Die Kastration des Rüden aus verhaltensbiologischer Sicht

Von PD Dr. Udo Ganslosser

Die Geschichte der Kastration des Rüden ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Noch immer hält sich bei vielen Tierärzten, Trainern und Hundehaltern hartnäckig der Glaube daran, dass die ­Kastration ein chirurgisches Wundermittel bei unterschiedlichsten Verhaltensproblemen darstellt. Doch eine Kastration kann niemals eine vernünftige Verhaltenstherapie ersetzen, und viele Probleme, die mit den Sexualhormonen – in diesem Fall mit dem Testosteron – in Verbindung gebracht werden, stammen aus völlig anderen Funktionskreisen und lassen sich durch eine Kastration überhaupt nicht beeinflussen, wie Tierärztin Sophie Strodtbeck und Verhaltensbiologe Dr. Udo Gansloßer betonen.
Im Folgenden versuchen die Autoren eine Entscheidungshilfe pro oder kontra Kastration zu geben.

Vorausgesetzt werden muss, dass der § 6 des deutschen Tierschutzgesetzes ­eindeutig das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres verbietet. Ausnahmen gibt es, wenn eindeutige medizinische Indikationen vorliegen, über die an dieser Stelle auch nicht diskutiert werden soll. Im österreichischen Tierschutzgesetz sind  lt. § 7(2) Eingriffe zur Verhütung der Fortpflanzung ausdrücklich zulässig.
Eine unerwünschte Fortpflanzung kann auch durch eine Sterilisation, also durch eine Durchtrennung der Samenleiter, zuverlässig erreicht wer­-
den, dabei wird nicht in den Hormonhaushalt eingegriffen und es sind ­keine Nebenwirkungen zu erwarten.

Frühkastrationen

Kategorisch muss aber in jedem Fall die Praxis der Frühkastration abgelehnt werden. Von einer Frühkastration spricht man, wenn bereits vor Abklingen der Pubertät kastriert wird. Dieser Trend schwappt leider, vor allem bei der Hündin, aber zunehmend auch beim Rüden, aus den USA, wo diese Praxis an der Tagesordnung ist,  zu uns herüber. Hierbei entstehen nur negative Folgen für die Hunde: die betroffenen Tiere werden ­aggressiver gegenüber ­gleichgeschlechtlichen Artgenossen und insgesamt un­­sicherer, nicht nur gegenüber anderen Hunden. Sie bleiben in der körper­lichen Entwicklung zurück und werden nie richtig erwachsen, da ihre geistige Leistungsfähigkeit nicht voll ausgereift ist. Das liegt daran, dass sich das Gehirn unter dem Einfluss der Sexual­hormone in der Pubertät ­nochmals weiterentwickelt.

Gründe für Kastrationen

Wie eine Befragung der Hundehalter im Rahmen der „Bielefelder Kastrations­studie“ (Niepel, 2007) ergab, stellt unerwünschtes ­Verhalten den häufigsten Grund für eine ­Kastration dar (74%), gefolgt von 30% der Befragten, die Haltergründe, also bspw. das Zusammenleben von Hündin und Rüde in einem Haushalt angaben. Nur bei 21% der Hundehalter spielten medizinische Überlegungen eine Rolle. (Da auch Mehrfach­nennungen möglich waren, ergeben sich insgesamt über 100%).

Aggression ist nicht gleich ­Aggression
Sehr weit verbreitet ist immer noch der Glaube, dass man durch eine Kastration Aggressionsverhalten beseitigen kann. Dies ist allerdings nur in ganz seltenen Fällen ­gegeben und bedarf einer genauen und ­differenzierten Analyse des gezeigten Ver­haltens, da es „das Aggressions­verhalten“ per se nicht gibt. Aggression ist vielmehr ein Mehrzweck­verhalten, das immer mit der Be­seitigung störender oder als gefährlich eingestufter Umwelt­einflüsse im Zusammenhang steht.

Angstaggression
Eine sehr häufig auftretende Form der Aggression stellt die ­Angstaggression dar. Bei dieser ist eine Kastration ­völlig kontraindiziert und wird das Problem deutlich verschärfen. Der Grund hierfür ist, dass Panik- und Angstreaktionen, die durch einen, auch befürchteten, ­Kontrollverlust oder das Erwarten einer ­gefährlichen Situation seitens des Tieres ent­stehen, unter der Kontrolle des Stress­hormons Cortisol aus der Neben­nierenrinde stehen. Das männliche Sexualhormon Testosteron hemmt die Cortisolausschüttung, wirkt dadurch angstlösend und steigert das ­Selbstbewusstsein. Durch die Wegnahme der Sexualhormone macht man diese Tiere noch un­sicherer, was zu einer Verschlimmerung des gezeigten ­Verhaltens führt. Eine ­Kastration ist hier also absolut kontra­indiziert.

