Am 26. April 1986 explodierte Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Durch diese Nuklearkatastrophe wurde ein riesiges Gebiet im Radius von rund 30 Kilometern blitzartig zur Geisterwelt. Seitdem vermehren sich dort unkontrolliert die verschiedensten Tierarten. Um den Reaktor herum sind es vor allem Hunde. Ihnen wird jetzt endlich geholfen.
Heute leben rund tausend Hunde an verschiedenen Stellen in der 30-Kilometer-Sperrzone um das Atomkraftwerk. »Nur die wenigsten von ihnen sind allerdings verstrahlt«, gibt Lucas Hixson von der US-Hilfsorganisation Clean Futures Fund Entwarnung. Selbst dann sei die radioaktive Verstrahlung der Tiere so gering, dass sie für Menschen keine Gefahr mehr darstelle, erzählt der Experte am Telefon. Hixson muss es wissen. Als Strahlenexperte kennt er sich mit dem Thema aus. Der Amerikaner fährt seit Jahren regelmäßig für mehrere Monate in das Sperrgebiet, um Hilfsprogramme für Tschernobyl zu entwickeln und realisieren. Bei unserem Gespräch ist er nach einem drei-monatigen Aufenthalt vor Ort gerade auf dem Weg nach Hause und wartet auf einem US-Flughafen auf seinen Weiterflug. Bei einem seiner Tschernobyl-Besuche kam Hixson mit den verwilderten Hunden in Kontakt. Ihre Intelligenz beeindruckte ihn sehr. Man kann dem Strahlenexperten anmerken, wie stark sein Herz für die dortigen Vierbeiner schlägt.
Laut Hixson lauert heute eine neue Gefahr unter den Tschernobyl-Hunden: die Tollwut. Gerade im Evakuierungsgebiet zeigt die tödliche Seuche ein hohes Vorkommen. In den vergangenen Jahren wurde die Tollwut gleich zum vielfältigen Problem. »Für die ukrainische Regierung sind die Hunde zum Risiko geworden«, weiß Hixson zu berichten. Nicht nur seien die derzeit etwa 3.500 Arbeiter des Kraftwerkes gefährdet. Seit 2013 ziehe es zudem jährlich bis zu 200.000 sogenannte Nuklear-Touristen nach Tschernobyl. Viele von ihnen wagen sich sogar bis in die Sperrzone zur Reaktorruine. Doch damit nicht genug. Während sich immer mehr Menschen in der Sperrzone tummeln, hat das osteuropäische Land Schwierigkeiten mit der Beschaffung von nötigen Impfstoffen. Seit einigen Jahren gibt es in der Ukraine selbst für Menschen kaum noch Tollwutimpfungen. »Russland hat seine Lieferungen von Impfstoffen mehr oder weniger eingestellt. Wer aufgrund einer Bisswunde wegen Tollwutverdacht geimpft werden soll, dem bleibt meist nur die Reise ins Ausland für die nötige Impfung«, so Hixson. Aus Mangel an Alternativen und finanziellen Mitteln fasste die Regierung daher vor einigen Monaten einen wahrhaft grauenvollen Entschluss: Die Hunde um das Kraftwerk sollten erschossen werden. Diese schreckliche Aufgabe wurde einem der Arbeiter des Kraftwerkes zugeteilt. Doch nicht nur Hixsons Herz schlägt für die Tschernobyl-Hunde. Der beauftragte Arbeiter verweigerte die Ausübung seines entsetzlichen Auftrags einfach.
