Es war der 10. Februar 2006. Meine Hundewelt war endlich wieder in bester Ordnung. Bini – meine 10 1/2-jährige Mischlingshündin – hatte ihre Darmoperation im Dezember bestens verkraftet und schien guter Dinge. Nach dem Verlust von Dalmatiner Peter im Oktober („Bis zum letzten Atemzug" in WUFF 12/05, S. 36 ff.) waren wir schön langsam wieder bereit, uns auf ein neues Familienmitglied einzulassen. So hielten wir Augen und Ohren offen – ein Zwergpinscher war unser favorisierter Kandidat. Kontakte wurden geknüpft, doch irgendwie klappte es mit dem Zuwachs nicht.
Ein Anruf von WUFF
Bis ich an jenem 10. Februar einen Anruf von Gerald Pötz vom Hundemagazin WUFF erhielt. Er war gerade auf dem Weg zu einer Familie in Niederösterreich, um einen 10 Monate jungen Staffordshire Terrier-Dogo Argentino-Mix vor dem Einschläfern zu retten. Das Drama hatte schon einige Tage zuvor begonnen, als Pötz von Tierärzten aus Niederösterreich von dem Fall verständigt wurde, die sich allesamt geweigert hatten, die von den Besitzern geforderte Euthanasie durchzuführen. Der Hund soll fremde Besucherkinder der Familie bedroht haben. Ich wusste sofort – dieser Kelch wird wohl nicht an mir vorübergehen.
Einige Telefonate später war klar – ich bin der neue Pflegeplatz. Gerald Pötz fuhr in der Dämmerung vor und öffnete die Heckklappe. Drinnen stand ein völlig verunsicherter, sabbernder und wunderschöner – in seinem Zustand jedoch nicht besonders vertrauenswürdig wirkender – Mogli.
Erste Annährungsversuche stimmten ihn weder freundlich noch zuversichtlich. Der Hund war fix und fertig. Wir berieten uns und – hundefreundlich sollte er ja sein – schickten unsere Bini vor. Und siehe da, es war Liebe auf den ersten Blick. Mogli wandelte sich vom knurrenden, sabbernden, herumstreichenden „Tiger" in einen unbeschwert spielenden lieben Hund. Die erste Katzenbegegnung mit Emil, unserem roten Kater, der Hunde über alles liebt, verlief ebenfalls ganz passabel. Also, Mogli soll bleiben.
Eine Portion Glück
Die erste Woche verlief ausgesprochen gut. Er blieb mit unserer Bini brav im Garten und schien unbeschwert und glücklich. Erste Begegnungen mit „Test-Besuchern" begannen. Im Nachhinein betrachtet, waren wir wohl auch mit einer guten Portion Glück ausgestattet, denn wir machten alles intuitiv richtig. Mit den Besuchern klappte es wunderbar, wenn – wie wir gleich herausfanden – die Besucher vor Mogli im Raum waren. Erst wenn alle sitzen, wird Mogli dazu gelassen. Die Besucher sind angewiesen, den Hund vorerst zu ignorieren. Dann geht er von selbst schon nach einigen Minuten auf die Besucher zu, sucht Kontakt und lässt sich entspannt streicheln. Für ihn also offenbar eine stressfreie Situation, in der es für ihn keinen Grund gibt, mit Selbstverteidigung zu reagieren.
Wir sind immer noch fassungslos darüber, dass dieser Hund nur knapp überlebt hat, und spielen mit dem Gedanken, ihn trotz geringfügiger optischer Zwergpinscherabweichungen zu behalten. Bis auch bei uns die Geschichte schwierig zu werden beginnt.
Emotionaler Supergau
Eine Woche nach Moglis Ankunft treffen wir abends auf eine völlig veränderte, offenbar schwerkranke Bini. Sie torkelt, fühlt sich eiskalt an und hat erbrochen. Telefonat mit dem Tierarzt, wir messen 35,5°C Körpertemperatur. Lebensgefahr – ab in die Tierklinik, wo Bini Infusionen erhält. Die Temperatur steigt wieder, die Hündin wirkt etwas munterer. Der Tierarzt hält es für eine Magen-Darm-Sache, möglicherweise hat sich das viele Erbrechen auf den Kreislauf ausgewirkt. Als es ihr aber am nächsten Tag auch nicht so besonders gut geht, macht der Tierarzt sicherheitshalber ein Herz-Lungen-Röntgen. Mit fataler Diagnose. Die Lunge ist von Metastasen übersät. Wir sind fix und fertig. Das kann doch gar nicht möglich sein …
Und dann geht alles ganz schnell. Mehrmals massiver Bluthusten, Zusammenbrüche bis zur Ohnmacht, totale Schwäche, offenbar Schmerzen, laufende Tierarztbesuche – ein Bild des Jammers. Wir beschließen nach zweiwöchigem Leiden, Hoffen, Bangen und intensivmedizinischer Behandlung, dem Horror ein Ende zu setzen, und können bis heute nicht fassen, wie das alles so plötzlich passieren konnte. Keine Zeit zum Abschied. Wir haben noch mit einigen Jahren gerechnet. Der Schock sitzt tief.
