Die Pille fürs Verhalten? – Psychopharmaka für den Hund

Von Regina Röttgen

Immer mehr Hunde werden wegen Verhaltensauffälligkeiten behandelt. Manchmal kommen dabei Psychopharmaka zum Einsatz. Hilft die »schnelle Pille« wirklich gegen die Angst?

Um Verhaltensstörungen beim vierbeinigen Familienmitglied rasch und kostengünstig aus dem Weg zu räumen, sind Psychopharmaka weltweit zum Wirtschaftsfaktor geworden. »Diese Gruppe von Arzneimitteln wirkt auf unterschiedliche Art und Weise auf die Neurochemie im Gehirn ein und beeinflusst damit das Verhalten«, erklärt Dr. med. vet. Lydia Pratsch, Tierärztin für Verhaltensmedizin. In ihrer Wiener Verhaltenspraxis hat sie oft mit auffälligen Hunden zu tun. »In der heutigen schnelllebigen Welt werden die Ansprüche an Hunde unter zunehmend schwierigen Umweltbedingungen wie Stadtleben oder unzähligen Umweltreizen beständig höher«, so Pratsch. Dabei soll der Hund als Familienmitglied, Ersatzpartner oder -kind, Sportgefährte oder Freizeitpartner alles mitmachen – zumeist ohne dementsprechend darauf vorbereitet zu werden. Ebenso wenig werden seine Grundbedürfnisse an körperlicher und mentaler Beschäftigung erfüllt. Häufig bleibt dies nicht ohne Folgen, so mancher Vierbeiner wird verhaltensauffällig.

Auch die Herkunft des Hundes trägt wesentlich zur Entstehung von Verhaltensproblemen bei, meint Pratsch. »Hunde aus schlechter Haltung, Welpen mit gravierenden Defiziten in der Sozialisierungsphase sowie Stress oder Hunger leidende Tiere sind prädisponiert dafür, Verhaltensprobleme zu entwickeln.« Hierzu zählen nach Angaben der Expertin vor allem auch Hunde aus dem Auslandstierschutz und Welpen aus Zuchtfabriken.

Entscheidet sich Pratsch für einen Einsatz von Psychopharmaka, kommen vor allem Präparate aus der Humanmedizin zum Einsatz. »Für Hunde registrierte Psychopharmaka gibt es derzeit nur drei Präparate«, erklärt die Fachtierärztin und schränkt weiter ein. »Diese sind zudem nur für eine spezielle Indikation, also zum Beispiel nur bei Geräusche- oder nur bei Trennungsangst zugelassen.« Deshalb müsse fast immer auf Medikamente aus dem Humanbereich zurückgegriffen werden. Zum Glück können Hundehalter nicht mal schnell selbst eine Tablette verabreichen, wie zum Beispiel in den USA üblich. Psychopharmaka sind nämlich verschreibungspflichtig. Statistiken, wie viele Psychopharmaka Hunden in Österreich und Deutschland verabreicht werden, gibt es bislang keine. Auf den ersten Blick scheint der Trend allerdings aufwärts zu gehen. Pratsch warnt jedoch vor zu schnellen Rückschlüssen. »Das Gebiet der Verhaltensmedizin hat sich erst in den letzten Jahren begonnen zu etablieren. Dies ermöglicht es natürlich auch, dementsprechend Hilfestellung anzubieten und das Bewusstsein dafür bei den Haltern zu bilden.«

Oft die letzte Instanz
Gibt es Probleme mit dem Vierbeiner, sind Verhaltensspezialisten wie Pratsch meist noch immer die letzte Instanz. Ihre Patienten sind in der Regel schwere Fälle. Bis sie bei ihr in der Sprechstunde sitzen, haben die Halter in der Regel bereits einiges versucht. Überdies: »Wenn wirklich eine Indikation für Psychopharmaka besteht, kann der Hundehalter ohnehin oft kaum etwas ausrichten.« Pratsch geht deswegen davon aus, dass Psychopharmaka nicht leichtfertig, sondern nur nach verhaltensmedizinischer Abklärung verschrieben werden. Denn es gilt: So wenig wie möglich – so viel wie nötig!

