Der Wert des Lebens – Seite an Seite mit einem kranken Hund

Von Mag. Kerstin Piribauer

„Im Leben mit einem Hund geht es darum, das einzig und allein wichtigste Turnier und die wichtigste Prüfung zu meistern, die es gibt: das Leben selber! Da gibt es keine Pokale und sonstigen ­unnützen Staubfänger. Du magst Aurora verloren haben, aber schlussendlich habt ihr beide gewonnen." ­
Diese Zeilen erhält die Autorin, Mag. Kerstin Piribauer, anlässlich des Todes ihres Hundes Aurora von einer Freundin als Trost. Für Mag. Piribauer geht es darum, „den Wert des Lebens zu erkennen und zu ­respektieren, bedeutet auch, Krankheit und Behinderung zu akzeptieren". Eine berührende (und bedeutsame) Geschichte über das Leben mit einem kranken Hund.

Heute, einige Zeit nach Auroras Tod, bedeuten mir diese Zeilen einer lieben Freundin unendlich viel, fassen sie doch kurz und treffend zusammen, was Aurora mich in der letzten Phase ihres Lebens lehrte, sprechen sie doch von dem unschätzbaren Erbe, das sie mir mit den acht Monaten, die ich sie in ihrer Krankheit begleiten durfte, hinterließ – und die zu den intensivsten und glücklichsten meines Lebens zählen.

Eine starke Hündin

Nach den ersten leisen Symptomen im September 2010 ging Aurora ab Dezember 2010 unaufhaltsam der vollständigen Lähmung der Hinter­extremitäten entgegen, die in den ersten Märztagen 2011 erreicht war. Neben der Pflege, die sie benötigte, neben allen medizinisch ­notwendigen Aufgaben, die wir beide ­miteinander zu erfüllen hatten, und einer Lebenspartnerschaft, die auch für mich in dieser Intensität eine neue Erfahrung darstellte, blieb mir vor allem die eine und wichtigste Aufgabe: Aurora und ihren Umgang mit ihrer Erkrankung rückhaltlos zu bewundern!

Aurora war nicht nur eine sehr willens­starke, sondern auch ausgesprochen nervenstarke Hündin, die es mit einem ausgeprägten und gesunden Selbstbewusstsein in jedem Moment verstand, ihre Krankheit anzunehmen, sich mit der gegebenen Situation bestmöglich zu ­arrangieren – und sich verwöhnen zu lassen! Ihre Lebensfreude und ihr Lebenswille waren ungebrochen, bis zu jenem Moment Ende Juli 2011, in dem sie mir von einer Sekunde auf die ­andere in die Arme fiel und ihr ­bewusstes Dasein so beendete, wie sie die letzten Monate verbracht hatte: als glückliche Hündin, die ihr Leben in endlosem Vertrauen und bedingungsloser Liebe zu ihrem Umfeld lebte.

Erste Anzeichen

Spätherbst 2010: Aurora war bis vor wenigen Wochen noch freudig und aktiv mit mir im Hundesport unterwegs gewesen, da erscheint ihre Motorik plötzlich zunehmend unkoordiniert. In Schüben entwickeln sich Unregelmäßigkeiten im Bewegungsablauf, sog. Ataxien, die mir trotz ihrer Harmlosigkeit im Vergleich zu dem, was noch folgen wird, wirklich Angst machen. Aurora verliert ihr Sprungvermögen, und manchmal fürchte ich angesichts ihres extrem schlendernden Gangbilds, sie fällt über ihre eigenen Füße. Aber noch hat Aurora all diese Unwägbarkeiten voll im Griff, ist keineswegs bereit, auf unsere Spaziergänge zu verzichten und strahlt ein Selbstbewusstsein und eine Lebensfreude aus, die auch mir aus meinen Sorgen heraushelfen.

Nahezu unverändert leben wir ­unseren Alltag weiter, fast so als ob Aurora mich auffordert, die unübersehbaren Anzeichen ihrer Erkrankung ebenso zu ignorieren wie sie selbst. Statt die gemeinsamen Unternehmungen und Auroras Lebensinhalte der neuen körperlichen Situation entsprechend einzuschränken, suchen wir vielmehr nach Möglichkeiten, den jeweiligen Status der Erkrankung bestmöglich zu managen und den Alltag mit dem ein oder anderen Hilfsmittel zu erleichtern.

