Die Gallionsfiguren der modernen Hundeerziehung

Von Andrea Specht

Die eigentliche Arbeit der Organisatorin Clarissa von Reinhardt, bekannt als Gründerin von „Animal Learn" und Verfechterin gewaltfreier Hundeerziehung, lag wohl in der Vorbereitung des Symposiums. Ganz besonders hervorzuheben ist ihre Leistung, „Gallionsfiguren" moderner Hundeerziehung wie Turid Rugaas und Anders Hallgren, Ann Lyll Kvam, Sheila Harper, Martin Pietralla und Joachim Leidhold, sowie den Wolfsforscher Erik Zimen zur selben Zeit am selben Ort zu versammeln. Die Verschiedenheit der einzelnen Referenten bei ähnlicher Grundeinstellung zu wesentlichen Prinzipien des Umgangs mit Hunden ließ an keinem der drei Tage Langeweile aufkommen. Bei fremdsprachigen Vorträgen standen jedem Teilnehmer Kopfhörer für die deutsche Simultanübersetzung zur Verfügung.

Rückenprobleme durch Leinenruck!
Anders Hallgren und Ann Lyll Kvam referierten gleich mehrmals. Besonders der schwedisch-amerikanische Hundetrainer und Buchautor Anders Hallgren beeindruckte dabei durch sein umfassendes Hundeverständnis, das er dem Publikum mit viel Esprit und Humor näher brachte. Seine eigentlichen Themen „Der Hund als Rauchmelder" und „Rückenprobleme beim Hund" erweiterte er in insgesamt zwei Stunden Redezeit zu einer universellen Gesamtbetrachtung zum Thema Hundeverhalten. Hochinteressant war dabei der von Hallgren bestätigte Zusammenhang zwischen Rückenproblemen des Hundes einerseits mit abnorm gesteigertem Aggressionsverhalten, und andererseits mit der Anwendung von Leinenruck als Erziehungsmittel. Nicht verwunderlich, und doch in manchen Hundeschulen trotzdem noch immer Usus ist die bekannte schädigende Wirkung von Kettenwürger und Leinenruck auf die Tiergesundheit: 91 Prozent aller Hunde mit Halswirbelschädigungen waren mit Leinenruck ausgebildet worden bzw. notorische „Leinenzieher". Erstmals wurde auch auf die Gefahr von Kopfschmerzen durch ständige Einwirkungen auf die Halswirbelsäule hingewiesen.

Breites lockeres Halsband oder Brustgeschirr empfohlen
Hallgren empfiehlt ein breites, lose angelegtes Halsband oder gut sitzendes Brustgeschirr und lehnt Kettenwürger kategorisch ab. Erfreulich (nicht nur bei Hallgren) die partnerschaftliche Betrachtung der Mensch-Hund-Beziehung, fernab von Kadavergehorsams-Dogmen alter Schule, sowie das immer wieder Aufmerksammachen auf Verständigungslücken zwischen Mensch und Hund. Wohltuend das Herausarbeiten der grundsätzlich immer wieder missverstandenen Führerschaftsposition des Menschen, nicht als gewaltsame Machtausübung, die den Hund zum befehlsausführenden Vollautomaten degradiert, sondern im Sinne elterlicher Führerschaft – basierend auf natürlicher Autorität – durch gegenseitigen Respekt und Vertrauen. Besonders Anders Hallgren und Turid Rugaas überzeugten durch gelebtes Wissen, Verständnis und Sensibilität Hunden gegenüber. Beide legen großes Augenmerk auf das Erkennen und Deuten körperlicher Signale als Ausdruck von Krankheit, Schmerz, Stress oder eben Freude und Lebenslust.

