Die Bestie und der Heilige: – Der Wolf kehrt zurück

Von Dr. Utz Anhalt

Der Wolf repräsentiert die Frage nach Kultur und Natur, Geist und Sterblichkeit. Der Menschwolf Hund durchbricht als Einziger die ­Grenze zwischen uns und ­anderen Tieren, der Wolf prägte die Kultur des Menschen. Jetzt kehrt er nach Mitteleuropa zurück und polarisiert die Menschen. Dem Rotkäppchenmärchen der Kinder fressenden Bestie steht die Verehrung des Wildnisgottes gegenüber – Canis Lupus lässt niemand kalt. Eine so originelle wie spannende Kulturgeschichte des Ahnen unserer Hunde.

Bilder vom Wolf überliefern sich kulturell, die wenigsten Menschen hierzulande haben reale Erfahrungen mit ihm, und in den Projektionen auf den wilden Beutegreifer spiegelt sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften – von den Jägern und Sammlern zu den Viehzüchtern, von Naturreligionen zum Christentum, von der Steinzeit zur Postmoderne.

Wolfsmenschen
Kein Tier steht dem Menschen näher als der Wolf in seiner Haustierform, dem Hund. So schreibt Barbara ­Ehrenreich: „Unsere wichtigsten Jagdlehrer waren wahrscheinlich (…) die in Rudeln vorgehenden Wölfe und wilden Hunde." Wie die frühen Menschen jagen Wölfe im Sozialverband, und auch im wilden Wolf ist der zahme Hund erkennbar – der Hund, den wir in die menschliche Familie aufge­nommen haben.

Der „Waldhund", so nannten ihn die Bauern im Mittelalter, beschäftigte die Fantasie seit jeher. Im gleichen Kulturkreis ist er mal Bösewicht, mal Wohltäter. Bei den Germanen verschlingt er die Welt an ihrem Ende, bei den Römern begründete eine Wölfin ihr Weltreich. Dschingis Khan 
(1162-1227) behauptete, vom ­Himmelswolf Bört-a-Tchai abzu­stammen, die Ägypter weihten ihre Stadt Lykopolis dem Wolf, ihr Wolfsgott Upukaut führte die Krieger in das Land des Feindes. In Griechenland strafte ein Wolf einen Räuber, der den Apollotempel in Delphi plünderte, und Lykaon, der König von Arkadien, musste als Wolf umgehen, weil er seinen Sohn dem Zeus geopfert hatte.

Wildtiere standen den Jägern als Beute, Konkurrenten um die Beute und Fressfeinde gegenüber – unsere Vorfahren waren auch Opfer. Zum Wolf zu werden bedeutete, mehr als ein Mensch zu sein, bedeutete, zum Gott zu werden – das Raubtier war der Gott des frühen Menschen. Die Erfahrung als Jäger und Beute prägte Homo Sapiens und der Mythos der Krone der Schöpfung ist Produkt eines evolutionären Traumas, in dem der Sieg menschlicher Technik keinesfalls feststand.

Die Vorläufer der Löwen, die Kurzschnauzenbären und Säbelzahntiger stellten die Spitze der Nahrungskette dar, nicht der frühe Mensch – zumindest nicht unbewaffnet und nicht allein. Seine Intelligenz, seine Waffen, die er den Tieren nachahmte, und seine Zusammenarbeit ließen den Menschen Schritt für Schritt zum bestimmenden Jäger werden. Ein anderer Beutegreifer jagte ebenfalls in der Familiengruppe, ­kommunizierte differenziert, aber lief schneller, konnte besser riechen und besser hören: Der Wolf. Der Wolf war der­jenige unter den Beutegreifern, ­dessen Verhalten unseren Vorfahren am stärksten ähnelte.

Wolfsjäger
Der wilde Wolf jagt für sein Rudel, der domestizierte Wolf als Ohren, Nase und Fänge des nackten Affen für diesen. „Das Zusammentreffen dieser aufrecht gehenden karnivoren Augenwesen, die mit Hilfe ihres Gesichtssinns jagten, mit den vierbeinigen ­karnivoren Vorläufern unserer Hunde (…), die mit einem überragenden Geruchssinn ausgestattet waren, musste zu einer Partnerschaft führen, die die ganze Welt eroberte," so Erhard Oeser. Der Stammvater des Hundes ist der Wolf, das belegt die DNA.

Der Einsatz von Jagdhunden kann nicht am Anfang gestanden haben. Denn Jagdhunde müssen akustische und optische Signale der ­menschlichen Führer verstehen. Die Meutejagd lässt ahnen, wie ein frühes Verhältnis von Fleischesser Mensch und Fleischesser Wolf ausgesehen haben könnte: Die Wölfe erjagen die Beute, die frühen Menschen vertreiben sie mit Wurfgeschossen, Lärm und Feuer von der Beute. Hundemeuten im Dienst des Menschen sind eine kulturelle Entwicklung einer natürlichen Beziehung.

