbeit trat auf Hunde-Shows das Championat der Äußerlichkeiten. Zucht mit erbkranken Hunden ist verbreitete Praxis geworden, auch im VDH.

Das Thema Inzucht war der ­modernen Rassehundzucht von Anfang an bekannt. Bereits aus dem Jahr 1857 sind erste Warnungen überliefert. Und 1904 warnte der Tierarzt und Züchter Wilhelm Hinz in seiner Dissertation an der Preußisch Königlich Tierärzt­lichen Hochschule zu Berlin: „Wenn wir uns heute der Inzucht als Mittel zum Zwecke bedienen, so dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass wir damit ein zweischneidiges Schwert ­schwingen. Denn wie sich durch Inzucht die von uns eigenmächtig aufgestellten Vorzüge in der Nachkommenschaft potenzieren, vervielfältigen sich ebenso leicht die Nachteile."

Gefahren wurden ignoriert

Es ist im Grunde ein Tierschutz-Skandal, dass die Rassehundezucht bis heute die Erkenntnisse der ­Zoologie und Genetik zu den Gefahren von Inzucht weitgehend ignoriert. Selbst die extremste Variante der Inzucht, nämlich die Verpaarung von Verwandten ersten Grades, also Eltern und deren Welpen oder die Welpen eines Wurfes untereinander, ist nicht geächtet. Ganz im Gegenteil erlaubt der VDH, wie die meisten anderen Zuchtverbände auch, Inzestzucht ausdrücklich. Es wird lediglich verlangt, dass eine Ausnahme­genehmigung des Rassehunde-Zuchtvereins vorliegt. In vielen VDH-Mitgliedsvereinen wird dann auch auf „vorherige schriftliche Genehmigung des Zucht­leiters" (hier z.B. ­Beagle Club Deutschland) und ähnliche Regelungen abgestellt. So wird Inzestzucht faktisch unbehelligt praktiziert – hier und heute. Zum Schutz des Individuums, aber besonders auch im Interesse des Erhalts der Gesundheit der Population, sollte Inzest jedoch konsequent verboten sein. Einige VDH-Mitgliedsvereine haben solche Bestimmungen bereits, aber eben nur einige. Daher habe ich das Verbot der Inzestzucht sowie weitere Schritte zur Bekämpfung von Inzucht als Sofortmaß­nahmen gefordert.

Dringlichste Sofortmaßnahmen

1. Ein generelles Verbot von Inzestzucht. Ein solches Verbot ­sollte auch für das Ausstellen von Abkömmlingen solch züchterischen Fehlhandelns gelten.

2. Eine generelle Deckbeschränkung für Rüden. Die quasi uferlose Verwendung einzelner Champion-Rüden (sog. Popular Sires) bei manchen Hunderassen ist nicht nur ein Katalysator der genetischen Verarmung einer Population. Sie ist zudem eine der Hauptursachen für die – ja man muss sagen – Verseuchung ganzer Populationen mit Gendefekten.

3. Analog müssen solche Beschränkungen für die künstliche Be­samung gelten. Die Reproduktionsmedizin ist heute auf dem besten Wege zu einem weiteren Katalysator von Inzucht zu degenerieren. Künstliche Besamung muss zudem strikt verboten sein, wenn sie als Ersatz für verloren gegangene Deckfähigkeit dienen soll.

4. Mindeststandards für den sog. Ahnenverlust sollten eingeführt werden. Schon eine so einfache Regel, wie bspw. die, dass kein Ahne im Stammbaum doppelt ­vorkommen solle, würde bei vielen Begleithunde-Populationen einen Fortschritt bedeuten.

Hier handelt es sich um grobe, aber einfach und sofort umsetzbare Maßnahmen, um die extremsten Auswüchse zu verhindern. Natürlich ersetzen solche Maßnahmen ­keine langfristigen Zuchtprogramme. Inzestzucht sollte aber geächtet sein, auch von Welpenkäufern und ebenfalls durch das Tierschutzrecht. Aus Sicht des Wohls der Hunde gibt es kein einziges Argument, heute noch Inzest zu betreiben. Hier wird Raubbau an der Gesundheit ganzer Hunde­populationen betrieben. Dr. Hellmuth Wachtel, der große Kynologe unserer Tage, hat auf diese Problematik seit Jahren immer wieder fundiert hingewiesen und konkrete Vorschläge unterbreitet – gerade auch im Hundemagazin WUFF.

Das Championat der Arbeit

Ein weiteres, nicht minder wichtiges Element sollte in der Rassehundezucht ebenfalls an Bedeutung gewinnen: Das alte Championat der Arbeit in neuer Form. Es ist sehr zu ­begrüßen, dass der VDH neuerdings ganz bewusst Ausstellungs- und Zuchtwesen getrennt hat. Championate und Prämierungen auf Hunde-Shows bedeuten nicht mehr automatisch die Zuchtzulassung. Zuchtzulassungen sind nur noch über separate Zuchttauglichkeitsprüfungen (ZTP) möglich. Der Nachweis von Gesundheit und Leistungsfähigkeit soll obligatorischer Bestandteil dieser ZTPs sein.