Über die „calming signals" der Hunde
Turid Rugaas aus dem hohen Norden Norwegens, Autorin und internationale Expertin, sprach aus, was gerade auch in Zeiten von Rasselisten gesagt werden muss: „Jedes Lebewesen hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Auch ein Hund." Damit ist viel gesagt, was schief läuft im Umgang mit unseren Hunden. Hunde werden als böse verurteilt, wenn sie knurren, wenn sie zuschnappen. Beides geschieht jedoch oft aus einer Verteidigungsposition heraus, wenn die hundlichen Beschwichtigungs-Signale, die „calming signals" (wie Rugaas sie nennt) vom Menschen nicht erkannt, verkannt oder ignoriert werden. Unsere Hunde setzen ständig Beschwichtigungssignale wie Gähnen, über den Fang lecken, Blick abwenden, Ohren anlegen, in Bögen aufeinander zugehen. Manchmal sind diese Zeichen so subtil, fast unsichtbar oder blitzschnell, dass ein unachtsamer Betrachter sie nicht wahrnimmt. Doch jeder Hund versteht diese Signale. Eine internationale Sprache der Hunde, die wir Menschen nur verstehen und erlernen müssen. Auch wir können so mit unseren Hunden kommunizieren, meint Turid Rugaas, und Hunden verständlich machen, dass wir nicht bedrohen wollen, sondern in friedlicher Absicht in Kontakt treten. Viel zu oft bedrohen Menschen Hunde, ohne es zu wissen und zu wollen. Die meisten Hunde tolerieren unser unhöfliches Benehmen, beißen uns nicht, wenn wir uns bedrohlich über sie beugen, sie hochheben, sie anstarren, ihre Individualdistanz verletzen, ihnen körperliche Nähe aufzwingen. Doch wohler fühlen sich Hunde in unserer Gegenwart, wenn wir ihre Signale erkennen und ihr Wesen respektieren.

Die alte Mär vom Nackenschütteln der Welpen
Wie „Problemhunde" zu „normalen" Hunden werden, wenn wir ihnen auf hundliche Weise entgegentreten, demonstrierte die Norwegerin anhand einiger interessanter Videos. Wir dürfen Hunde nicht für ihr natürliches Verhalten bestrafen. Das ist ein weiterer Kernsatz der Norwegerin. Einem Jogger nachzulaufen ist natürliches hundliches Verhalten, ebenso der Drang, eine Beute festzuhalten. Viele Probleme im Umgang mit Hunden entstehen, weil wir in unserer naturentfremdeten Gesellschaft natürliches Verhalten nicht akzeptieren oder verstehen können. Rugaas weist im Zusammenhang mit Missverstehen auf das noch immer praktizierte Nackenschütteln bei unerwünschtem Verhalten hin. Doch das Schütteln bedeutet in der Sprache unserer Hunde Totschütteln, bedeutet so viel wie: Ich will Dich töten. Keine Hunde- oder Wolfsmutter bestraft ihre Welpen durch Totschütteln.

Oft ist Hundehalter selbst Angstauslöser beim Hund
Sensibel, hochinteressant und äußerst kompetent referierte Sheila Harper über ihre Arbeit mit ängstlichen Hunden. Interessante Untersuchungsergebnisse ihrer Arbeiten lassen sich auf konkrete Tierschutzprobleme übertragen. Etwa der Einfluss von Stressfaktoren im Umfeld einer tragenden Hündin auf die ungeborenen Welpen und der Zusammenhang von Stress in den ersten Lebenswochen und späteren Verhaltensproblemen. Erkenntnisse, die sich „eins zu eins" etwa auf die Problematik von Importwelpen in Zoohandlungen umlegen lassen und eine einfache Erklärung bieten für die Häufigkeit von Verhaltensstörungen von Rassewelpen aus Tierhandlungen oder von Vermehrungszüchtern.

Ebenso kann das ängstliche Verhalten einer Mutterhündin die Welpen lehren, die gesamte Umwelt als lebensbedrohende Situation wahrzunehmen. In vielen Fällen ist nach Harpers Erfahrung der Tierhalter selbst Angstauslöser, etwa durch Anspannen der Leine bei Begegnungen mit anderen Hunden oder verstärkendes Streicheln bei ängstlichem Verhalten oder einfach durch Verknüpfungen, die der Hundehalter nicht als solche erkannt hat. Als Beispiel erzählt Sheila Harper von einem Hund, der Angst vor bestimmten Bällen zeigte. In Gesprächen stellte sich heraus, dass er gebissen worden war und in diesem Moment ein solcher Ball in seinem Blickfeld lag, was der Hund offenbar miteinander verknüpft hatte. Sheila Harper zeigte anhand praxisnaher Fallbeispiele, wie sie mit ängstlichen Hunden arbeitet, wie Desensibilisierung funktioniert und wie wichtig dabei genaues Beobachten, Erkennen und vor allem Zeit sind. Harper warnt gerade beim Umgang mit ängstlichen oder angstaggressiven Hunden vor Schnell-Lösungen, die langfristig keinen Erfolg zeigen. Sie betont, wie häufig aggressives Verhalten angstbegründet ist und missinterpretiert wird. Als Beispiel nennt sie einen Hund, der einen Besucher, der nach der Zeitung griff, biss. Der Hund war von jeher von seinem Besitzer mit der gefalteten Zeitung bestraft worden. Er verknüpfte daher Zeitung stets mit Strafe. Als der Besucher arglos die Zeitung nehmen wollte, biss der Hund aus Angst vor Bestrafung zu.