So bedecken bald Teppiche den ­glatten Fliesenboden in Teilen des Hauses, und im Wald meiden wir die allzu unebenen, wild verwachsenen Wege, finden stattdessen neue Lieblingsplätze an einem kleinen Weiher oder in einem stillen Wiesenhain. Gemeinsam mit dem Ärzte- und ­Therapeutenteam der Wiener Universitätsklinik, wo Aurora optimal betreut wird, entscheiden wir, die physio­therapeutischen Behandlungen um die Unterwassertherapie zu erweitern. Die gezielte Bewegung im Wasser soll vor allem den zu erwartenden Muskel­abbau in der Hinterhand ­möglichst lange hinauszögern.

Aurora lernt das Unterwasserlaufband lieben und steigt jedes Mal freiwillig in ihren „Wellnesspool" – nicht zuletzt dank der liebevollen und einfühlsamen Führung und Unterstützung aller Mitarbeiterinnen in der physiotherapeutischen Ambulanz. Langsam werden die Bewegungszeiten im Wasser gesteigert, und die Geschwindigkeit des Laufbandes stets Auroras Konstitution angepasst. Von höchster Bedeutung ist immer wieder die Feststellung, dass Aurora während der ­gesamten Zeit ihrer Erkrankung keinerlei Schmerzen verspürt. Dies wird bei jedem Besuch in der Klinik genauestens überprüft. Die Erkrankung selbst verläuft absolut schmerzfrei, und für die aufgrund des eingeschränkten bzw. veränderten Bewegungsmusters natürlich unvermeidlichen Verspannungen reicht neben Akupunktur und Massage eine sehr niedrig dosierte Schmerztherapie vollkommen aus.

Der Weg zur vollständigen ­Lähmung

Voller Pläne und in grenzenlosem Optimismus starten Aurora und ich ins neue Jahr. Unternehmungslustig verbringen wir die ersten Januartage mit fröhlichen Waldspaziergängen. Wir sind beide überzeugt: Das wird ein tolles Jahr! Wer weiß, vielleicht das beste unseres Lebens. Wir sind voller Zuversicht, und tief in mir weiß ich, dass diese positive Aufbruchsstimmung, die uns beide beherrscht, in den kommenden Wochen und Monaten unser wichtigstes Kapital werden sollte. Trotz der unübersehbaren Ataxien in der Hinterhand sind noch Spaziergänge mit Spiel und Spaß möglich. Unsere abwechslungsreichen Unternehmungen führen uns noch immer an wunderschöne Orte des steirischen Vulkanlands, und vor allem an den Tagen unmittelbar nach der Physiotherapie bewegt Aurora sich so gerne, in ihrem Rahmen scheinbar so leicht und mühelos. Übermütig will sie in die weiße Winterpracht springen – ich bin glücklich über diese Lebensfreude und sehe im gleichen Moment, wie sie sich mit den unkoordinierten Bewegungen der Hinterbeine auf dem schneeglatten Untergrund nicht halten kann, hinfällt, und drei Meter die Böschung hinunterrutscht. Aber noch kann sie selbstständig wieder aufstehen. Fröhlich schwanzwedelnd kommt sie zu mir, fühlt sich sicher, scheint einfach glücklich, hier bei mir auf dieser Welt zu sein und lebt schon den neuen Moment. Die Sekunden davor waren vergessen.

Auch wenn sich unser Bewegungs­radius in den kommenden Wochen noch deutlich einschränken sollte: Es gibt keinen Moment, in dem Aurora nicht in Spiellaune gewesen wäre, nicht freudig und bereitwillig einer Spielaufforderung gefolgt wäre. Ihre Aufgeschlossenheit und mentale Präsenz scheinen die zunehmende körperliche Behinderung geradezu kompensieren zu wollen. Aurora signalisiert mir in jedem Moment ihre kompromisslose Bereitschaft, ihr Schicksal anzunehmen. Mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit scheint sie absolut über diesen Dingen zu stehen und lässt mir mit ihrem offenen, lebensfrohen Ausdruck kaum Raum für die Sorgen, die mir die ­dramatische Verschlechterung ihres Zustands während der Wintermonate macht.

Weiterhin fahren wir wöchentlich zur Physiotherapie in die veterinärmedizinische Universität. Aurora liebt diese Fahrten, genießt ihre „Wellness"-Tage in der Klinik und sitzt während der Heimfahrt am Nachmittag mit dem denkbar zufriedensten Gesichtsausdruck hinter mir im Auto – in der ­festen Überzeugung „Das war ein toller Tag heute!". Tierärzte und eine Klinik an unserer Seite zu wissen, die Aurora regelmäßig mit diesem Gesichts- und Körperausdruck verlässt, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass ich diese Zeit nicht in beständiger Angst und Sorge erlebe, sondern stattdessen bewusst und dankbar die neue – andere – Lebensqualität erkennen darf, die Aurora und mich in diesen Monaten der Krankheit begleitet.

