Der Balljunkie – spielt er noch, oder süchtelt er schon?

Von Johanna Pelz

Schaut man durch die Regale in Zoogeschäften, kann man sich sicher sein, in jedem ein bestimmtes Hunde-Spielzeug zu ­finden: den Ball. Es gibt ihn in jeglichen Formen und Farben. Für ­die­jenigen unter uns, die (so wie die Autorin) bereits in der ­Schule beim Sportfest den Ball zwar hoch, aber nur drei Meter weit geworfen haben, gibt es Abhilfe in Form einer Wurfkelle – denn der Ball soll ja schön weit fliegen. Doch wo endet gesundes Ballspiel und wo beginnt Ballsucht?  Hunde-Expertin Johanna Pelz geht diesen Fragen nach.

Das Ballspiel wird von vielen Menschen nach wie vor als DIE Beschäftigung für den Hund gesehen. Und tatsächlich scheint es ja auch eine sinnvolle Auslastungsmöglichkeit zu sein: Der Hund kann sich ausdauernd mit dem Apportieren des Balls beschäftigen, er wirkt danach glücklich, zufrieden und müde, und wir selbst müssen uns, nach einem langen Arbeitstag, nicht mehr so viel bewegen. Also alles wunderbar – oder?

Leider kann man diese Frage nicht ohne Weiteres bejahen. Unkontrolliertes Ballspiel birgt diverse Gefahren, die, abhängig von Hunderasse und Hundetyp, nicht unerheblich sind. Im Folgenden möchte ich auf die proble­matischen Aspekte eingehen und anschließend Erkennungsmerkmale sowie Wege aus der Sucht benennen.

Jagdverhalten
Sehr häufig ist das Ballspiel so aufgebaut, dass der Hund, sobald der Ball fliegt, diesen hetzen darf. Was der Vierbeiner dabei vor allem lernt, ist, sich bewegenden Reizen sofort zu folgen. Damit werden beim Hund ­Elemente des Jagdverhaltens, vorrangig der Hetztrieb, gefördert und gefestigt. Dieses ist insbesondere bei jagdlich ambitionierten Hunden ­kritisch. Je ausdauernder ein Hund das Bällchen hetzen darf, desto weniger kann er unterscheiden, wann es sich bei dem Reiz tatsächlich um ein Bällchen handelt, das gehetzt werden darf, und wann es sich z.B. um ein Kaninchen handelt, dessen Hetzen unerwünscht ist.

Natürlich kann ein Hund generell einen Ball von einem Kaninchen unterscheiden. In der Sekunde aber, wenn etwas abrupt startet und sich vom Hund mit einer schnellen Dynamik wegbewegt, überlegt er nicht mehr: „Was ist das eigentlich? Darf ich dem nachlaufen oder nicht?“, sondern instinktives Jagdverhalten wird aktiviert, das dann häufig nicht mehr zu stoppen ist – bis das Kaninchen in seinem Bau verschwindet oder der Hund sich erfolgreich sein Abendessen selbst erlegt hat.

Die Rolle des Menschen
Einem Hund, der auf ein Objekt in krankhafter Weise fixiert ist, wird sein Sozialpartner Mensch vollkommen unwichtig. Es geht ihm nicht mehr darum, wer den Ball wirft, sondern nur um die Tatsache, dass der Ball fliegt. Bei schweren Fällen von Sucht lässt ein Hund seinen Besitzer sogar, wenn dieser (scheinbar) in Ohnmacht fällt, liegen und geht mit dem nächstbesten Menschen mit, der einen Ball dabei hat. (Dieses ist kein übertriebenes Beispiel, sondern das Ergebnis eines Tests, dem ich selbst im Rahmen eines Seminars beigewohnt habe.)

Wie unwichtig der Mensch beim „Spiel“ für einen Balljunkie ist, lässt sich daran erkennen, dass der Hund währenddessen ausschließlich das Objekt in der Hand des Menschen fixiert. Es findet keine soziale Kommunikation mehr statt; der Hund nimmt so z. B. keinen Blickkontakt auf, höchstens kurz, und wendet seine Aufmerksamkeit sofort wieder ­seinem „Stoff“ zu. Auch auf alternative Formen des Spiels lässt sich dieser Hund nicht mehr ein. Rein körperbetontes Spiel ohne Hilfsmittel ist nicht mehr möglich. Auf futtermotiviertes Spiel lässt sich der Vierbeiner möglicherweise noch kurzzeitig ein, jedoch ist seine Aufmerksamkeitsspanne gering, weil er sich von der Idee, der ­Besitzer könnte gleich einen Ball aus der Tasche ziehen, nicht lösen kann. Ein Balljunkie wird sich vielleicht auf ein Spiel mit anderen Objekten einlassen, aber nur in einer Form, bei der diese geworfen werden und er sie – wie einen Ball – apportieren kann. ­Zerrspiele haben für einen süchtigen Hund zu viel Sozialbezug und befriedigen nicht die Sucht; daher wird er auf diese kaum bis gar nicht einsteigen.