Nicht die Meutejagd, sondern die Pariahunde geben ein Bild des frühen Zusammenlebens von Wolf/Hund und Mensch. Diese „Underdogs", benannt nach den Unberührbaren Indiens, leben in Asien, Südeuropa und Afrika. Alfred Edmund Brehm (1829-1884) beschrieb sie als „zwar herrenlos, aber in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Menschen". Die Pariahunde nähern sich einer einheitlichen Form an, dem Dingo, Carolina-Dog und Basenji ­ähnlich, in Ägypten nannte Brehm sie „eine einzige Rasse". Hundeskelette aus den ersten Hochkulturen zeigen einen ähnlichen Knochenbau.

Spalteten sich Populationen von Wölfen genetisch ab, als sie sich den Lagern der Menschen anschlossen, und bildeten neue Formen? Spezialisierte sich der Hund als Jagdhund, Wächter und Spielgefährte erst aus diesen „Hundwölfen" heraus? Der Hund entwickelte neue Formen der Verständigung, Laute statt Mimik, und richtete seine Kommunikation auf den Menschen aus. Wölfe nutzen mehr als sechzig verschiedene ­Mienen zur Kommunikation, manche Hunde nur vier, sie bellen jedoch in zwölf ­verschiedenen Lauten. Der Wolf lebt in der natürlichen Welt, der Hund in der kulturellen, und Bellen ist Kommunikation mit dem Menschen: Wer gefüttert werden will, muss gehört werden. Doch wer in der Natur lärmt, wird gefressen, so der Biologe ­Norbert Sachser.

Traditionelle Jägerkulturen sehen im Wolf selten einen Feind. Die Überheblichkeit des modernen Menschen, der sich durch Technik den Raubtieren vollkommen überlegen wähnt, stört die Tatsache, dass Menschen sich auch von den ­Resten der Wolfsbeute ernähren und nicht nur umgekehrt. Der zweibeinige Aas­esser mit dem großen Gehirn verweist auf Widersprüchlichkeit dem Wolf gegenüber. So glauben die ­Koyukon in Alaska noch ­heute, dass einst ein Wolfsmensch mit den Menschen auf die Jagd ging und deshalb ­hinterließen die Wölfe ihren Menschenfreunden einen Teil der Beute oder trieben ihnen Wild zu. Die Koyukon legten dem Wolf für sie selbst unverdauliches Fett in der Nähe ihres Lagers aus und be­hielten das essbare Fleisch für sich. Sie betrachteten den Wolf als Partner und nicht als Rivalen.

Wölfe anzufüttern macht sie gefährlich; sie verlieren die Scheu vor dem Menschen, „a fed animal is a dead animal" lautet in Nationalparks das Gebot. Für Wölfe war es ein Vorteil, um die Lager des Menschen zu streifen und sich von den Resten zu ernähren. Und für die Menschen war es ein Vorteil, von der Beute des Wolfs zu essen. Und der Wolf hielt die natürlichen Feinde unserer Vorfahren, wie Großkatzen, in Schach, konnte ­Menschen aber töten – ein zweischneidiges Schwert und Ursache der zwei Gesichter des Wolfs im Mythos.

Wölfe und Lämmer
Viehzüchter domestizierten Herdentiere, die Jäger zuvor erlegt hatten. Sie zogen Tiere auf, schoren, molken und schlachteten sie. Die Schlacht­opfer sahen den Hirten allerdings nicht als Feind an, sondern als Leittier. Der Jäger hatte an der Aufzucht und dem Lebensverlauf der Beute keinen Anteil, und er betrachtete sie wohl auch nicht als seinen Besitz. Damit kannte er den entscheidenden Widerspruch des ­Hirten nicht.

Vor dem Jäger flohen die Tiere, er musste sich anpirschen, tarnen, im richtigen Moment den Speer werfen. Das tägliche Fleisch unter den Hörnern des Auerochsen und den Hufen des Wisents bedeutete Lebensgefahr – das Töten war der Erfolg. Der Hirte hingegen schor, molk und schlachtete Tiere, die ihm vertrauten, die sprichwörtlichen Lämmer, die zur Schlachtbank gingen. Sie waren seine Herde, nicht seine Beute. Die Tiere zu hüten wurde zum Selbstverständnis des Hirten, er versprach ihnen Schutz und nahm sich damit das Recht, sie zu nutzen und zu töten. Der Jäger Wolf, mit dem Jäger Mensch geheimnisvoll verbunden, wurde Feind des Hirten. „Der Herr ist mein Hirte", lautet das Diktum der christlichen Religion, Jesus ist das „Opferlamm der sündigen Menschheit". „Seid fruchtbar und mehret euch" kommt aus der Hirtentradition, deren Bestreben es war, die Herden zu vergrößern. Der Wolf aber wurde zum Tier des Teufels, der Teufel als Erzwolf bezeichnet. Ein Werwolf zu sein, ein Mensch, der sich in einen Wolf verwandelt, bedeutete im volkstümlich-christlichen Verständnis, einen Pakt mit dem Satan geschlossen zu haben. Der Hirtenhund wurde zum Beschützer, der Wolf zum Feind des Menschen.