Geht es um den Einsatz von Psychopharmaka, reagieren Hundehalter unterschiedlich. »Meine Kunden kommen teilweise bereits mit dem Wunsch nach medikamentöser Unterstützung zu mir, da Training oder andere Maßnahmen allein nicht ausreichend waren.« Viele Halter haben bereits eigene Erfahrungen mit Psychopharmaka gemacht – gute oder schlechte. Dementsprechend sei dann ihre Einstellung gegenüber der Anwendung von Psychopharmaka bei Hunden. Nach Meinung Pratschs hilft insbesondere Aufklärung, Vorurteile und Zweifel zu beseitigen. Denn Bedenken, dass Psychopharmaka zu Beschwerden oder Veränderung der Persönlichkeit des Hundes führen, seien unbegründet, sagt Pratsch. »Psychopharmaka beeinflussen die Persönlichkeit nicht und verursachen beim gesunden Tier kaum Beschwerden. Ein Gesundheitscheck vor Therapiebeginn und regelmäßige Kontrollen sind aber dennoch essenziell.« Auch in Bezug auf Nebenwirkungen wie dauerhafte Benommenheit gibt die Verhaltenstierärztin Entwarnung. »Wirkung und Nebenwirkung können durch Einstellung der richtigen Dosis adaptiert werden. Sollte man dennoch nicht zufrieden sein mit dem Ergebnis, kann man zu einem anderen Medikament wechseln.«

Wer stört, fällt auf
Ob und wann Psychopharmaka dem Hund helfen, ist laut der Verhaltensexpertin individuell. In manchen Fällen sind sie zumindest hilfreich oder angebracht, in anderen wiederum absolut unumgänglich. Manchmal jedoch auch fehl am Platz. Denn nicht jedes unerwünschte Verhalten beruht auf einer Pathologie, sondern ist vielmehr eine normale Ausdrucksform des Hundes. So gehört das Verbellen von Menschen, die am Grundstück vorbeigehen, ebenfalls zum Normalverhalten eines Hundes. »Da dies aber in manchen Situationen oder mit einer so hohen Intensität beziehungsweise Häufigkeit vorkommt, wird es vom Halter als störend empfunden«, so die Expertin. Die schnelle Pille ist hier jedoch unangebracht. Vielmehr gilt es herauszufinden, was die Ursache eines solchen Verhaltens ist. Nur so kann daraufhin die passende Therapie gewählt werden. »Im Falle des Verbellens kommen als Ursache unter anderem Territorialverhalten, Langeweile oder Angst vor Menschen in Betracht.« Unabhängig vom Grund seien stets Managementmaßnahmen erforderlich, die in der Regel keine medikamentöse Unterstützung verlangten.

Angst behindert den Lernprozess
Bisweilen reichen allerdings Verhaltenstraining, Umweltanpassungen, Stressreduktion und ein vertieftes Verständnis des Besitzers für die Emotionslage des Tieres nicht aus, um das Verhalten positiv zu beeinflussen, weiß Pratsch. »Ist die Angst vor Menschen groß und kommt sie ferner in vielen anderen, nicht vermeidbaren Situationen vor, dann lebt der Hund in einem chronischen Stresszustand. In diesem Fall sind Psychopharmaka durchaus angebracht.« Sie verschaffen dem Tier und demzufolge auch dem Halter eine große Erleichterung. Zudem: »Erst durch die Reduktion von Stress und Angst werden andere verhaltenstherapeutische Maßnahmen meistens überhaupt möglich.«

Ein Medikament allein löst das Problem jedoch nicht. Stets ist eine begleitende, auf Training und Reizminderung ausgerichtete Verhaltenstherapie erforderlich. In der Regel führt ein ganzheitlicher Ansatz bestehend aus einer Kombination von Therapiemöglichkeiten zum Ziel. »Neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen sollen und können alternative Möglichkeiten wie unter anderem Pheromone, Nahrungsergänzungsmittel und Phytotherapeutika bei entsprechender Indikation angewandt werden«, sagt die Tierärztin. Allerdings sollte dies nur in Kombination mit professioneller Unterstützung erfolgen. Auch Pratsch bietet oft zuerst einmal an, eine Zeit lang Alternativpräparate wie Nahrungsergänzungsmittel, CBD-Öl oder Pheromone zu versuchen – vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen schwerwiegenden Fall. »Bleibt der erwünschte Effekt aus, kann man immer noch auf Psychopharmaka zurückgreifen.«

Häufig werden solche »Over the counter« Präparate allerdings von den Haltern in Eigenregie verabreicht. »Selbst der Haustierarzt verschreibt solche Produkte häufig als Erstmaßnahme«, weiß Pratsch. Häufig bleibt laut der Verhaltensexpertin dann der gewünschte Erfolg aus. »Denn die Erwartungshaltung ist oft zu groß. Ohne fachliche Betreuung fehlen zum einen die begleitenden Therapiemaßnahmen und zum anderen werden kleine Verbesserungen nicht erkannt.« Dabei sind es gerade einfache Mittel, die das Fundament bilden, um unerwünschte Verhaltensweisen zu vermeiden oder eben auch rückgängig zu machen: gute Ernährung, ausreichend körperliche und mentale Auslastung, klare Kommunikation zwischen Hund und Besitzer sowie Grundregeln und das Lernen von Grundkommandos mittels gewaltfreier Trainingsmethoden.