Beißunfälle
Ein süchtiger Hund ist besessen davon, den Ball zu haben. Aus dieser Besessenheit heraus wird der Vier­beiner alles tun, um an den Ball zu kommen. Gefährlich wird es, wenn z.B. ein Kind mit einem Ball spielt und somit aus Sicht des Hundes zu einem „Konkurrenten“ wird. Selbst wenn der Vierbeiner das Kind gar nicht ­verletzen will, sondern einfach unkontrolliert nach dem Ball schnappt, kann es aufgrund der Größen- und Kräfteunterschiede schnell zu einem Beiß­unfall kommen. Auch hier ist der ­Halter machtlos: Der Mensch kann einen süchtigen Hund in dieser ­Situation nicht mehr abrufen; ebenso wenig, um ein Beispiel aus der menschlichen Welt zu bringen, wie eine Mutter ihren heroinsüchtigen Sohn daran hindern kann zu stehlen, um an Geld für seine Droge zu kommen.

Was macht die Sucht mit dem Hund?
Der Hund selbst befindet sich im ­Dauerstress. Hat er den Ball, ­empfindet er (positiven) Stress. Hat er den Ball nicht, empfindet er negativen Stress. Von seiner Persönlichkeit bleibt nicht mehr viel übrig. Mit einem ­Tunnelblick, an dessen Ende nur der Ball zu sehen ist, bewegt er sich durch die Welt, unfähig Dinge wahrzunehmen, die sich links und rechts befinden. Der Hund ist vollkommen auf seine Sucht reduziert und ­unfähig, sich mit seiner Umwelt, seien es ­Artgenossen, Menschen, Gerüche usw. auseinanderzusetzen.

Wie entsteht die Sucht?
Besonders leicht erregbare Hunde­rassen, wie z.B. einige Hütehund­rassen und Terrier, haben ein erhöhtes Risiko, abhängig von Objekten zu werden. Aber auch Hunde anderer Rassen, sowie Mischlinge, können zu ­Balljunkies werden, wenn sie generell leicht erregbar bzw. nervös sind. Durch den stereotypen Ablauf Hetzen-Fangen-Apportieren wird das körpereigene Belohnungssystem des Hundes aktiviert, d.h. verschiedene „glücklich machende“ Substanzen (z.B. Dopamin, Adrenalin) werden ausgeschüttet. Spielt der Hund häufig und ausdauernd mit dem Bällchen, gewöhnt sich der Körper an die Ausschüttung der genannten Substanzen. Fällt das Ballspiel weg, erreicht das körpereigene Belohnungssystem des Körpers nicht mehr das gewohnte Level, so entstehen Entzugserscheinungen, die der Hund in anderer Form zu kompensieren versucht.

Auch Hunde, die in einem reizarmen Umfeld aufgewachsen sind und so unter einem generellen Dopaminmangel und weniger ausgeprägten Dopaminrezeptoren leiden, sind potenzielle Opfer der Sucht. Der Körper versucht, den Mangel auszugleichen – was durch das Ballspiel mit entsprechender Hormonausschüttung möglich wird. (vgl. Käufer, M.: 2011. Spiel­verhalten bei Hunden, S. 135-136)

Die wenigsten Halter erziehen ihren Hund bewusst zum Balljunkie. Meist steckt dahinter die gut gemeinte Absicht, einen Hund, der scheinbar voller Tatendrang ist, besonders gut auszulasten. Irgendwann entsteht daraus dann ein Kreislauf. Je mehr Aktivität der Hund durch das Ballspiel bekommt, desto mehr gewöhnt sich der Körper an diese – und umso mehr verlangt er danach. Es scheint also so, als könnte der Hund einfach nicht genug bekommen. Statt ihn wieder zur Ruhe zu trainieren, erhält er so immer mehr Angebote, durch die er immer unruhiger und nervöser wird – und eine Verschlimmerung der Sucht eintritt.

Erkennungsmerkmale
Nicht jeder Hund, der gern mit einem Ball spielt, ist ein Junkie! Wie erkennt man nun, ob ein Hund ein solcher ist? Ein abhängiger Hund wirkt wie „getrieben“. Er kann nicht zur Ruhe kommen, springt z.B. am Halter hoch, um in den Taschen zu „checken“, ob sich dort vielleicht ein Ball befindet. Alternativ „scannt“ er vielleicht die Wiese in der Hoffnung, dass dort noch Bälle liegen, oder sucht sich alternative Objekte, die auch nur annähernd Ähnlichkeit mit dem Ball haben (Tannenzapfen, Steine). Er ist nicht mehr zur Impulskontrolle in der Lage, d.h. er kann beim Anblick eines Balls keine Ruhe mehr halten, springt den Menschen entweder an oder drückt seine Unruhe durch Winseln oder Bellen aus. Ebenso wenig kann ein süchtiger Vierbeiner liegen bleiben oder abgerufen werden, wenn ein Objekt geworfen wird. Ohne Ball ist dieser Hund ver­loren. Er wirkt unsicher, unruhig, fängt an zu „fiepsen“. Er ist nicht mehr in der Lage, sich draußen irgendwo abzu­legen und Ruhe zu halten.