Was der Wolf auch tat, es war falsch. Jagte er Hirsche, stellte er das Jagdmonopol der Herrschaft in Frage. Jagte er Nutztiere, brachte er die Viehzüchter gegen sich auf. Karl der Große verfasste im 9. Jahrhundert n. Chr. den ersten Erlass im bis heute andauernden Krieg gegen den Wolf. Die Anpassungsfähigkeit des Wolfes ist der Grund dafür, dass es ihn in Europa überhaupt noch gibt. Die Fiktion vom Wolf als Tier der Wildnis rührt daher, dass die Hochgebirge, Moore und ­tiefen Wälder ihm Zuflucht boten.

Götterwölfe
Die Wölfe des germanischen Götterkönigs Odin, Geri und Freki, begleiteten seine Schlachten. Fenrisulfr, d. h. Fenrir, der Sumpfwolf, ist des Riesen Lokis erstgeborener Sohn, auf die Welt gebracht von der ­Riesin ­Angrboda. Die Abstammung von Riesen ließ den Wolf wachsen und wachsen. Die Götter schmiedeten ihn deshalb an die Ketten – ohne Erfolg. So ließen sie die Alben, das sind Elfen, eine Schnur fertigen, aus ­Bärensehnen, den Bärten der Frauen, dem Tritt der Katze, dem Atem der Fische und den Wurzeln der Berge – aus Dingen, die es nicht gibt. Fenrir verlangte, dass ein Gott ihm die ­rechte Hand zwischen die Zähne legte, als Faustpfand. Tyr, der Gott des Kampfes und des Things (germanische Volks- und Gerichtsversammlung), erklärte sich bereit. Der Fenriswolf war gebunden und biss Tyr die Hand ab. In der Götterdämmerung, ­Ragnarök, wird sich Fenrir befreien und Odin ebenso wie die Sonne verschlingen.

Odinverehrer, die „Berserker" oder „Bärenhäuter", Elitekrieger der norwegischen Könige, kleideten sich in Bärenpelze und Wolfsfelle, um mythologisierte animalische Kräfte anzunehmen, versetzten sich mit Drogen wie Fliegenpilz in einen seelischen Ausnahmezustand. Ein anderer Name für besondere Kämpfer lautete ­„Ulfhepnar", die in Wolfshaut Gekleideten. Aberglaube vergangener Zeiten? Die Leibgarde der englischen Queen trägt Mützen aus Schwarz­bärenfell.

Die Berserker galten als Günstlinge Odins. Der hütete das Geheimnis von Leben und Tod, begleitet von zwei Wölfen und zwei Raben – ­Leibwache und Secret Service. Wolfsgötter mussten nicht männlich sein; auch die keltische Todesgöttin Morrigan verwandelt sich in eine Wölfin. Kelten und Germanen fürchteten und verehrten Wolfsgötter, ordneten sie dem Krieg und Tod zu und verweisen auf das Ungeheuer Mensch. Wer die Raubtiere bezwingt, wird der König, zur Macht gehört die Fähigkeit zu töten. Wolf war ein Heldenname, Wolfgang, der Gang in die Schlacht, Ulrich, der Wolfshüter oder Adolf, der adlige Wolf.

Seit der Antike demonstrierten die Herrscher ihre Stärke durch die Jagd auf „Ungeheuer". Reliefs aus dem alten Assyrien zeigen den König, wie er mit Pfeilen Löwen erlegt. Die Jagd auf den „Drachen", also das ultimative Raubtier, ist das Sinnbild des Ritters, des Adligen. Die Wolfsjagd hatte eine besondere Bedeutung. Zum einen ­präsentierte sich der Adel seinen Untertanen als Beschützer, der den Viehräuber unterwarf, zum anderen fand der „kleine Mann" einen Sündenbock, dem er jedes Unglück unterschieben konnte.