Wenn´s eng wird
Mitten in diesem emotionalen Supergau der ohnedies schon verunsicherte Mogli, der selbst nur knapp dem Tod entkam. Das ist wohl ein bisschen zuviel für ihn. Er bleibt nach Binis Tod nicht mehr alleine im Garten – also mit ins Büro. Gesichert mit Beißkorb und Leine, denn wir dürfen uns seiner – was fremde Menschen betrifft (aufgrund seiner Vorgeschichte) – nicht sicher sein. Alle Menschen, die vor Moglis Eintreffen im Büro sind, werden freundlich begrüßt, doch jeder, der nachher dazu kommt, wird angeknurrt. Und dann der Beweis, dass in seiner Entwicklung wohl doch etwas schief gelaufen ist – er fährt eine Besucherin, die sich vor ihm hinhockt und ihn freundlich anspricht – an. Ich habe die Situation völlig falsch eingeschätzt, da er diesmal auch nicht geknurrt hat. Warnendes Drohverhalten wurde ihm offenbar aberzogen. Die Verhaltenstherapeutin Sabine Neumann klärt mich auf. Jetzt weiß ich, dass Knurren nie bestraft oder verboten werden sollte, da der Hund damit zeigen kann, dass er sich in einer für ihn unangenehmen Situation befindet. Richtig ist vielmehr, dem Hund einen Ausweg zu zeigen. In meinem Fall hätte ich Mogli aus der Situation herausführen müssen, sodass er lernt, dass er gehen kann, wenn’s für ihn eng wird.
Bis auf eine leichte Schwellung ist Gott sei Dank nichts passiert. Die Büro-Variante fällt also flach – es ist für ihn einfach zu stressig. Da ich in einer Agentur arbeite, herrscht bei uns reger Betrieb, wo den ganzen Tag fremde Menschen ein und aus gehen. Und da wir ein Großraumbüro haben, gibt es für ihn auch keine Rückzugsmöglichkeit. Die Grundlage fürs Behalten schwindet dahin, denn meinen Hund den ganzen Tag alleine zu Hause zu lassen, kommt für mich nicht in Frage. Ich habe sehr darunter gelitten, als mein alter Dalmatiner Peter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mit dem Auto fahren konnte und ich ihn allein zu Hause (mit Hundetüre in den Garten) lassen musste.
Liebenswert aber etwas unberechenbar
Also der nächste Schock. Das ist doch nicht möglich. Der zu Hause so überaus folgsame und absolut liebenswerte Hund zeigt so ein „Fehlverhalten"? Meine Hundewelt gerät ins Wanken. Ich habe mein ganzes Leben mit verschiedensten Hunden verbracht, und jeder war absolut „gutmütig" – ich war völlig platt. Mein Vorurteil, dass ein Menschen gegenüber nicht bedingungslos freundlicher Hund auch für mich nicht liebenswert sein kann, fällt in sich zusammen. Und wie!
Mogli ist nämlich sogar mehr als liebenswert. Er erobert die Herzen im Sturm! Doch leider „nur" von seinen Bezugspersonen bzw. ihm vertrauten Personen. Versucht sich nach einiger Zeit eine weitere Person zu nähern, „kippt ein Schalter um", und er reagiert mit Selbstverteidigung. Leider legt er erneut in einer für in absolut stressigen Situation, die wir nicht rechtzeitig erkannten, noch eins drauf. Wir hatten versucht, ihm in einer Zoofachhandlung ein Brustgeschirr anzulegen – und die Verkäuferin schwirrte dauernd um uns herum. Mogli tat, was wir eigentlich hätten wissen müssen. Er fuhr die Verkäuferin an …
Bei der Verhaltenstherapeutin
Ein Besuch bei der Verhaltenstherapeutin Sabine Neumann im Tierheim Krems bestätigt, was wir ahnen: Er ist kein grundaggressiver Hund, hat jedoch ein erlerntes Fehlverhalten und scheint insgesamt völlig verunsichert. Ich habe das gar nicht so bemerkt. Mogli hat so ein feines Ausdrucksverhalten, für das man erst sensibilisiert werden muss. Offenbar hat er in der Familie, in der er aufgewachsen ist, gelernt, dass Besucher bzw. fremde Menschen für ihn nichts Gutes bedeuten, sodass er irgendwann beschloss, dieser unangenehmen Situation durch Angriff ein Ende zu bereiten. Viele Signale werden diesem Verhalten wohl vorausgegangen sein, einige werden aberzogen worden sein wie das Knurren. Und so wurde Mogli immer weniger verstanden.