Denn die Hunde sind den Arbeitern des Kraftwerks schon lange ans Herz gewachsen. Waren es doch bisher die einzigen Lebewesen, die sich mit ihnen dort aufhielten. Bis heute lassen die Arbeiter kranke und verletzte Tiere in die Gebäude, geben ihnen Futter und bieten den Vierbeinern geschützte Schlafplätze. Denn der Winter in Tschernobyl ist extrem hart. Tierärztliche Hilfe gibt es dort nicht. So waren es auch drei Arbeiter, die vergangenen Winter heldenhaft eine spektakuläre Rettungsaktion starteten, um einen der Hunde vor dem sicheren Tod zu bewahren. Der Vierbeiner war über die Sicherheitsleiter für Wartungsarbeiten auf die 108 Meter hohe Kuppel der Schutzhülle geklettert, die zum Schutz vor Strahlung die Reaktorruine ummantelt. Auf der glitschigen Schneedecke drohte der Hund abzustürzen oder auf dem Dach zu verhungern. Die Arbeiter sicherten sich mit Seilen ab und fingen den Streuner mithilfe einer Wurfschlinge ein. Nachdem sie ihm einen Sack übergestülpt hatten, trugen sie ihn sicher nach unten.
Hilfe bekommen die Hunde nun auch vonseiten Clean Futures Fund. Seit 2016 setzt sich die Hilfsorganisation nicht nur für alle zwei- sondern auch für die vierbeinigen Opfer der Nuklearkatastrophe ein. Neben zahlreichen Hilfsprogrammen für ehemalige und derzeitige Arbeiter sowie deren Familien kümmert sich Hixson mit seinem Team auch um die Hunde und Katzen Tschernobyls. »Durch Kastration versuchen wir langfristig eine Reduzierung der Hunde- und Katzenpopulation zu erreichen«, erläutert Hixson.
Erst verlassen, dann gejagt
Die Tatsache, dass heute um das Kraftwerk und in der Sperrzone rund 1.000 Hunde herumstreunen, überrascht sicherlich viele. Haben doch Studien immer eine Verringerung der dortigen Tierpopulationen prognostiziert. Aktuelle Forschung vor Ort zeichnete jedoch ein anderes Bild. Studien wie zum Beispiel die des Wildlife-Ökologen James Beasley von der US-Universität Georgia konnten erst vor Kurzem belegen, dass unter anderem die Populationen von Wölfen und Marderhunden in den Wäldern um Tschernobyl nicht, wie angenommen, aufgrund der Verstrahlung zurückgegangen ist. Im Gegenteil: Die Anzahl der Tiere ist in überraschendem Maße gestiegen.
Hixson kann erklären warum dies – zumindest in puncto Hunde – der Fall ist. »Nach der Reaktorkatastrophe wurde ein 30 Kilometer weites Gebiet rund um das Kraftwerk zur Sperrzone erklärt. Über 120.000 Menschen wurden damals schnellstmöglich aus insgesamt 186 Städten und Dörfern evakuiert«, erzählt Hixson von der dramatischen Situation, bei der die Menschen nur eine kleine Tasche mit dem Allernötigsten mitnehmen durften. »Haustiere mussten zurückgelassen werden. Nur so konnte eine rasche Evakuierung garantiert und die Gefahr der Kontaminierung verringert werden«, erläutert der Strahlenexperte die Vorgehensweise. Die zurückgelassenen Tiere wie auch Wildtiere bargen ein enormes Risiko: Sie waren verstrahlt. Nach der Errichtung der Sperrzone durchkämmten sowjetische Soldaten die Gegend um das Kraftwerk. Ihr Auftrag: Innerhalb der Sperrzone sollten sämtliche Tiere erschossen werden. Doch nicht alle Tiere wurden gesichtet. »Die zurückgelassenen Hunde hatten sich nach der Katastrophe schnell in die umliegenden Wälder verzogen. Aufgrund der Wölfe und natürlich des Futtermangels kamen jedoch viele wieder zurück und suchten die Nähe des Menschen. So kamen die Hunde erst in die verlassene Stadt zurück und danach zum Kernkraftwerk, wo weiterhin Menschen arbeiteten. Bis heute werden die Hunde von den dortigen Arbeitern gefüttert«, erzählt Hixson davon, wie die Hundepopulation in der Sperrzone immer größer werden konnte. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung habe die Strahlung selbst keine Auswirkung auf die Hundepopulation gehabt. Auch die Gesundheit der Vierbeiner wurde langfristig nicht durch die Strahlung geschädigt. Dem Strahlenexperten nach sei ein Hundeleben, selbst wenn es lange dauert, zu kurz, um die schwerwiegenden Folgen der Strahlung zu erleben.