Die geschilderten Zusammenhänge stellen natürlich die gängige Praxis, Tierheimhunde generell zu kastrieren, in Frage, da diese Hunde ja durch eine komplette Änderung der Lebens­umstände und -umgebung schon per se gestresst sind. Diese tiefgreifende Entscheidung sollte also nur nach gründlicher Einzelfallbeurteilung und unter Berücksichtigung der ­Per­sönlichkeit des Hundes getroffen werden.

Sicherheit geben statt ­Testosteron nehmen
Genauso wie die Angstaggression steht die Futterverteidigung unter dem Einfluss des Stresshormons ­Cortisol und hat keinerlei Beziehung zu den Sexualhormonen.

Die sogenannte Selbstverteidigungsaggression hingegen wird durch die Hormone und Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin aus der ­Neben­niere geregelt. Problematisch für den Hun­de­­halter ist, dass gerade ein als Problemlösung erprobtes Verhalten vor allem in Furcht einflößenden Situa­tionen sehr schnell gelernt und als Problemlösungsstrategie abgespeichert wird. Auch bei diesem „Lernen am Erfolg“ hat das erwähnte ­Noradrenalin seine Finger im Spiel, Sexual­hormone sind auch hier nicht beteiligt.

Einzig sinnvolle Maßnahme ist hier ein individuelles Verhaltenstraining, einhergehend mit einer Verbesserung der Führungskompetenz des ­Halters. Besonders diesen Hunden muss Sicherheit gegeben und nicht ­Testosteron genommen werden.

Jungtierverteidigung und ­Infantizid (Kindstötung)
Verantwortlich hierfür ist das sogenannte „Elternhormon“ Prolaktin, dessen Konzentration  nachgewiesener­maßen auch bei männlichen Tieren in Anwesenheit von Jungtieren oder ­Kindern in der Familie, oder bei Schwangerschaft der Halterin, ansteigt. Der biologische Auftrag des Prolaktins ist es, dafür Sorge zu tragen, dass Welpen und Kinder der eigenen Familie (auch von männlichen Tieren) verteidigt und betreut werden. Die Folge ist nicht nur eine aggressive Verteidigung der Individualdistanz zur schwangeren Halterin, oder einer sonstigen schwangeren Bezugsperson, sondern gleichzeitig oft auch eine deutliche Unfreundlichkeit gegenüber fremden Kindern, bzw. Junghunden. Dieses Verhalten wurde auch bei ­kastrierten Tieren nachgewiesen. Zusätzlich ist, zumindest beim Wolf, auch ein saisonal bedingter Prolaktin­anstieg bekannt. Da hohe Testosteron­spiegel wiederum den An-stieg von Prolaktin hemmen, ist auch bei dieser Problematik eindeutig von einer Kastration des Rüden abzuraten.

Partnerschutzverhalten
Das Partnerschutzverhalten wird durch das „Eifersuchtshormon“ ­Vasopressin ausgelöst, das dafür sorgt, dass der Halter, bzw. beim Hunde­rüden speziell die Halterin, verteidigt wird. Besonders in der Frühphase einer Beziehungsneu­bildung spielt es gemeinsam mit dem Bindungshormon Oxytocin eine wichtige Rolle, indem unbeteiligte Dritte ferngehalten werden. Aber auch generell sind diese beiden Hormone an der Regelung sozialer Beziehungen beteiligt. Auch dieses Hormonsystem lässt sich durch eine Kastration nicht beeinflussen.

Echte Status- und Wettbewerbs­aggression
Anders ist die Situation bei einer echten Status- oder Wettbewerbsaggression oder auch bei einer territorialen Aggression. Hier könnte die Kastration eine Verbesserung der Problematik bewirken – allerdings nur dann, wenn das gezeigte Verhalten wirklich hormongesteuert und noch nicht erlernt ist. Jedoch ist bei vielen Tierarten (z.B. Pferden und Affen) erwiesen, dass der  Testosteronspiegel nach der Rangverbesserung ansteigt, d.h. erst werden Aggressio­nen gezeigt, dann steigt die Konzentration der Sexualhormone. Dies widerlegt die These „viel Testosteron = viele Rangordnungskämpfe“.

