Wir Hundefreunde kennen uns gut mit dem Verhalten unserer Vierbeiner aus. Trotzdem kommen auch wir immer wieder ins Grübeln: So viele unterschiedliche Ansichten und Meinungen zum Hundeverhalten hören wir auf Hundeplätzen, lesen wir in Zeitungsartikeln und in Internetforen. Und nicht immer sind wir uns sicher, ob diese oder jene Auffassung Stand der aktuellen Forschung oder doch eher ein alter Hut ist. In diesem Artikel lernen Sie einige der häufigsten Irrtümer rund um unsere Hunde kennen.
Glücklicherweise gibt es mittlerweile in vielen Ländern Forschungseinrichtungen, die sich mit dem Verhalten und den Sinnesleistungen von Hunden intensiv befassen. Der Hund ist für die meisten von uns mehr als ein Haustier und es wäre traurig, wenn wir unseren Vierbeiner missverstünden oder ihm aufgrund von Fehlinformationen sogar Schaden zufügen würden. Darunter leidet nämlich nicht nur der Hund selbst, sondern auch die Mensch-Hund-Beziehung.
Irrtum 1: Hunde, die beim Spaziergang vorauslaufen, sind dominant
Der Begriff Dominanz wird in der Hundeszene relativ häufig angewandt. Leider in den meisten Fällen jedoch unzutreffend. Dominanz ist keine Eigenschaft. Es gibt nicht den dominanten Hund, so wie es den selbstbewussten oder schüchternen Hund gibt. Dominanz bezeichnet, wie zwei Individuen zueinander stehen. D.h. es geht um ein Beziehungsgefüge. Wer hat gerade das Sagen? Es gibt formale Dominanz, die eher auf Wissen und Erfahrung beruht, sowie situative Dominanz, die in konkreten Situationen Anwendung findet. Ranghohe Tiere haben es gar nicht nötig, ihre Dominanz ständig einzufordern. Die Rangniedrigeren zeigen durch ihr Verhalten, dass sie diese akzeptieren, etwa durch submissive Verhaltensweisen (Sich-Kleinmachen, Pföteln etc.).
In einem Wolfsrudel sind die Ranghöheren die Elterntiere. Diese geben die Marschrichtung vor, aber anders, als wir es gemeinhin annehmen, und schon gar nicht, indem sie bei Streifzügen durchs Revier immer an der Spitze der Gruppe laufen. Welpen und Junghunde laufen gerne voraus, und sie dürfen das auch. Wären die Wolfseltern Menschen, würden sie vermutlich denken: „Lass sie doch eigene Erfahrungen machen." Allerdings wissen Wolfseltern genau, wo Gefahren lauern, und sorgen dafür, dass es ihren Nachkommen gut geht. Wir Menschen können aus diesem Verhalten sehr viel lernen: Lassen wir unserem Hund so viel Freiraum wie möglich. Aber: diese Erkenntnis bedeutet nicht, dass er nun Narrenfreiheit genießen darf.
Wenn Ihr Hund beim Spaziergang an der Leine gerne mal ein paar Schritte vorläuft oder im Freilauf einige Meter vor Ihnen rennt, so bedeutet das nicht, dass er dominant ist. Er hat einfach Freude am Leben, ist neugierig, möchte die Welt erkunden. Eventuell müssen Sie jedoch an der Erziehung arbeiten, um ihm klarzumachen, dass es für seine Erkundungsfreude auch Grenzen gibt. In Fußgängerzonen oder an vielbefahrenen Straßen ist es für ihn (und andere) an der Leine sicherer. Ebenso im Wald (vor allem zur Brut- und Setzzeit), wenn er nicht zuverlässig bei Ihnen bleibt. Eine Schleppleine kann gute Dienste leisten und ist für das Rückruftraining ideal.