Wenn man dann aber sieht, welche Hunde zuweilen offiziell zur Zucht zugelassen werden, so kann man nur daran zweifeln, dass hier ein ernst­hafter Nachweis der Leistungsfähigkeit erbracht wurde. Erst im August des Vorjahres wurden bei einer Sendung im deutschen TV zwei Bulldogs gezeigt, die offensichtlich extrem kurzatmig und nicht mehr natürlich zeugungsfähig waren. Diese wurden dann mit Hilfe eines Veterinärs und künstlicher Insemination trotzdem in die Zucht gebracht; nach meinen Informationen mit einer ganz offiziellen Zuchtzulassung des inzwischen ausgeschlossenen VDH-Vereins. Ein krasser Fall und sicher nicht die Regel im VDH, aber auch keine extrem seltene Ausnahme (mehr darüber siehe WUFF 2/2012).

Es gibt natürlich auch positive ­Beispiele wie die des Berger des ­Pyrénées, eine alte Hütehunderasse. Auch wenn dieser Berger kaum einmal bei uns in Mitteleuropa in seiner alten Arbeitsaufgabe eingesetzt wird, so haben seine Züchter im VDH trotzdem einen Nachweis der Hüteleistungsfähigkeit zu einer Voraussetzung der Zuchtzulassung gemacht.

Mentale Fitness

Neben der körperlichen sollte auch die mentale Fitness wieder eine entscheidende Rolle spielen. Das Wesen der Hunde ist noch viel komplexer und unterschiedlicher als deren vielfältige äußere Erscheinung. Es ist das Besondere an einem Rassehund, dass ich schon bei der Planung des Wurfes recht gut abschätzen kann, welcher Typ Hund aus den Welpen herauswachsen wird und ob das Wesen und die Ansprüche dieser Hunde in die Welt des Halters passen werden. Wenn ich mir aber das Treiben auf den Hundeausstellungen wie auch die FCI-Rassestandards anschaue, ist Ernüchterung angesagt. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass oftmals das charakteristische Wesen der jeweiligen Rasse hinter Farbtupfern an der „richtigen" Stelle und anderen Modespleens oder Fell-Puder- und -Toupier-Eskapaden zurückstehen muss. Damit wird der wichtigste Partner des Menschen zu einer vierbeinigen Barbie-Puppe degradiert, die im Ausstellungsring zum Catwalk mit professionellen Führern hoppeln soll. Daher mein Appell an die VDH-Verantwortlichen, die Trennung des Ausstellungs- und Zuchtwesens nicht so zu interpretieren, dass in Folge bei den Shows nur noch dem Kult der Äußerlichkeit und der Extremzucht ungehemmter Lauf gelassen wird.

Wir brauchen echte Kontrolle in der Hundezucht

Der VDH wirbt gerne damit, dass er Hort der einzig „kontrollierten Zucht" sei. Außerhalb der VDH-Bestimmung sei per Selbstdefinition die Zucht „unkontrolliert". Kontrollierte Zucht ist allerdings sehr zu wünschen. Nur muss diese Kontrolle auch praktisch wirken und zwar gerade da, wo sie unerwünscht ist. Hier liegen meines Erachtens nach große Defizite. Es ist kaum überzeugend, wenn der VDH bei kritischen Fragen zu offensicht­lichen und teils krassen Verfehlungen einzelner Mitgliedsvereine darauf verweist, dass diese in eigener Verantwortung arbeiteten. Ich werde immer wieder von Züchtern und Verantwortlichen in VDH-Zuchtvereinen angesichts solcher Missstände um Rat und Hilfe gebeten; es gibt Missstände, die vereins­intern unter den Teppich gekehrt werden. Nicht selten werden die Mahner der Verfehlungen gemobbt, statt die Ursachen der Missstände aufzudecken. Für diese Problematik bietet der VDH keinen überzeugenden Lösungsansatz.

Die Rassehundezucht bedarf einer echten Kontrolle, unabhängig und konsequent. Warum nicht sollte in der Zucht eine Instanz aufgebaut werden, die, analog eines TÜVs, wirksame Kontrolle über Mindeststandards in der Zucht ausübt? Aber das ist kein spezielles VDH-Problem, der ja nur knapp 30% der Rassehundezucht Deutschlands betreut. Der Großteil des Geschäftes mit Welpen spielt sich außerhalb des VDHs ab. Hier sind die Standards in aller Regel bedeutend niedriger als unter dem Dach des VDH.

Hundehandel EU-weit verbieten

EU-weit werden heute Hunde gehandelt, ja in manchen Staaten ganz legal im industriellen Stil produziert. Hierzu werden alte Schweinemastanlagen und andere Produktionsstätten der Agrarindustrie verwendet. Mit groß angelegter Hundeproduktion und dem Hundehandel lässt sich offenbar viel Geld machen. Daher bedarf es EU-weiter gesetzlicher Mindeststandards für die Zucht. Hundehandel sollte verboten sein. Es erstaunt immer wieder: Jede Salatgurke beim Discounter hat mehr echte Kontrolle hinter sich als ein Welpe. Jede Kartoffel ist mit mehr EU-Vorschriften, Normen und behördlichen Kontrollmechanismen bedacht als die Zucht unserer Hunde.

Ich werte die Einladung durch den VDH, den positiven Zuspruch vieler Teilnehmer und einige weitere Erfahrungen der letzten Monate als Signal, dass der VDH und viele seiner Züchter für eine grundlegende Reform der Rassehundezucht zum Wohle der Hunde offen sind, ja diese zuweilen anstreben. Wir werden sehen, was die Zeit an praktischen Ergebnissen ­bringen wird.

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