Wird dem Balljunkie der Ball vorenthalten und findet er keinen Ersatz, zeigen sich neben der Unruhe auch andere Stresssymptome (z.B. ­Speicheln) und er versucht, ­alternative Abbaumöglichkeiten zu finden (z.B. Grasfressen, Trinken, stereotype Bewegungen wie Rennen).

Wege aus der Sucht
Es gibt nur einen Weg, der langfristig erfolgreich ist: Kalter Entzug. Dem Hund alternative Objekte anzubieten, die geworfen werden und gehetzt werden können, führt nur zu einer Verlagerung, nicht zu einer Gesundung. Dem Hund sollten alternative Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten werden, die vor allem eines gemeinsam haben: RUHE! Geeignet sind z.B. ruhige Spiele mit Futter. Actiongeladene Spiele, die weiter das Stresssystem des Hundes „anfeuern“, sollten fürs Erste tabu sein. Es gilt, dem Hund zu zeigen, dass es in der Umwelt noch andere Dinge außer den Ball gibt. Auslastung kann zudem in Form von einfacher Leckerchensuche auf der Wiese bis zu komplexerer Fährtensuche gehen. Nasenarbeit kann ebenfalls in Form von Futter­beutelsuche erfolgen.

Aber auch eine neue Auseinandersetzung mit dem Menschen als Sozialpartner, nicht nur als Ballwurfmaschine, sollte, sozusagen als „Beziehungsreform“, passieren. Eine Möglichkeit dazu ist, wie gesagt, das futtermotivierte Spiel nah beim Menschen, bei dem der Hund Futterstückchen in der Hand des Menschen folgt, durch dessen Beine, bei kleineren Hunden über oder unter die Beine des Menschen. Bei ruhiger Gerätearbeit können Hund und Mensch als Team neu zusammenfinden. Ergänzend sollte der Hund zu ausreichenden Ruhezeiten angehalten werden, damit das Stresssystem wieder „runterfahren“ kann. Diese liegen bei einem Hund durchschnittlich bei 18-20 (!) Stunden am Tag.

Zusammenfassung
Wie erwähnt ist nicht jeder Hund, der gern mit seinem Ball spielt, ein Balljunkie. Es gibt Hunde, die prädes­tinierter als andere dafür sind, zu einem solchen zu werden. Anhand der beschriebenen Merkmale werden Sie für sich entscheiden können, ob Ihr Hund noch gesundes Spielverhalten mit dem Ball zeigt oder nicht. Ballspiel ist auch nicht generell zu verteufeln. Es gibt sinnvolle Arten, den Ball einzusetzen. Sei es, ihn als Objekt zum Suchen zu verwenden oder zum Üben der Impulskontrolle bei jagdlich ambitionierten Hunden (Ball rollt, Hund bleibt sitzen und darf erst beim Einhalten von Ruhe den Ball holen). Auch Spiele mit dem Menschen, bei dem beide um den Ball zergeln und der Hund den Ball nah beim Körper des Menschen erhält, (also ohne, dass er ihn über eine weite Distanz hetzen kann) machen Spaß und sind sinnvoll. Gefährlich wird es, wenn mit einem generell leicht erregbaren Hund ausdauernd und regelmäßig Ball gespielt wird, mit dem weiter oben ausgeführten stereotypen Ablauf. Ist der Hund erst einmal süchtig, ist diese Sucht nur mehr schwer umkehrbar. Ähnlich wie bei einem trockenen Alkoholiker hilft nur noch absoluter „Stoff-Entzug“. Aber das sollten Sie nicht bedauerlich finden! Es gibt so viele Möglichkeiten, gemeinsam Spaß zu haben!

Spielen Sie also mit Ihrem Hund, was das Zeug hält – nur nicht unbedingt ausschließlich mit dem Ball. Wenn Sie ihn einsetzen, achten Sie bewusst darauf, wie – und wie Ihr Hund auf ihn reagiert. Haben Sie das Gefühl, der Spaziergang ist für Ihren Hund nur noch ein halber Spaß ohne den Ball, seien Sie auf der Hut. Geben Sie seinem Drängen nicht nach, weil Sie glauben, Sie täten ihm etwas Gutes. Gehen Sie stattdessen lieber auf „Nummer sicher“, entdecken Sie alternative Beschäftigungsmöglichkeiten und lassen Sie den Ball lieber für einige Zeit zu Hause. Im Zweifelsfall ist es besser, den Ball etwas ­weniger einzusetzen als sich einen Junkie ­heranzuziehen, dessen einzige Heilung kompletter Ballverzicht ist.

Aber nun sorgen Sie sich nicht, spielen Sie! Vielleicht heute mal ohne Ball.

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