Die Kyniker: Philosophische Streunerhunde

Von Dr. Hans Mosser

Philosophische Streunerhunde – oder streunende Philosophen? Sie lebten in der Antike, nannten sich selbst Weltbürger, waren die ersten, die Öffentlichkeit provozierenden »Aktionskünstler« und lebten ihren Alltag wie streunende Hunde: Die Kyniker, deren bekanntester Diogenes von Sinope war. Von ihm, seiner Philosophie und den ihm zugeschriebenen Attributen – ein Fass, ein Rucksack und ein Hund – ist hier die Rede.

Fast alles, was wir von Diogenes wissen, der vor 2.500 Jahren in der Stadt Sinope am Schwarzen Meer (heute Hauptstadt der gleichnamigen türkischen Provinz) geboren wurde und die meiste Zeit in Griechenland lebte, stammt aus Legenden und Anekdoten. Diogenes hat sich selbst den Beinamen »ho kyon« gegeben, altgriechisch für Hund. Dies, weil er an den Hunden ihre Freiheit und Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen schätzte, wohl aber auch ihre Authentizität. Hunde spielen dem Menschen nichts vor, sondern sind, wie sie sind, und nehmen einen, wie man ist.

Auch Diogenes fühlte sich frei von gesellschaftlichen Konventionen und provozierte seine Mitmenschen gerne mit seiner Schamlosigkeit. Eine Anekdote berichtet, dass er häufig öffentlich onanierte und seinem Publikum dabei mitteilte, wie gut es doch wäre, könnte man auch durch bloßes Reiben des Bauches seinen Hunger stillen. Weil dies aber nicht funktioniere, müsse er betteln, um nicht zu verhungern. Erhielt Diogenes nichts oder zu wenig, dann pinkelte er den aus seiner Sicht geizigen Geber einfach an, um diesem seine Verachtung zu zeigen. Denn andere Menschen interessierten ihn nur insoweit, als sie ihm seine ohnehin schon stark reduzierten Bedürfnisse zu stillen halfen. Er zog in Athen und Korinth mit einem Rucksack herum und schlief in Säulengängen oder auf der Straße. Oder eben auch in einem leeren Fass, wie es in der Antike für Vorräte verwendet wurde. Ein überzeugter Obdachloser also. Begleitet wurde er stets von Streunerhunden, wahrscheinlich, weil sie von seinem erbettelten Essen immer etwas abbekamen. Dafür wärmten sie ihn vielleicht des Nachts, wenn es kühl war.

Geh‘ mir aus der Sonne
Eine der bekanntesten Anekdoten über Diogenes erzählt von einer Begegnung mit Alexander dem Großen. Dieser hatte von dem seltsamen Mann gehört und wollte ihn kennenlernen. Als er Diogenes aufsuchte, lag dieser gerade auf dem Marktplatz am Boden, um ein Mittagsschläfchen zu machen. Als Alexander ihn aufweckte und sich als König von Makedonien vorstellte, habe Diogenes geantwortet, er heiße Diogenes, der Hund. Und als Alexander ihn fragte, ob er einen Wunsch habe, den er ihm gerne erfüllen würde, habe der weiterhin am Boden Liegende geantwortet: »Ja, geh‘ mir nur ein bisschen aus der Sonne!«
Unhöflichkeit und Provokation waren Ausdruck seiner Verachtung aller Konventionen und des normalen gesellschaftlichen Lebens. Ihn und seine Anhänger könnte man – in Anlehnung an die 1968er-Bewegung – durchaus als die Hippies der Antike bezeichnen. Sie lehnten Privateigentum ebenso ab wie jede Form des konventionellen Kulturbetriebs, und die herrschende Regierungsform ebenso wie die Ehe.

Anders als die Hippies der 1960er Jahre propagierten sie jedoch eine maximale Bedürfnislosigkeit. Die Kyniker, wie man die Anhänger dieser Lebensform in der Antike nannte, lebten also bewusst asketisch. Doch anders als Eremiten, die sich in die Wüste zurückzogen, um in Bedürfnislosigkeit ein rein geistiges Leben zu führen, brauchten Diogenes und seine Anhänger die Gesellschaft, um in Kontrast zu ihr das eigene Leben als provokanten besseren Vergleich darstellen zu können. Denn natürlich wollten sie provozieren, um nachzuweisen, dass sie im Gegensatz zur Mehrheit gerade nicht Sklaven materieller Werte waren. Auf Marktplätzen und in anderen öffentlichen Foren diskutierten sie den philosophischen Hintergrund ihres Tuns bzw. Nichttuns und ihres weitgehend bedürfnislosen, aber dafür freien Lebens.

Die Schule der Kyniker
Als Kyniker wird die von Antisthenes (ca. 445-365 v.Chr.), dem Lehrer von Diogenes, begründete Philosophenschule bezeichnet, deren bekanntester Vertreter eben Diogenes war. Sie suchten ein glückliches Leben durch absolute Unabhängigkeit von jeglichen Konventionen und Zwängen. Auch eigene innere Triebe stünden dieser Freiheit im Wege, weshalb sie überwunden werden müssten, ebenso wie die Angst vor Schicksalsschlägen und das Streben nach Gütern und nach Bequemlichkeit. Ein völlig asketisches Leben sei der einzige Weg zu innerer Freiheit und zu Weisheit, so ihre Philosophie.

Mit der Zeit ging es dann aber immer weniger um echte Askese und radikale Enthaltsamkeit. Vielmehr wurde nun die Gleichgültigkeit gegenüber allen Dingen und auch gegenüber eigenem Besitz das erstrebenswerte Ideal. Man musste also nicht mehr unbedingt obdachlos sein und sein Leben mit Betteln fristen. Aber wichtig war es, gegenüber allem, was man besaß und benutzte, emotional unabhängig zu bleiben.

Wo der Hund liegen blieb
Der Zusammenhang der Bezeichnung Kyniker mit Hunden beruht aber nicht auf der Tatsache, dass Diogenes sich selbst den Beinamen Hund gab und auch wie ein Streunerhund lebte. Vielmehr hieß ein Gymnasium in Athen, an dem Antisthenes lehrte, Kynosarges. Der Name des Gymnasiums bezieht sich auf ein Heiligtum des Herakles Kynosarges, das an dieser Stelle errichtet worden war.

Wie kommt nun Herakles zum Beinamen Kynosarges? Nach einer Anekdote habe Diomos, eine Gestalt der griechischen Mythologie, dem in den Olymp aufgenommenen Herakles ein Opfer darbringen wollen. Plötzlich schnappte sich ein weißer Hund das Opferfleisch und lief davon. Diomos folgte dem Hund und ließ dann an dem Ort, wo das Tier sich niedergelassen hatte, um das gestohlene Fleisch zu verzehren, ein Heiligtum errichten, das er Heraklit Kynosarges nannte. Kynosarges bedeutet nämlich griechisch »wo der Hund liegen blieb« . Und weil nun die ersten Zusammenkünfte der Anhänger des Antisthenes in dem Gymnasium Kynosarges stattgefunden haben, erhielt auch gleich diese beginnende philosophische Richtung ihren Namen.

Doch kam diese Anspielung auf den Hund den Kynikern ohnehin nicht ungelegen, wollten sie ja so wie Streunerhunde ein unabhängiges Leben führen. Dass dazu auch das ungezwungene Verrichten ihres Geschäftes an öffentlichen Orten gehörte, war für sie selbstverständlich. Allerdings hatten sie naturgemäß weder Herrchen noch Frauchen, welche ihre Hinterlassenschaften danach entsorgten. Dass sie dadurch Unmut erregten, ebenso wie mit anderen ihrer öffentlichen schamlosen Aktionen, darf angenommen werden.

Weil die Kyniker jedoch eher als Narren denn als Gefährder des öffentlichen Lebens und der Staatsräson galten, konnten sie ihre Lebensweise ungezwungen ausüben. Sehr lange hielt sich ihre Bewegung allerdings nicht. Diogenes hatte nur einige wenige Schüler, sein philosophisches Erbe ging dann letztlich in der stoischen Philosophie auf, die u.a. durch das Streben nach Gelassenheit und Affektlosigkeit bestimmt war.

Die Kyniker sollen aufgrund ihres Lebens alle sehr alt geworden und nicht selten durch Selbstmord aus dem Leben geschieden sein. So soll sich etwa der Kyniker Metroklos mit seinen eigenen Händen erwürgt haben und Demonax soll einfach zu essen aufgehört haben. Diogenes starb mit ca. 90 Jahren um 323 v. Chr. in Korinth, angeblich ebenfalls durch Selbstmord, indem er einfach den Atem angehalten haben soll. Obwohl er nicht begraben, sondern den Tieren zum Fraß vorgeworfen werden wollte, begruben die Korinther ihren seltsamen Prominenten und schmückten sein Grab mit einem Marmorhund. Eine Statue des Diogenes mit einem Hund befindet sich heute in seiner Geburtsstadt Sinope.

 

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