Allzu lange leben die Tschernobyl-Hunde trotzdem nicht. »Hunde, die älter als fünf oder sechs Jahre sind, nennen wir Opa. Die meisten werden hier nicht älter als drei oder vier«, erzählt Hixson. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Vor allem die harschen Wetterverhältnisse machen den Vierbeinern stark zu schaffen. »Extrem kalte Winter, erschwerte Futterbedingungen, Wölfe und die natürliche Selektion begrenzen das Lebensalter der dortigen Hunde leider sehr stark.« Ein Grund mehr für Hixson, den Tschernobyl-Hunden nachhaltig zu helfen.
Heute kein Sicherheitsrisiko mehr
Für das weltweit erste Kastrationsprojekt in einem radioaktiv verseuchten Gebiet haben Hixson und sein Team hohe Hürden überwunden. Dem Projekt lief nicht nur eine lange und detaillierte Planung voraus. »Die Organisation eines solchen Projekts vor Ort dauert länger als im Nachhinein die Aktion an sich«, gibt Hixson zu bedenken. Es galt staatliche Genehmigungen einzuholen, hohe Spendensummen zu sammeln und ehrenamtliche professionelle Partner, Tierärzte und Freiwillige zu finden. Zudem gab es immer wieder Probleme bezüglich Importbeschränkungen und Transporte zur Sperrzone zu lösen. Dank der tatkräftigen Unterstützung nationaler und internationaler Tierschutzverbände konnte das Projekt zur Hilfe der Tschernobyl-Hunde 2017 beginnen. Geplant war eine Laufzeit von insgesamt drei Jahren. »Wir werden das Hunde-Projekt aber erst beenden, wenn für alle Hunde eine 100-prozentige Versorgung gewährleistet ist«, versichert Hixson.
Bisher läuft es besser als erwartet. Bei der ersten Kastrationsaktion im Sommer 2017 konnte Hixson mit einem 48-köpfigen Team, das hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, 350 Hunde und Katzen medizinisch versorgen. »Die Auswirkungen haben wir umgehend feststellen können. Durch diese erste Aktion gab es ganz schnell eine Verminderung in der Population«, berichtet Hixson. »Wir schätzen die derzeitige Zahl an Hunden nur noch auf 800 bis 900.«
Das spornte das Team wahrlich an. Bei der nächsten Aktion im Sommer 2018 waren dann 82 Personen involviert. Etwa 500 weitere Hunde und Katzen konnten kastriert, geimpft und auch sonst veterinärmedizinisch versorgt werden. »Natürlich haben wir außerdem die Impfungen vom Vorjahr aufgefrischt. Wir hatten somit doppelt zu tun«, erzählt Hixson. Ganze vier Wochen lang, vom 2. bis 29. Juni 2018, fingen aus den USA eingeflogene professionelle Tierfänger die Vierbeiner ein, die daraufhin von Strahlenschutzexperten auf Strahlung untersucht wurden. Doch nicht nur die Vierbeiner unterlagen strengen Strahlenschutzmaßnahmen. »Alle Helfer mussten sich an die geltenden Sicherheitsprotokolle wie das Tragen passender Schutzkleidung halten«, erklärt Hixson. »Die meisten Hunde waren allerdings strahlenfrei. Ist doch mal einer dabei, dann wird er gewaschen, geschrubbt und gereinigt, bis er keine Strahlung mehr aufweist.« Erst im Anschluss wurden die Tiere in die provisorische Klinik gebracht, die Clean Futures Fund in einem verlassenen Gebäude eingerichtet hatte. Dort wurden die Streuner von Tierärzten untersucht, geimpft und kastriert. Während ihrem Klinik-Aufenthalt wurden die Hunde gleichzeitig gegen Krankheiten behandelt. Insbesondere Welpen leiden dort vermehrt unter Staupe. Bei einem Kontrollbesuch im November des Vorjahres hatten sich Hixson und sein Team von der schnellen Genesung der Staupe-Hunde überzeugen können, die nur drei Monate zuvor von ihnen behandelt worden waren.