Die ersten Märztage bringen den Abschluss der vollständigen Lähmung der Hinterextremitäten. Der Einsatz des Expanders brachte schon seit einiger Zeit keine wirkliche Erleichterung mehr, und so entscheiden wir uns für einen Rollwagen, der Aurora ein bedeutendes Maß an Mobilität zurückgeben wird und der uns vor allem auch wieder die Möglichkeit zu ausgiebigen Spaziergängen und abwechslungsreichen Unterneh­mungen außerhalb unseres Grundstücks gibt.

Neue Mobilität

In vielen Begegnungen und Gesprächen, die sich ergeben, wenn Aurora und ich gemeinsam unterwegs sind, lerne ich die Skepsis vieler Hunde­besitzer einem derartigen Hilfsmittel gegenüber kennen, erfahre von den Unsicherheiten, von menschlicher Eitelkeit, von der Angst, die manche Menschen davon abhält, ihrem Freund auf vier Pfoten und sich selbst diese Lebensmöglichkeit zu bieten. Dabei gelingt es Aurora und mir stets, ein mitleidsschweres „Oh, so ein armer Hund" mit einem strahlenden Lächeln und der Beteuerung zu beantworten, dass hier kein armer Hund steht, sondern eine starke Persönlichkeit, die ihr Schicksal angenommen hat und ihr Leben genießt. Dieser Rollwagen steht für Mobilität und Lebensfreude, für Abwechslung und Unternehmungslust! Für Aurora und mich bedeutet er ein Stück Freiheit, dem wir unzählige Ausflüge in Wald und Flur, in die Donauauen oder nur auf die Wiese der Autobahnraststätte verdanken. Die fröhlich tanzenden Sonnenstrahlen im oberösterreichischen Bergwald oder die sommerliche Erfrischung an einem idyllischen Bergbach am Wechsel – ohne den Rollwagen könnten wir diese Momente stillen Glücks, das nur uns beiden gehört, nicht leben. Gemeinsam lassen wir keine Möglichkeit aus, diese Lebensform in allen Facetten zu genießen, ist es doch sogar ­wieder möglich, an die alte Freude am Training anzuknüpfen und eine kleine „Unterordnung" einzulegen. Die Übungen Fuß und Steh mit einem anschließenden Hier lassen sich auch im Rollwagen hervorragend umsetzen, und Aurora ist wie eh und je mit Begeisterung bei der Sache. Wie viel können wir Menschen doch von unseren Hunden lernen! Die Selbstverständlichkeit, mit der Aurora sich mit ihren körper­lichen Einschränkungen arrangiert und meine Hilfe annimmt, und die Willensstärke, mit der sie bereit ist, dieses Leben mit mir zu leben, werden für mich immer Zeugnis einer unglaub­lichen charakterlichen Größe sein und ein lebenslanges Vorbild bleiben.

Leben am Rande der Lebbarkeit

Es ist ein Gefühl unendlicher Nähe, das sich von Tag zu Tag mehr zwischen Aurora und mir aufbaut. Früher war ich der Meinung, dass eine gemeinsam durchlebte Geburt und die Aufzucht eines Wurfs ein ganz besonders inniges Verhältnis zur Hündin entstehen ließen. Sicher ist dem auch so, und sicher glauben wir alle im täglichen von Liebe, Spiel und Spaß erfüllten Alltag mit unseren Hunden, dass sich die Intensität der Beziehung nicht mehr steigern ließe, aber Aurora lehrt mich, wie „klein" das ist gegen geschenktes Leben am Rande der Lebbarkeit.

Wenige Wochen nach der vollständigen Lähmung der Hinterbeine verliert Aurora die Fähigkeit, selbstständig Harn und Kot abzusetzen. Es gibt sicher wenige Konstellationen, die ein Leben in dieser Situation noch möglich machen. Aurora und mir ist es vergönnt. Ihr ungebremster Lebenswille, mein unerschütterlicher Optimismus sowie das gesamte Ärzte- und Therapeutenteam der Universitätsklinik, wo wir während dieser Monate auf Händen getragen werden – gemeinsam machen wir das Unmögliche möglich.

Aurora fühlt sich wunderbar. Sie nimmt unsere Hilfestellungen dankbar mit tiefem Vertrauen und absoluter Selbstverständlichkeit an, sie strahlt eine herzerfrischende Lebensfreude aus, und sie scheint geradezu stolz darauf, ihrer Umwelt zu beweisen, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen und fertigwerden kann. Gemeinsam ­spüren wir die Liebe, die uns trägt, und die uns beide so glücklich und reich macht …

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