Angst durch Überforderung
Der Aspekt Angst durch Überforderung ist vor allem für Tierheimhunde interessant. Gerade bei Hunden mit ungewisser Herkunft und Vergangenheit ist Überforderung in ihrem neuen Zuhause (wenn auch unbeabsichtigt) ein enormer Stressfaktor, der letztendlich angstaggressives Verhalten auslösen kann. Für den Hundehalter unbedeutende Einflüsse wie etwa eine eingeschaltete laute Waschmaschine in der Küche können bei geräuschempfindlichen Hunden großen Stress auslösen. Harper empfiehlt, einfach Zeit zu geben, damit der Hund sich an alles gewöhnen kann, und ihn keineswegs mit Geräuschen, Menschen oder Aufmerksamkeit zu überfordern. Ein fremder Hund braucht in erster Linie Orientierungshilfen und einen überschaubaren Tagesablauf, um sich sicher zu fühlen. Wir müssen Hunde aus angsteinflößenden Situationen herausführen, ihnen Hilfe geben. Ansonsten wird Angst schnell zu erlerntem Verhalten. Für die Arbeit mit dem ängstlichen Hund rät die Engländerin, weit entfernt von angstauslösenden Faktoren zu beginnen und in kleinsten Schritten zu arbeiten, um den Hund nicht zu überfordern. Für eine positive Angstbekämpfung ist wiederum eine genaue Beobachtung und Erfassung kleinster Signale des Hundes Voraussetzung, womit sich der Kreis zu Turid Rugaas und Anders Hallgren wieder schließt.

Prof. Pietralla: Belohnung als wichtiges Trainingselement
Referent und „Clicker-Papst" Prof. Dr. Martin Pietralla widmete sich seinem Thema und der ambivalenten Einstellung vieler Hundehalter zum Einsetzen von Belohnung als Trainingselement. Für die einen Bestechung, für die anderen ein Versuch der Verständigung: Ich gebe dem Hund etwas für ihn Wichtiges, damit er etwas für mich Wichtiges tut. Was ist schlecht daran, fragt Pietralla – und liegt es vielleicht nur am egozentrischen Weltbild mancher Menschen, Belohnung nicht zulassen zu wollen? Ist es der fromme Wunsch oder die selbstüberschätzende Einstellung, dass der Hund etwas einzig um des Herrchens selbst willen zu machen habe und nicht wegen des Futters?

Doch denken wir an uns, selbst egoistische Individuen, die am allerliebsten etwas zu unserem eigenen Vorteil tun. Der Hund ist uns hierin ähnlich, ein auf seinen Vorteil bedachtes und von der Natur zum perfekten Futtersucher ausgerüstetes Lebewesen. Macht ihn das zum schlechteren Charakter, oder ist es nicht einfach ganz natürlich, gerne etwas um etwas anderes willen zu tun? Kann das zweibeinige Ego diese Erkenntnis nicht ohne Imageverlust verdauen? Orientieren manche sich da nicht an verfilmtem Hundekitsch á la Lassie, Rex und Krambambuli, wenn sie fordern, der ideale Hund müsse unbestechlich sein.