Teufelswölfe
Den Christen des Mittelalters galt Odin als Dämon und das Tier wurde der Teufel. Jesus und der Wolf zeigt als Sinnbild Gottes Kampf mit dem Teufel. Wolf bedeutete Verbrecher, Wölfe wurden wie der Teufel mit ­heiligen Sprüchen gebannt, wie Vampire mit Knoblauch vertrieben und Sünder sollten sich in Wölfe verwandeln, wenn die Hölle überfüllt war. Im „Hexenhammer", dem kirchlichen Leitfaden für die Massenvernichtung von fantasierten Hexen, beschrieb Heinrich Institoris 1486 den in einen Wolf verwandelten Menschen als vom Teufel Besessenen. Die Opfer verbrannten, von Denunzianten in die Foltermühlen der Justiz getrieben, auf Scheiterhaufen.

Den Teufelswahn nahm man mit nach Amerika und betrachtete die Einheimischen als Teufelsanbeter, die – wie die fantasierten Werwölfe – Menschen fraßen, denunzierte sie als Wolfsmenschen und Kannibalen, den Tieren näher als dem Christengott, Barbaren – Tiermenschen.

Indianerwölfe
Die amerikanischen Ureinwohner gelten als Freunde des Wolfes, die mit ihm in Einklang mit der Natur leben. Die nordamerikanischen Kulturen waren so unterschiedlich wie Tiroler Bergbauern und schottische Fischer, eines aber vereinte sie: Sie hatten außer dem Hund nur die Pute domestiziert, der entscheidende Konflikt zwischen Wolf und Mensch, die Viehzucht, fehlte ihnen. Nicht die Bedrohung durch den Viehräuber, sondern die Intelligenz und die sozialen Fähigkeiten des Wolfes befruchteten indianische Mythen. Der Wolf war der Lehrer, der seinem Clan sein Wissen vermittelte, und der Krieger, der sein Leben für das Leben seiner Familie in die Waagschale warf.

Dieses Bild veränderte sich mit der Viehzucht. Die Navajos erzählen Geschichten, in denen Wölfe und in Wölfe verwandelte Menschen ausschließlich negativ besetzt sind, den bösen Geistern zugeordnet. Die Navajos übernahmen die Schafzucht von den Spaniern und damit stand der Wolf auf der anderen Seite. Die mit ihnen verwandten Apachen blieben Jäger, Sammler und Räuber, der Wolf blieb ihr verehrter Vertrauter.

Wilde Wolfjunge
Rotkäppchen handelt nicht von Wölfen: Jugendliche treffen sich in Peer Groups außerhalb der Erwachsenen, Wölfe leben in der „Wildnis", so wie der Jugendliche in die weite Welt aufbricht. Rotkäppchen soll einen Korb zu ihrer Großmutter bringen. Im Wald begegnet sie dem Wolf. Rotkäppchen ist ein Mädchen auf dem Weg zur Frau. In der Welt draußen, auf dem Weg zur älteren Generation, begegnet sie einem Wolf, einem fremden Mann, und der frisst die Großmutter wie der erste Sexualpartner die Bindung der Jungfrau an die alte Generation frisst. Der Jäger, der Patriarch, tötet den Wolf, den fremden Mann und holt das Mädchen in die Familie zurück. Der Film „Zeit der Wölfe" behandelt das Thema freiheitlich. „Rosalie" läuft mit den Wölfen in den Wald. Denn wenn der Mann ein Wolf ist, muss die Frau selbst Wölfin werden, um ihm gewachsen zu sein.

Die dunkle Seite von wem?
Wolf, Nacht und Tod dachten viele ­Kulturen zusammen. Der Wolf folgte den Katastrophen, Friedhöfe bedeuteten Nahrung, Kriege bedeuteten Nahrung. Das Bild vom Menschenfresser manifestierte sich im Dreißigjährigen Krieg, die Dörfer lagen in Trümmern, die Höfe brannten aus, die Felder verwilderten und der Wolf kehrte zurück. Traumatisierte kämpften verzweifelt ums Überleben, sahen Wölfe Leichen fressen. Der Wolfsmensch wurde Metapher und Kinderschreck, Karl Marx bezeichnete den Kapitalismus als Werwolf, der die Welt verschlingt. Die Fleischfresser profitierten lediglich von Gräueln, die Menschen selbst anrichteten. Die Tiere sind weder Bestien noch Ökogötter, die Schreckbilder und Wunschträume der Rückkehr von Canis Lupus entstehen in der Psyche des Menschen: Der Wolf repräsentiert die Frage nach Kultur und Natur, Geist und Sterblichkeit, der Menschwolf Hund durchbricht als Einziger die Grenze zwischen uns und anderen Tieren, der Wolf prägte die Kultur des Menschen.

Kinder begeistern sich für den Wolf; „Reißerjournaille" und – wenige – militante Jäger spinnen heute Rotkäppchenmärchen vom Kinderfresser, das Monopol der Jäger auf Schalenwild bröckelt mit der Rückkehr ihres Lehrers. Wolf, sei willkommen zu Hause, werde erwachsen, Rotkäppchen!

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