Irrtum 2: Hunde dürfen nicht aufs Sofa, weil sie sonst bald das ganze Haus regieren
Was hat das Liegen auf einem bequemen Sofa mit der Herrschaft im Haus zu tun? Schauen Sie sich die Hunde an, die auf dem Sofa Platz nehmen. Zumeist rollen sie sich ein und schnarchen bald entspannt vor sich hin. Was steckt hinter dieser Aussage? Hintergrund ist die Vorstellung, Hunde würden ständig nach Status streben und das Aufsuchen eines erhöhten Liegeplatzes wäre der Ausdruck eines hohen Status. Doch die Gleichung „hoher Liegeplatz = hoher Rang" geht im Allgemeinen nicht auf. Vor allem nicht in der Mensch-Hund-Beziehung. Denn Mensch und Hund leben nicht in einem hierarchisch organisierten Rudel. Wenn Hunde gerne erhöhte Liegeplätze aufsuchen, dann tun sie das meist, weil sie von dort eine bessere Übersicht haben, weil der Sessel oder das Sofa einfach bequem ist oder weil sie sich gerne in der Nähe ihres Menschen aufhalten.
Es gibt jedoch auch Vierbeiner, die treiben ihre Mätzchen mit uns, indem sie aufs Sofa hüpfen, darauf herumturnen, auf den Schoß von Herrchen oder Frauchen springen, ganz nach Belieben. Hier ist dann tatsächlich fraglich, wer im Haushalt die Marschrichtung vorgibt. Denn Hunde, die im Wohnzimmer über Tische und Bänke gehen, kennen vermutlich auch keine oder zu wenige verbindliche Regeln im Alltag. Doch diese brauchen sie, ebenso wie einen strukturierten Alltag. Eine weitere Ausnahme: Wenn der Hund seinen Platz mit Zähnefletschen und Schnappen verteidigt. In diesen Fällen ist es ratsam, sich einen erfahrenen Hundetrainer zu suchen, der das gesamte Verhalten und die täglichen Abläufe im Haus einmal von außen betrachtet.
Irrtum 3: Hunde regeln alles untereinander selbst
„Nun lassen Sie die beiden das doch unter sich ausmachen!" Kennen Sie diesen Spruch? Und war Ihnen so manches Mal nicht doch ziemlich mulmig dabei zumute? Vor allem, wenn Sie zusehen mussten, wie sich gleich zwei Ihnen unbekannte Hunde auf Ihren gestürzt haben? Der Ausgang ist nicht immer vorauszusehen. Es mag klappen (vermutlich in den meisten Fällen) oder auch nicht.
Grundsätzlich sind Hunde wie ihre Ahnen, die Wölfe, sehr soziale Tiere. Ihnen stehen zur Kommunikation untereinander viele Ausdrucksformen und Signale zur Verfügung. Diese machen sie quasi zu Meistern im Konfliktmanagement. Bevor Hunde eine ernsthafte körperliche Auseinandersetzung riskieren, versuchen sie, ihre Konflikte anders zu regeln. So die Theorie. In vielen Fällen gelingt ihnen das auch hervorragend. Aber! Das muss unter Hunden, die sich nicht kennen, nicht unbedingt so sein. Wissen Sie bei allen Hunden, denen Sie beim Spaziergang oder im Hundeauslauf begegnen, wie sie aufgewachsen sind, welche Vorerfahrungen sie gemacht haben, wie sie sozialisiert wurden? Oft eskalieren – von den Menschen völlig unbemerkt – Konflikte. Das kann bis zu üblen Bissattacken gehen. Gerade bei Begegnungen mit fremden Hunden ist es daher geradezu unsere Pflicht, konzentriert bei der Sache zu sein und notfalls auch einzugreifen, wenn nur noch gepöbelt wird oder mehrere Hunde einen anderen hetzen und einfach nicht in Ruhe lassen. Das ist dann kein Spiel, sondern Mobbing. Stärken Sie Ihrem Hund den Rücken, indem sie für ihn da sind.