All dies geht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern braucht seine Zeit. »Hier stellt sich aber das Problem in der ­Allgemeinpraxis, dass viele Halter eine schnelle und einfache Lösung haben ­möchten«, weiß Pratsch aus Erfahrung. Die Zuweisung zu einem Verhaltenstierarzt wird von Haltern deswegen meistens als eine zu langwierige Therapie angesehen und nicht gern angenommen. Dabei achtet insbesondere der verhaltensmedizinisch ausgebildete Tierarzt wie Pratsch vor allem auf das Wohlergehen des ­Hundes. »Psychopharmaka wird er nur nach Indikation und mit dementsprechender begleitender Verhaltenstherapie veranlassen.«

Oftmals reicht einmalige Gabe
Kommt es zur Verabreichung von Psychopharmaka, unterscheidet man zwischen kurzfristig einsetzbaren Medikamenten und einer Dauermedikation. Die temporär einsetzbaren Medikamente wirken innerhalb von 30 bis 60 Minuten. Die Wirkung dauert je nach Medikament bis zu mehreren Stunden an. »Diese werden also für situationelle Ängste wie Transport, Tierarztbesuche, Silvester, Gewitter, Sturm oder Trennungsangst eingesetzt«, erläutert die Verhaltenstierärztin. Bei einem solch punktuellen Einsatz reicht folglich, wenn überhaupt, eine einmalige Gabe wenige Stunden vorher.

Ein Beispiel veranschaulicht dies: Leidet ein Hund unter massiver Angst vor Gewitter und Sturm, dann äußert sich dies in starker Unruhe, permanentem Hecheln, Verweigerung, das Haus zu verlassen, Panik und auf Spaziergängen bei Anzeichen von Gewitter oder Sturm mit Fluchtversuchen nach Hause. Hier helfe ein punktueller Einsatz von Psychopharmaka. Parallel dazu müsse langfristig natürlich per Training daran gearbeitet werden, die Angst des Hundes zu verringern. »Jedes Mal, wenn sich Anzeichen eines Gewitters oder Sturms zeigen, bekommt der Hund ein Medikament verabreicht, welches seine Angst für die nächsten Stunden löst«, fährt Pratsch fort. Vermindert der Halter zudem so weit wie möglich die Reize und bietet dem Hund einen sicheren Rückzugsort, ist der Vierbeiner wesentlich entspannter. »Meist kann der Hund sogar großartige Leckerlis annehmen und sich für Suchspiele in der Wohnung begeistern lassen«, fügt Pratsch hinzu. Der Vierbeiner hat somit nicht nur ein besseres Erlebnis, sondern er lernt zugleich etwas Positives mit diesen Reizen zu verknüpfen.

Wann ist Dauerdosierung indiziert?
In Fällen, in denen die üblichen Erziehungs- und Trainingsmethoden an ihre Grenzen stoßen, kommen Psychopharmaka auch über einen längeren Zeitraum zum Einsatz. Wertvolle Helfer sind Psychopharmaka aus diesem Grunde bei generalisierten Angststörungen, Zwangsverhalten wie Schatten-, Licht- oder nicht enden wollendes Schwanzjagen. So kann ein Straßenhund aus dem Ausland, der als Welpe eingefangen wurde und die ersten Lebenswochen im Tierheim verbrachte, im neuen Zuhause partout »nicht ankommen«. Lange Zeit zeigt er kein Interesse daran, seine neue Umgebung zu erkunden. Später taut er dann zwar ein bisschen auf, doch er bleibt schreckhaft und ängstlich gegenüber allen neuen Reizen, die er nicht kennt. »Trotz aller Bemühung der Halter wird solches Verhalten in vielen Situationen in der Regel immer schlimmer. Durch die Gabe von Psychopharmaka wird die Angst dieses Hundes gemildert, sodass er lernen kann, neue und positive Erfahrungen mit diesen Reizen zu machen«, sagt die Tierärztin. Würde die Medikation durch entsprechendes Management und Verhaltensmodifikation begleitet, seien im Regelfall bereits innerhalb von zwei Monaten erste Erfolge sichtbar. »Die Dauer der Medikation beträgt in solchen Fällen meist zumindest ein halbes oder ein ganzes Jahr.« Denn hier kommen vor allem Medikamente zum Einsatz, die den Serotoninspiegel erhöhen. »Somit kann es einige Wochen dauern, bis der gewünschte Effekt eintritt.«

Heilen können Psychopharmaka allerdings nicht, sagt Pratsch. »Die Ursache für die Erkrankung kann durch Medikamente nicht dauerhaft beseitigt werden.« Daher sei es wichtig, dass der Hund durch eine begleitende Verhaltensmodifikation neue Verhaltensweisen und Reaktionsmuster erlerne. Selbst dann sei eine Therapie nicht immer von Erfolg gekrönt. »Manche Tiere brauchen ihr Leben lang diese Unterstützung.« So zum Bespiel bei einem Hund, der auf nicht zu erkennende Auslöser unkontrollierbar aggressiv reagiert. Ebenso leben Hunde, die trotz ganzheitlicher Therapie weiterhin täglich Probleme haben, mit einer Dauermedikation stressfreier.

Die Expertin:
Dr. med. vet. Lydia Pratsch
Tierärztin für Verhaltensmedizin
www.tierverhaltenspraxis.at

Wann werden Psychopharmaka eingesetzt?

Eine Zusammenfassung der Informationen darüber, bei welchen Symptom- bzw. Krankheitsbildern Psychopharmaka zum Einsatz kommen, sowie ihre Vor- und Nachteile.

• Ängste und Phobien: Trennungsangst, generalisierte Ängstlichkeit, Angst vor Geräuschen, Umweltreizen, Menschen etc.
• Aggression: Bei angstbedingter Aggression oder bestimmten Formen, bei denen eine erhöhte Impulsivität vorhanden ist.
• Kompulsive Verhaltensweisen: Schwanzjagen, sich im Kreis drehen, Fliegen schnappen, Schatten- oder Lichtjagen etc.
• Stressreduktion: Tierarztbesuche, Reisen, Silvester, Gewitter etc.

Vorteile:
• Kurzfristige, rasche Hilfe bei situationellen Ängsten und Phobien wie Gewitter-, Silvester-, Sturm- oder Trennungsangst.
• Helfen dem Hund gelassener zu bleiben, falls nicht alle Trigger für angstbedingtes Verhalten und angstbedingte Aggression vermieden werden können.
• Unterstützende Wirkung für einen besseren und schnelleren Therapieerfolg.
• Rasche Linderung des teilweise sehr hohen Leidensdrucks von Hund und Halter.
• Einige Erkrankungen, wie zum Beispiel durch genetische Veranlagung bedingte, sind ohne Psychopharmaka nicht therapierbar.
• Nebenwirkungen sind beim gesunden Tier selten und wenn, sowohl mild als auch zeitlich beschränkt.
• Sollte ein Medikament nicht vertragen werden, gibt es die Möglichkeit auf ein anderes zu wechseln.

Nachteile:
• Einige Medikamente können zu Abhängigkeit führen und zusätzlich das Lernen erschweren. Diese dürfen infolgedessen nur über einen begrenzten Zeitraum und unter Abwägung des Risikos verschrieben werden.
• Nebenwirkungen sind möglich, doch im Allgemeinen mild, vorübergehend und dosisabhängig: Sedierung, Ataxie, Magendarmbeschwerden, Änderungen des Appetits, Unruhe und Nervosität sind die häufigsten Nebenwirkungen. Durch bestimmte Gegenmaßnahmen können diese vermindert werden.
• Es kann zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen.
• Auch mit Nahrungsergänzungsmitteln, Phytotherapeutika etc. kann es zu Wechselwirkungen kommen. Diese dürfen daher nur in Rücksprache mit dem Tierarzt angewendet werden.
• Höchste Vorsicht ist geboten bei der gleichzeitigen Gabe von Medikamenten oder Produkten, welche den Serotoninspiegel erhöhen. In diesem Fall kann es zum Serotonin-Syndrom kommen, welches im schlimmsten Fall tödlich ist.

Pdf zu diesem Artikel: verhaltenspillen

 

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