Kastrierte und geimpfte Tiere markiert Clean Futures Fund doppelt. Bevor die Vierbeiner an der Stelle, an der sie eingefangen wurden, wieder ausgesetzt werden, stattet das Team sie sowohl mit Ohrenmarken als auch mit Mikrochips aus. »So kann auch von Ferne jeder erkennen, dass von den Tieren keinerlei Gefahr ausgeht. Zudem haben wir alle ihre Daten gespeichert.« Rund 600 Hunde konnte die Hilfsorganisation bisher insgesamt kastrieren und impfen.
Welpen suchen ein Zuhause
Insbesondere den Kleinsten unter den Tschernobyl-Hunden möchte Clean Futures Fund mithilfe eines Adoptionsprogramms gerne auf Dauer ein besseres Leben ermöglichen. Doch dies gestaltete sich schwerer als gedacht. Wieder musste die Hilfsorganisation verschiedene Hürden nehmen. »Es dauerte lange, bis wir die nötigen Genehmigungen in der Ukraine hatten. Am 1. Juli 2018 konnten endlich die ersten 15 Welpen in die USA zu ihren neuen Besitzern fliegen«, berichtet Hixson stolz. Der Weg der Tschernobyl-Welpen ist nicht nur geografisch ein langer. Es vergehen mehrere Monate, bis ein Welpe die Ukraine verlassen darf. »Für mehrere Monate platzieren wir die Welpen in einem Tierheim, wo sie geimpft und sozialisiert werden«, erläutert Hixson das Prozedere. An eine Vermittlung in der Ukraine sei derzeit leider nicht zu denken. Zwar habe sich die Einstellung der Ukrainer gegenüber den Tschernobyl-Hunden seit Beginn des Hilfsprojektes etwas verbessert, einen Straßenhund jedoch würde trotz allem niemand in Haus oder Hof aufnehmen. Für Clean Futures Fund bleibt daher erstmal nur der Weg der Vermittlung ins Ausland. Hixson ist zuversichtlich. Das Projekt habe ein Umdenken in der sozialen Dynamik des Landes bewirkt. »Die Ukrainer gewöhnen sich langsam an die Idee der Hundevermittlung.«
Clean Futures Fund
Als Mitglied einer internationalen Expertengruppe besuchte Lucas Hixson mehrmals das Katastrophengebiet Tschernobyl. 2016 gründete er mit dem Notfallexperten für nukleare Unfälle, Erik Kambarian, die gemeinnützige Organisation Clean Futures Fund. Seitdem kümmert sich Clean Futures Fund um alle Bereiche, die in Bezug zur Reaktorkatastrophe stehen und für die der ukrainischen Regierung die nötigen Mittel fehlen. Unter anderem erstellt Clean Futures Fund sichere Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsprogramme für Arbeiter und deren Kinder, kümmert sich um Kinder- und Behindertenheime und sammelt Spenden für Krankenhäuser. Vor allem aber ermöglicht Clean Futures Fund damaligen und heutigen Kernkraftwerkangestellten und ihren Familien medizinische Unterstützung. Seit 2017 stehen auch die Hunde Tschernobyls auf dem Programm von Clean Futures Fund. Bisher zweimal fanden jeweils vierwöchige Kastrations- und Impfaktionen beim Kraftwerk statt, denen jedes Mal eine mehrmonatige Planungsphase vorausging.
Das Projekt ist auf Spenden angewiesen. Nähere Informationen hierzu finden Sie unter http://cleanfutures.org/projects/dogs-of-chernobyl/
Falls auch Sie einen Welpen aus Tschernobyl adoptieren möchten, unter http://cleanfutures.org/adoptions/ können Sie den entsprechenden Antrag stellen.
Pdf zu diesem Artikel: tschernobylhunde