Da alle Vorfälle bisher mit Maulkorb stattgefunden haben, wissen wir natürlich nicht, ob er tatsächlich zubeißen würde. Bei einem Hund seiner Größe und Kraft wird man das allerdings hoffentlich auch nie herausfinden.
Verliebt in diesen Hund
Eine völlig neue Situation stellt sich für mich dar: Ich bin verliebt in einen Hund, der für andere Menschen möglicherweise eine Gefahr darstellt. Wenn man ihm jedoch die Lebenssituation bietet, die er braucht, ist er schlichtweg der perfekte Hund. Gehorsam, verschmust, wunderschön, gelehrig und sehr, sehr intelligent. Möglicherweise ist das auch sein Problem. Sensibilität und Intelligenz sind natürlich eine brisante Mischung. Wenn so ein Hund in einem schwierigen Umfeld aufwächst und Fehler gemacht werden, kann dies natürlich ganz leicht eskalieren.
Mittlerweile gehe ich allerdings mit den Vorbesitzern nicht mehr so streng ins Gericht. Nachdem ich das Buch „Calming Signals" von Turid Rugaas gelesen habe, bin ich ausgesprochen verblüfft darüber, wie sich unsere Hunde auf unsere mangelnde Kommunikationsfähigkeit – aus hundlicher Sicht – einstellen. Im Nachhinein betrachtet, habe ich meinen Hunden wohl häufig Grund gegeben, auf mein eigenes Verhalten mit Verteidigung zu reagieren. Bei ihren Artgenossen tun sie das ja auch recht klar – irgendwie genießen wir Menschen wohl einen besonderen Schutz. Ich glaube, dass Mogli in Wirklichkeit einfach nur ein ganz sensibler Charakterhund ist, der eigentlich nur hundegemäß auf Bedrohungen reagiert.
Und seither wälze ich (und mein gesamter Freundeskreis – denn alle, die ihn kennen, sind von ihm begeistert) einen Plan nach dem anderen, wie man diesem Hund doch ein lebenswertes Leben bieten könnte und niemand in Gefahr gerät.
Was braucht Mogli?
Da sein Fehlverhalten erlernt ist, kann man dieses mit entsprechendem Training auch wieder umkonditionieren, d.h. abtrainieren. Natürlich bleibt ein gewisses Restrisiko – damit muss man leben. Ein ausbruchssicherer Garten müsste vorhanden sein, wobei er sich bei seinen bisherigen zwei Ausbrüchen problemlos von Nachbarn anleinen und nach Hause bringen ließ. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass Mogli ein wahllos aggressiver Hund ist – das ist er definitiv nicht! Wichtig für Mogli wäre ein insgesamt eher ruhiges Umfeld, idealerweise eine vierbeinige Freundin, und ganz viel Zeit und Liebe. Als mir klar wird, dass ich ihm – bis auf die Liebe – das alles nicht bieten kann, bin ich unendlich traurig. Nach Peters und dann Binis Tod – noch einen Abschied kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber es muss wohl sein, denn ich kann diesem Hund einfach nicht das Leben bieten, das er verdient.
Mogli hat besondere Bedürfnisse und im Gegenzug auch jede Menge Vorzüge anzubieten. Hinzu kommt, dass er vor lauter Spielbegeisterung zu stürmisch mit meinem Kater umgeht, sodass der mittlerweile gar nicht mehr so hundebegeistert ist. Ein Platz ohne Katzen wäre wohl besser (für die Katzen).
Der Status quo
Derzeit ist Mogli tagsüber in unserem Haus und wird täglich mittags von seinem Retter Gerald Pötz spazieren geführt. Auch das klappte nach kurzem Kennenlernen problemlos. Morgens und abends sind wir mit ihm auf ausgedehnten Wald-Spaziergängen und in vielen Spielstunden mit den Hunden der Nachbarn (er liebt andere Hunde über alles) unterwegs, um ihm die Beschäftigung und Bewegung zu geben, die er benötigt. Und abends wird natürlich gekuschelt, was das Zeug hält.