Irrtum 4: Nach der Welpenzeit lernen Hunde nichts mehr dazu
Sie haben sicher schon gehört, dass man Hundewelpen spätestens bis zur 16. Lebenswoche alles beibringen muss und dass sich danach das Zeitfenster für immer schließe. Sie können sich einigermaßen entspannt zurücklehnen. Es ist richtig, dass etwa ab der 16. Lebenswoche der Übergang in die Junghundzeit beginnt. Dann endet allmählich die wichtige Phase in der Entwicklung des Hundes, die sogenannte Sozialisationsphase. In dieser Phase zieht der Welpe ins neue Zuhause ein. In dieser Phase sollte er viele neue Eindrücke erhalten, damit sich sein Gehirn und die Nervenverschaltungen optimal entwickeln können. Zu den Eindrücken gehören Informationen über seinen Lebensraum, andere Menschen, Tiere, Hunde oder Tagesabläufe und Routinen. Hunde, die isoliert aufwachsen, sind im späteren Leben eher ängstlich oder haben sogar Lernschwierigkeiten. Deshalb sollte der Welpe in seinen ersten Lebenswochen im Haushalt seiner Menschen mit Bedacht sozialisiert werden. Eine Überforderung ist dabei genauso nachteilig wie eine Unterforderung. Die kleinen Wirbelwinde benötigen Ruhepausen, um das Erlebte und Gelernte zu verarbeiten. Hunde lernen jedoch lebenslang, sogar bis ins hohe Alter, wenn auch manches nun langsamer abläuft. Hunde, die kontinuierlich geistig gefordert werden, z.B. mit Suchaufgaben oder dem Erlernen neuer Tricks und Begriffe, haben es dabei leichter. Im Grunde ist das gar nicht anders als bei uns Menschen.
Irrtum 5: Der Mensch muss der „Alpha-Wolf" sein
Hunde sind keine Wölfe und Menschen auch nicht. So sinnvoll Wolfsvergleiche auch sind, sie sind nicht immer zutreffend. So gilt heute die Einteilung der einzelnen Gruppenmitglieder in Alpha-, Beta- oder Omegatiere bei freilebenden Wölfen als überholt. Leittiere sind diejenigen Tiere, die sich fortpflanzen, also die Elterntiere. Ihre Autorität beziehen sie aus ihrer Erfahrung und ihrer Lebensklugheit. Es muss nicht kontinuierlich klargestellt werden, wer das Sagen hat, wer Entscheidungen trifft. Denn das ist bekannt. Die Regeln sind klar und werden kommunikativ vermittelt.
Da der Hund nun schon mehrere Jahrtausende in der menschlichen Umwelt lebt, hat er sich dem Leben in unserer Obhut angepasst. Hunde wissen genau, dass wir keine Artgenossen sind. Aber welche Rolle spielt dann der Mensch? Er hat eine sehr wichtige Funktion, die sogar mehrere Rollen vereint: Die einer natürlichen Autoritätsperson und eines Sozialpartners, der gegenüber seinem Vierbeiner Wertschätzung und Verbundenheit ausdrückt, ihn vor Gefahren schützt, den Alltag strukturiert, ihn in die menschliche Welt einführt etc.
Nicht notwendig und sogar kontraproduktiv wäre es, ständig seine Überlegenheit und seine Macht demonstrieren zu müssen – und auch sehr anstrengend im täglichen Miteinander.
Was vielen Menschen jedoch schwer fällt ist es, Regeln aufzustellen und diese dann auch liebevoll-konsequent gegenüber dem Vierbeiner durchzusetzen. Denn Hunde benötigen klare Strukturen und verständliche Regeln als Orientierung, z.B. dass an der Haustür gewartet und nicht sofort losgestürmt wird. Das schafft Routine und erleichtert das Zusammenleben ungemein, denn es muss nicht ständig alles ausdiskutiert und hinterfragt werden.
Auch wenn wir nur fünf von vielen Irrtümern rund um unsere Hunde näher beleuchtet haben, so wissen Sie nun, was es nach dem heutigen Stand der Forschung mit Dominanz, Rang, Status auf sich hat, welche Rolle der Mensch einnimmt und wie Hunde lernen. Somit stehen Ihnen außerdem die wesentlichen Argumente für Diskussionen mit anderen Hundehaltern zur Verfügung. Mit diesem Hintergrundwissen gelingt es Ihnen bestimmt, das Zusammenleben mit Ihrem Vierbeiner entspannter zu genießen. Denn so kompliziert ist es gar nicht.
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