Die Sache mit der Dominanz …
Immer wieder ist vom „Dominanz­verhalten“ die Rede, welches die ­Wurzel allen Übels sei, und das nur zu oft als Indikation für eine ­Kastration herhalten muss. Dominanz ist aber keine Eigenschaft, sondern eine Beziehung, und zwar eine, die von unten nach oben stabilisiert und nicht andersrum von oben nach unten „durchgeboxt“ wird. Ein wirklich als dominant anerkanntes Tier ist ­souverän und hat keine ­Aggression nötig. Einem dominanten Tier ­werden freiwillig Privilegien zugestanden, sprich, es kann jederzeit seine ­Interessen ohne den Einsatz von Gewalt gegen den Anderen durch­setzen. Das oft als Dominanz bezeichnete Verhalten hat also nichts mit einem Dominanzstreben des Hundes zu tun,  sondern spiegelt in den meisten Fällen einen mangelnden Führungsanspruch bzw. mangelnde Führungskompetenz des Halters wider. Dass hier eine Kastration keine Abhilfe schaffen kann, muss wohl nicht extra erwähnt werden.

Streunen und Jagdverhalten
Einen weiteren Grund für eine ­Kastration stellt oft das Streunen bzw. das Jagdverhalten dar. Richtig ist zwar, dass beim männlichen Säugetier die Tendenz, größere Streifgebiete zu nutzen, diese zu markieren und zu kontrollieren, unter dem Einfluss der Sexualhormone im Gehirn angelegt wird, allerdings geschieht das schon vor der Geburt und lässt sich danach kaum mehr beeinflussen.

Etwas anderes ist das Streunen in Anwesenheit läufiger Hündinnen, das tatsächlich sexuell motiviert ist und durch eine Kastration gegebenenfalls beeinflusst werden kann.

Das Jagd- und Beutefangverhalten des Caniden wird durch sehr einfache Reize ausgelöst: Ein sich schnell vom Tier weg bewegendes Objekt löst eine Verfolgung, bzw. Beutefang­verhalten aus, auch dies hat nichts mit den Sexualhormonen zu tun.

Hypersexualität
Bei der sogenannten Hypersexualität des Rüden muss klar differenziert werden, aus welchem Verhaltenskreis sie entspringt. Aufreiten hat sehr oft gar nichts mit dem Sexualverhalten zu tun. Häufig ist es einfach eine Übersprungshandlung, oder es handelt sich um eine Bewegungstereotypie, die dem Stressabbau dient. Wird das Verhalten zwischen mehreren ­Hunden einer etablierten Gruppe gezeigt, handelt es sich meist um Spiel.

Auch sollte bei der Entscheidung pro oder kontra Kastration aus diesem Grund beachtet werden, dass auch kastrierte Rüden in Anwesenheit einer läufigen Hündin oft noch komplettes Paarungsverhalten inklusive Hängen zeigen, und das auch noch jahrelang nach der Kastration. Das liegt daran, dass bei sexuellen Aktivitäten der Glücksbotenstoff Dopamin ausgeschüttet wird, dessen selbstbelohnende Wirkung nachgewiesen ist. Dopamin spielt übrigens auch beim Menschen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Suchterkrankungen. 

Nur wenn es sich tatsächlich um ­sexuell motiviertes Verhalten ­handelt, ist eine Kastration eventuell in Erwägung zu ziehen – aber dies sollte unbedingt im Vorfeld mit ­professioneller Hilfe durch genaue Analyse der auftretenden Situationen geklärt werden!

Einzelfellentscheidung
Nach der Lektüre dieses ­Artikels sollte klar sein, dass sich eine ­Kastrationsempfehlung nicht pauschal aussprechen lässt, sondern immer die Ursachen der Verhaltensauffälligkeiten genauestens analysiert werden sollten, um die gezeigte Problematik nicht weiter zu verschärfen.

In Einzelfällen, wie etwa beim Herum­streunen bei Anwesenheit läufiger Hündinnen, bei einer echten, durch Sexualhormone ausgelösten Hyper­sexualität, oder bei einer echten statusbedingten Aggression, kann  die Entscheidung für eine Kastration richtig sein und eine Verbesserung der Problematik mit sich bringen, aber auch nur dann, wenn das ­gezeigte Verhalten durch Sexualhormone gesteuert wird und noch nicht erlernt ist. Auf gar keinen Fall aber kann eine Kastration eine Verhaltenstherapie ersetzen oder gar als Allheilmittel gesehen werden.

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