Clickern: Voraussetzung ist das Wissen, was dem Hund wichtig ist
Pietralla sagt: Das Etwas (die Belohnung) muss dem Hund wichtig sein. Und seine „Hitliste" an Wichtigem zu finden muss erste Aufgabe sein, um erfolgreich clickern zu können. Pietralla betont, was dem Hund wichtig ist, nicht uns, denn da zeigen sich oft erhebliche Unterschiede. Und: Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse, deswegen clickert der Experte aus Deutschland lieber, als er redet. Das Clickertraining ist für ihn eine Brücke zwischen Welten, besonders gut für die Arbeit mit Tierheimhunden geeignet, weil Berührung keine Voraussetzung ist. Das macht das Training mit dem Click besonders stressarm und sogar für Hunde geeignet, die keinen körperlichen Kontakt zulassen. Ausschnitte aus Pietrallas Videos zeigten eindrucksvoll harmonisches Arbeiten mit Hunden, aber auch Fehlerquellen und Stresssituationen.

Einsatz von Hunden ist grenzenlos
Perfektes Zusammenspiel von menschlichen und hundlichen Fähigkeiten demonstrierte auch die Norwegerin Ann Lyll Kvam in ihrem Referat über Minensuchhunde in Angola und die verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten zur Fährtenarbeit. Spannend führte sie ihre Zuhörer in ein Reich der fast unbeschränkten sinnlichen Möglichkeiten, kann doch ein Hund laut Kvam zwei Sandkörner auf einem 500 Meter langen Strand finden. Der Einsatz von Hunden ist grenzenlos, ist Kvam überzeugt. Wichtig für eine gute Fährtenarbeit sind nach Ansicht der norwegischen Expertin eine gewisse Hartnäckigkeit des Hundeführers und sein Wissen über die Vorlieben seines Hundes. Die Frage „Was macht ihn am glücklichsten?" ist die wichtigste Frage auf dem Weg zu guter Fährtenarbeit. Denn ohne Belohnung geht gar nichts.

Erik Zimen ergänzte das Symposium mit seinen seit vielen Jahren bekannten Ausführungen über den Wolf, Geschichte, Mythen, Verfolgung und Rückkehr. Der Biologe Joachim Leidhold zeigte seinen neuen Dokumentarfilm „Die Langnasen", eine Verhaltensstudie von Trumler-Hunden (siehe Filmrezension in WUFF 11/2002) und spendete seinen Vortragserlös für die Kastration von Hunden der Trumler-Station der Gesellschaft für Haustierforschung.

Clarissa von Reinhardt moderierte das Symposium kompetent und referierte selbst über das Thema „Der Hund als Trainingsassistent". Ein von sämtlichen Referenten signiertes Kunstwerk der Tiermalerin Bettina Richter wurde im Rahmen einer Tombola für Tierschutzzwecke versteigert. Das zweite internationale Hundesymposium soll im November 2003 stattfinden. Bleibt Animal Learn-Chefin Clarissa von Reinhardt ihren hohen Ansprüchen treu, kann es nur ein Erfolg werden.

>>> WUFF – INFORMATION

„Animal Learn" – ein wirksames Trainingskonzept.

Vor zehn Jahren wurde das Konzept von „Animal Learn" von Clarissa von Reinhardt gegründet. Die Leiterin und Hundetrainerin entwickelte das gewaltfreie „Animal Learn" Trainingskonzept und beschäftigt sich vor allem mit verhaltensauffälligen Hunden. Im Rahmen der Hundeschule organisiert Clarissa v. Reinhardt laufend Seminare und Workshops zu den Themen Hundeerziehung und Hundeverhalten. Das noch ganz junge Programm „Häuser der Hoffnung" soll Hunden helfen, die ihr Zuhause verloren haben. Hundetraining und Tierschutz sind für die engagierte Hundeexpertin eine untrennbare Einheit.

Info unter www.animal-learn.de oder telefonisch unter +49-(0)8641/ 598787. Anschrift: animal learn, Reit 11, D-83224 Grassau

Anmerkung: Wir möchten darauf hinweisen und positiv hervorheben, dass der Großteil des Erlöses des Symposiums für Forschungsarbeiten oder Naturschutzprojekte im Bereich Hund/Wolf verwendet wird. Außerdem wird in diesem Jahr die Forschungsarbeit von Turid Rugaas über Stress bei Hunden unterstützt. Zusätzlich wird – wie im Artikel erwähnt – ein finanzieller Beitrag zu der dringend notwendigen Kastration der Hunde der Eberhard-Trumler-Station geleistet.

Das könnte Sie auch interessieren: